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Atlas der Liebe

Almudena Grandes’ "Atlas der Liebe" erzählt von einem "Alter, das uns genau in das Epizentrum der Katastrophen befördert". Ein zumindest dem Umfang nach opulentes Werk, ein literarisches Breitwandepos über die schmalen Liebespfade seiner vier weiblichen Protagonisten: Rosa, Ana, Fran und Marisa. Ende 30 sind sie, teils verheiratet, teils geschieden, teils solo, zwei von ihnen haben Kinder, und alle vier arbeiten sie an der Herausgabe einer umfangreichen illustrierten Reihe über Landschaften und Kulturen rund um den Globus. "Atlas der Humangeografie" soll das Werk heißen und so lautet auch der Titel der spanischen Originalausgabe: "Atlas de Geografia Humana". Im Epizentrum der Katastrophen stoßen wir aber nicht auf Mord und Todschlag, sondern auf Irritationen, Langeweile und Überdruß an den Männern, an der Ehe, am Leben überhaupt, an der "Verschwendung der Jahre", an der "Bedrohung der sich aushöhlenden Jahre, der Tage, die sich abwetzen und abnehmen, bis sie an Konsistenz verlieren". All dem wollen die Frauen entgehen. Und wie es zu der mißlichen Lage gekommen ist, versucht jede für sich auszukundschaften. In langen inneren Monologen voller Reminiszenzen und Reflexionen betrachten sie einzeln und reihum ihr Leben: "Ich wollte über ein bestimmtes Alter mit seinen besonderen Krisen schreiben", erläutert Almudena Grandes. "Dazu bedurfte es mehr als einer Figur, da es sonst lediglich ein Roman über diese eine Figur geworden wäre und ich hätte keine allgemeine Sicht auf mein Thema bieten können. Es waren also mehr als nur ein oder zwei Protagonisten nötig."

Christoph Schmitz |
    Marisa etwa erzählt von der kleinbürgerlich-spießigen Welt ihrer Kindheit. Jegliche Lebensfreude wurden von dem allgegenwärtigen Geiz ihrer Familie erstickt. Aus dem Mädchen wurde ein angstvolles und stotterndes Wesen, das sich vor allen und vor allem vor Männern verkroch. Almudena Grandes meint: "Wenn man die Mitte des Lebens erreicht hat, versteht man, was Erinnerung bedeutet, wie wichtig die Erinnerung ist für die Frage: Wer bin ich? Wenn man jung ist, kommt einem die Zukunft sehr lang vor, man kann mit der Zeit verschwenderisch umgehen. Wenn man die Mitte seines Lebens erreicht, entsteht das Bedürfnis, sein Leben in der Hand zu halten und zu entscheiden, wie man seine restlichen Jahre gestalten möchte. An diesem Punkt befinden sich die Frauen meines Buches."

    Almudena Grandes’ Figuren wirken so, als seien ihre Gefühls- und Gedankenwelten von den Lebenserfahrungen ihrer Autorin geradezu gesättigt, die ja Alter, Medienkarriere und Mutterschaft mit ihnen teilt: "Im Lächeln der eigenen Kinder steckt etwas Unwiderstehliches, das es einem, solange es anhält, unmöglich macht, sich auch nur vorzustellen, daß man ohne sie besser leben könnte."

    Mit den privaten Lebens-, Liebes- und Leidensgeständnissen gibt die Autorin auch Einblicke in die Entwicklungen des privaten Lebens der spanischen Gesellschaft von der Mitte des Jahrhunderts an bis in die Gegenwart. Vor allem hinsichtlich der Rolle der Frau während Francos Rechtsdiktatur und unter den neueren demokratischen Verhältnissen. Vermitteln der spanische Titel "Atlas de Geografie Humana", aber auch der etwas trivialisierte deutsche - "Atlas der Liebe" - den Eindruck enzyklopädischer Weite, so versucht Almudena Grandes auch immer, die besondere Situation ihrer spanischen Heldinnen darzustellen: "Ich glaube, es geht im Roman um eine allgemeine Krise bei Frauen und Männern. Wahrscheinlich weil ich eine Frau bin, habe ich nur die weibliche Seite betrachtet. Auch geografisch gesehen geht es hier um eine universelle Krise. Früher hatte die Frau ganz bestimmte Regeln zu befolgen - in der ganzen Welt: Sie hatten mit den Kindern zu Hause zu bleiben und dem Ehemann zu gehorchen. Und dieses Rollenverständnis ist Mitte der 60er Jahre zusammengebrochen. Dann wurde ein anderes Frauenbild etabliert, das der emanzipierten Frau einschließlich der damit verbundenen Utopien. Aber auch dieses Bild ist zerbrochen. Ich glaube, jede Frau muß ihren eigenen Weg, ihre ganz eigenenen Lebensregeln finden, was natürlich schwierig ist. Die Krise, in die Frauen Ende 30 gelangen, fällt nun mit dieser historischen Situation zusammen. Für die Frauen in Spanien ist das um so problematischer, als sie in einer einzigen Generation erleben, was in anderen Teilen Europas über zwei Generationen verteilt wurde. Für uns sind diese Veränderungen also viel stärker."

    Man hat den Eindruck, als habe Grandes in die Berichte ihrer Heldinnen gar nicht eingreifen wollen, so weitschweifig und assoziativ läßt sie sie reden und nachdenken. Höchst akribisch versuchen sie ihre Vergangenheit zu rekonstruieren "wie ein obsessiver, pedantischer Uhrmacher, der von seiner eigenen Verrücktheit dazu verdammt ist, jeden Morgen einen komplizierten Uhrmechanismus auseinanderzunehmen...", wie Rosa ihre Anstrengungen des Erinnerns formuliert. Wie Uhrmacher das Räderwerk unter der Lupe vergrößern, so scheinen auch die Erzählerinnen die Momente ihres Lebens in großen Nahaufnahmen zu betrachten, was manchmal etwas Narzistisches an sich hat: "Eine vereinzelte, hartnäckige Träne löste sich aus meinem rechten Auge und kullerte schwerfällig über mein Gesicht."

    "Mir gefällt die Sprache meines Landes sehr gut", so Grandes. "Ich will nicht wie ein amerikanischer Autor schreiben, wie es heute viele in Europa tun. Meine Sprache reflektiert unsere spanische Literaturtradition. Und die ist barock. Im 19. Jahrhundert hat es einen sehr wichtigen Romancier gegeben, der zwar nicht in Vergessenheit geraten ist, der aber auch nicht angemessen gewürdigt wird: Benito Pèrez Galdós. Er ist mein absoluter Favorit, ich bin seiner Literatur verpflichtet. Wenn Cervantes unser aller Großvater ist, dann ist Galdós mein Vater." Nicht mit sprech- und umgangssprachlicher Lässigkeit formulieren die vier Frauen ihre Geschichten, sondern in der gehobenen, wohlartikulierten Diktion auktorialer Erzähltradition. Immer wieder bauen sie voluminöse Satzgebilde auf und ergehen sich in einer üppigen Bildsprache, die aber mitunter etwas maniriert wirkt: "Ihre behelfsmäßige Euphorie erinnerte mich an das Aroma von eher feuchtem denn verbranntem Holz, wie es die Reste einer alten Kriegsgaleone verströmen, die plötzlich nahe der Küste Schiffbruch erleidet, noch bevor sie die Schlacht auf offenem Meer erreicht hat."

    Begeben sich die Erzählerinnen auch mutig ins Epizentrum ihrer Katastrophen, so kehren sie am Schluß genesen aus ihm zurück. Die genaue Kartografie ihres vergangenen Lebens hat ihnen einen Blick für mögliche Wege in der Zukunft eröffnet. Warum hat die Autorin ihre Heldinnen gerettet? "Weil ich sie geliebt habe. Ich habe mich für clevere, starke Frauen entschieden, Frauen wie ich sie mag."