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Atlas der Sternbilder

Weltraumliteratur gehört heute zu den weniger geläufigen, aber spannenden Seiten des Buchmarktes. Nein, nicht Science-fiction ist damit gemeint, sondern das Sachbuch neuer Art, das uns die Forschungsergebnisse der Astronomie oder auch die Entwicklung der Weltraumfahrt auf faszinierende Weise nahebringt. Dem Flug der Phantasie tut dies keinen Abbruch, vielmehr bietet sich ihm eine nüchterne Basis, von der aus eine neue kosmologische Bewußtseinserweiterung ihren Weg antreten kann.

Wilhelm Schmid |
    Was die Kosmologie angeht, so sind wir von ihr heute verwöhnt, sofern man sich an der Vielzahl neuer Erkenntnisse und Theorien zu delektieren vermag, die nahezu täglich wie Sternschnuppen auf uns herabregnen. Kaum haben wir uns daran gewöhnt, daß unser Universum aus einem Urknall hervorging, der seinerseits aus dem Nichts kam, schon ist diese These widerrufen. Ähnlich verhält es sich mit dem Ende: Gerade eben haben wir uns damit abgefunden, in Milliarden von Jahren den kosmischen Wärmetod zu sterben, da hält Stephen Hawking schon die These von der endlosen Ausdehnung ("open inflation") des Kosmos bereit. Nicht zu vergessen die Frage nach dem Alter des Universums: Aus einstmals 8 wurden 12 Milliarden Jahre, es könnten aber auch 18 oder 20 sein; manche halten das Universum sogar für jünger als die ältesten Kugelsternhaufen, woraus sich die delikate Frage ergibt, woher denn diese Galaxien kommen.

    Aber für uns als Normalsterbliche ist nicht so sehr der Tanz der Theorien von Interesse, sondern die Schönheit der Anschauung, der Blick auf all die Sterne, Galaxien und Gaswolken in ihrer nächtlichen Pracht. Dieses Bedürfnis bedient der opulente Bildband zweier Amateur-Astronomen, der so aufgebaut ist wie wir - wenn überhaupt - den Sternenhimmel kennen, nämlich anhand der Sternbilder, die von Januar bis Dezember über uns hinwegziehen, nach heutiger internationaler Übereinkunft 88 an der Zahl. Da ist etwa die Sternkonstellation, die den "Großen Wagen" bildet, der offiziell "Großer Bär" (Ursa Major) heißt, oder da sind die zierlich erscheinenden Plejaden, das "Siebengestirn", das "nur" 410 Lichtjahre von uns entfernt ist. Neue astronomische Erkenntnisse zur jeweiligen Region des Kosmos werden ebenso präsentiert wie die alten Mythologien, die mit den Sternbildern verbunden sind. Mit diesem Buch kann man sich nachts vom Balkon aus perfekt orientieren.

    Das Aufregendste aber ist der in diesem Band wiedergegebene Blick durch das Hubble-Teleskop, das seit einigen Jahren die Erde umkreist und im Dezember 1995 zehn Tage lang auf einen winzigen Ausschnitt des Sternenhimmels, das so genannte "Hubble Deep Field" gerichtet wurde, um - vereinfacht gesagt - mit verschärften Mitteln eine Stelle zu fixieren, an der noch nie irgend etwas zu sehen war. Und siehe da: Wieder fiel der Blick, der weiter reichte als jemals zuvor, auf 2000 Galaxien, die scheinbar nur so durcheinander purzelten und von deren Existenz keiner etwas geahnt hatte. Münchner Astrophysiker glauben mittlerweile sogar im sichtbaren Weltall Milliarden von Sternen aufzuspüren, die bisher übersehen wurden, da sie extrem lichtschwach sind, gasförmige Reste ausgebrannter Sonnen.

    Milliarden von Galaxien, jede einzelne gebildet aus Milliarden von Sonnen: Es müßte schon als extrem unwahrscheinlicher Zufall gelten, wenn der Planet Erde der einzige Träger von Leben in diesem maßlosen Universum sein sollte. Was in diesem Band zu sehen ist, ist nur dem Blick auf ein Meer vergleichbar, an dessen Gestaden wir auf- und abgehen. Das Ufer, in diesem Fall die Erde selbst, dünkt uns festes Land zu sein, eine Bastion, eine Klippe, von der aus wir unseren Blick in die unendliche Weite schweifen lassen. Nur kräuseln hier nicht Wasserwellen die endlos blaue Oberfläche bis hin zum Horizont, sondern Galaxien drehen sich spiralförmig in der undurchdringlichen Schwärze des Alls, Kugelhaufen ballen sich, Nebel wabern, Myriaden von Lichtpunkten blitzen auf. Und dieses Meer erstreckt sich nicht nur durch den unabsehbar weiten Raum, sondern ebenso durch die Zeit, denn aus maßloser zeitlicher Ferne von Millionen und Milliarden von Lichtjahren dringt dieses Licht zu uns. Darüber wie es dort jetzt in diesem Moment aussieht, wissen wir schlicht nichts und, anders als beim irdischen Meer, erst recht nichts darüber, was am anderen Ufer jenseits des Horizonts ist, nicht einmal, ob es ein anderes Ufer, das heißt eine Begrenzung des Meeres überhaupt gibt.

    Leider läßt der diesem Band über die Sternbilder beigefügte Text eine Relativierung des Wissens vermissen, während es doch nach der wissenschaftlichen Erfahrung von Jahrhunderten angebracht erscheint, beinahe jeden Satz mit dem vorsichtigen Hinweis auszustatten: "nach heutigem Wissensstand". Wissen, und sei es noch so überwältigend, ist zeitgebunden und immer perspektivisch, das lehrt uns die Geschichte des Wissens. Wir sollten nicht auch noch glauben, was wir doch nur wissen können und was morgen schon durch neues Wissen überholt sein kann. Um uns ein Weltbild zurechtzuzimmern, mit dem es sich leben läßt, bedürfen wir nicht absoluter Gewissheit, es genügt auch ein relatives Wissen. Der "Atlas der Sternbilder" bietet das Material, das man für die kosmologische Überwölbung dieses Weltbildes braucht – um uns weiterhin an den Gestaden unserer eigenen kleinen Welt zu lieben und zu streiten, zu vereinen und zu trennen, der kosmischen Bedeutungslosigkeit solcher Aktionen wenigstens bewußt.