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Atheismus
Der Feind fehlt

In Italien ist die katholische Kirche noch immer einflussreich, aber die Zahl der Gläubigen geht zurück. Die organisierten und politisch aktiven Atheisten werden allerdings ebenfalls weniger. Radikale Kirchenfeindlichkeit kommt nicht mehr gut an, mancher atheistische Kirchenkritiker ist zum Papstfan geworden. Es bilden sich überraschende Allianzen.

Von Thomas Migge | 21.06.2016
    Nackt sind alle Menschen gleich: Mit dieser Botschaft begrüßt der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten, kurz IBKA, seine Besucher beim Kölner Kongress
    Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten (Deutschlandradio / Michael Borgers)
    "Ich denke, dass es in diesem Land leider immer noch unerlässlich ist, über bestimmte Anomalien nachzudenken, die typisch für Italien sind und die wir bekämpfen. Das Kruzifix in den Schulklassen ist ein Unding, denn unsere Verfassung ist laizistisch. Auch die Pflichtlehrstunde Religion gehört abgeschafft, unterrichtet doch ein Lehrer, der nicht vom Staat sondern vom Bischof ernannt wird", sagt Adele Orioli. Wenn man sie auf den Einfluss der katholischen Kirche in Italien anspricht, ist die junge blonde Frau nur schwer zu stoppen. Dass sie von den Medien immer wieder gern als die "ungläubige Kreuzritterin" genannt wird, ist angesichts ihres kämpferisch-laizistischen Auftretens leicht nachzuvollziehen: "Sobald einem Bischof der jeweilige Religionslehrer nicht mehr passt, weil der zum Beispiel etwas unterrichtet, was der kirchlichen Doktrin auch nur ein bisschen widerspricht, kuschen der Staat und das Bildungsministerium. Ach, wie viele konfessionelle Anomalien gibt es da in Italien!"
    Adele Orioli ist eine der bekanntesten Mitglieder der "Unione degli Atei e degli Agnostici Razionalisti", kurz UAAR, der, zu deutsch, Union der Atheisten und rationalistischen Agnostiker. Die katholische Kirche ist in Italien in den meisten Lebensbereichen noch deutlich präsenter als in Deutschland. 1991 schlossen sich verschiedene atheistische Organisationen zum UAAR zusammen. Den 57 Niederlassungen in 19 Regionen gehören knapp 4000 Personen an. Die wenigen Mitglieder melden sich lautstark in der Öffentlichkeit zu Wort: gegen den Einfluss der katholischen Kirche. Auch mit Demos, vor allem in Rom und wenn möglich auf Plätzen vor bedeutenden Basiliken, wie etwa der Johannesbasilika. Seit einigen Jahren kommen immer weniger Interessierte zu den Demonstrationen der UAAR. Was nicht heißt, dass die Zahl jener Italiener, die sich für weniger kirchlichen Einfluss auf die Gesellschaft, für das Recht auf Selbsttötung, für künstliche Befruchtung, gegen die steuerliche Bevorteilung kirchlicher Immobilien und die Abschaffung der Kirchensteuern kämpfen, abgenommen hat.
    Abgenommen hat allerdings das Interesse der Italiener an den klassischen italienischen Vereinigungen, die sich als militante Atheisten begreifen. Kirchen- und religionskritischen Italiener finden sich heute in fast allen Parteien. Das sei einer der Hauptgründe, warum Vereinigungen wie die UAAR an Mitgliederschwund leiden, erklärt der prominente Mathematiker und überzeugte Atheist Piergiorgio Odifreddi. In seinem Bestseller, zu deutsch, "Das Evangelium wissenschaftlich betrachtet", erklärt er seine Argumente für eine wissenschaftliche Widerlegung der Idee eines Gottes. Piergiorgio Odifreddi: "Ein diffuser Laizismus ist heute in Italien weit verbreitet. Immer mehr meiner Landsleute setzen sich inzwischen für mehr Trennung zwischen Kirche einerseits und Staat und Gesellschaft andererseits ein. Dafür muss man nicht mehr Mitglied in einer militanten Laizistengruppe sein. Viele Italiener sind heute von eine eher wissenschaftlich begründeten Alphabetisierung unserer Existenz überzeugt."
    Von einem militant organisierten Atheismus kann also heute in Italien keine Rede mehr sein. Vielmehr von einem diffusen kirchenkritischen Bewusstsein, das vor allem in den Parteien der Linken, der ausländerfeindlichen Lega Nord und der politischen Bewegung 5 Sterne des Ex-Komikers Beppe Grillo anzutreffen ist. Die einzige Partei Italiens, die sich entschieden und seit ihrer Gründung 1956 für ein radikal laizistisches Italien stark macht, ist die Partei der Radikalen. Deren vor kurzem verstorbener legendärer Parteiführer Marco Pannella sah in der katholischen Kirche den, Zitat, "Feind eines modernen Italien".
    Doch seit Papst Franziskus im Vatikan den Ton angibt und sich aus inneritalienischen Diskussionen – wie etwa um Suizid und Homo-Ehe - ganz bewusst heraushält, sind viele Radikallaizisten stiller geworden. Sogar der wortgewandte Pannella, der sich ständig mit Johannes Paul II. und Benedikt XVI. anlegte und ihnen vorwarf, Italien am liebsten ins finstere Mittelalter zurückkatapultieren zu wollen, schlug plötzlich ganz andere Töne an. Gleich nach seiner Wahl zum neuen Papst schrieb der Chef der Radikalen an Franziskus – und bekam prompt eine Antwort. In diesem Antwortschreiben versicherte der Papst dem Radikalatheisten Pannella, dass er ihn in seinem Kampf für menschenwürdigere Gefängnisse und das Aufenthaltsrecht für alle Einwanderer voll unterstützen werde. Franziskus rief Pannella sogar im Krankenhaus an, als dieser dort mit einem Tumor kämpfte. 20 Minuten lang unterhielten sich der oberste Katholik und Italiens oberster Atheist. Marco Pannella bei einer Pressekonferenz kurz nach der Entlassung aus dem Krankenhaus: "Danke Papst Franziskus! Deine Unterstützung für uns, vor allem in diesem Heiligen Jahr der Barmherzigkeit, ist enorm wichtig und kommt für uns, wie du dir denken kannst, mehr als unerwartet. Wir beiden sind Brüder im Geiste, und deine Anteilnahme an den konkreten Problemen der Gesellschaft bewegt uns zutiefst".
    Konservative Katholiken irritiert es, wenn der Papst aus Argentinien keine Berührungsängste mit radikalen Atheisten wie Pannella hat. Offenere Ohren findet Franziskus bei denen, die in der Vergangenheit entschieden kirchenkritisch auftraten. Wie etwa dem prominenten Philosophen Massimo Cacciari: "Bergoglio hat sich doch aus einem präzisen Grund Franziskus genannt: Er verweist damit auf die Notwendigkeit einer tiefgehenden Reform in seiner Kirche. Was war denn der frühe Franziskanerorden anderes als eine radikale Reformbewegung innerhalb der Kirche!?"
    Cacciari zufolge sorgt Papst Franziskus für ein anregendes Durcheinander: Während Italiens organisierte Atheisten zahlenmäßig weniger werden, nimmt die Zahl jener kirchenkritischen Italiener zu, die in den Papst große Hoffnungen setzen. Hoffnungen in eine reformorientierte Kirche, die sich langsam aber sicher aus den innenpolitischen Fragen Italiens herauszieht und mit linken Kräften an einem Strang zieht: in Sachen Einwanderer, Armutsbekämpfung, Verbesserung der zum Teil menschenunwürdigen Zustände in Gefängnissen und im Kampf gegen die organisierte Kriminalität.