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Atomstrom für den Präsidenten

Der mit diktatorischen Vollmachten regierende Präsident Weißrusslands, Alexander Lukaschenko, hat die Energiepolitik zur Chefsache erklärt. Um das rohstoffarme Land unabhängig von Russland zu machen, hat Lukaschenko den Bau eines Atomkraftwerkes angeordnet. Doch in der Bevölkerung regt sich Widerstand. Zum Beispiel in Witebsk, im Nordosten des Landes.

Von Anja Schrum und Ernst-Ludwig v. Aster | 12.12.2008
    "Gut, gut", sagt Olga Karatsch: "Ich rufe später zurück". Dann legt die junge Frau ihr Mobiltelefon wieder vor sich auf den Bistrotisch in dem kleinen Café in der Witebsker Innenstadt. Karatsch entschuldigt sich für die Störung. Es ging mal wieder um "das Atomkraftwerk". Vor gut einem Jahr hat Präsident Alexander Lukaschenko per Dekret verfügt, das in Weißrussland der erste Atommeiler gebaut werden soll, um unabhängig von Energielieferungen aus Russland zu werden .

    "Vor kurzem hat Lukaschenko im Fernsehen gesagt: Jeder, der sich gegen die Atomkraft ausspricht, ist ein Staatsfeind. Und deswegen ist es uns auch wichtig, diese Kampagne durchzuführen: Was uns Angst macht, ist diese Rückkehr zur sowjetischen Terminologie, zur Terminologie der sowjetischen Repression."

    So gesehen ist Olga Karatsch ein "Staatsfeindin". Die schmale 29-Jährige mit den schlanken Fingern und den dunklen Augenringen ist eine der Mitbegründer von "Nasz Dom", zu Deutsch: "Unser Haus". Das ist eine der wenigen Nichtregierungsorganisationen in Weißrussland. Nasz Dom versucht, die Bevölkerung in dem autokratisch geführten Staat zu ermuntern, ihre Rechte einzufordern. Sei es bei der Betriebskostenabrechnung für die Wohnung, sei es nach gewalttätigen Übergriffen durch die Miliz. Nasz Dom verteilt Flugblätter, Protestbrief-Vordrucke, klagt vor Gericht. Und hat schon öfter Recht bekommen.

    "Bei der Betriebskostenkampagne ist es das Wichtigste, ein klares Verhältnis zwischen Bürger und Staat zu schaffen. Klar zu machen, welche Rechte und Pflichten der Bürger hat und welche Rechte und Pflichten der Staat hat. Die zweite Kampagne gegen Polizeigewalt ergänzt die erste: Es geht um Rechte und Pflichten der Bürger, und um Rechte und Pflichten der Miliz."

    Persönliche Betroffenheit, persönlicher Protest. Konkrete Themen, konkrete Kampagnen. In kleinen Schritten die Zivilgesellschaft stärken, den Bürgern das Gefühl der Machtlosigkeit nehmen, das ist die Idee. Jetzt aber plant Nasz Dom eine neue Kampagne. Die ungleich abstrakter ist: Karatsch und ihre Mitstreiter feilen an einer Anti-Atom-Strategie.

    "Lukaschenko hat schon bewiesen, dass er ein sehr schlechter Bauherr ist. Es wurden zig Wohngebiete in Weißrussland gebaut, wo heute - aufgrund der Baumängel - das Leben praktisch unmöglich ist."

    "Wenn die Leute nicht vorschriftsmäßig bauen können, birgt das die Gefahr, dass es ein zweites Tschernobyl geben könnte, fürchtet Olga Karatsch. Bislang gibt es auf dem Territorium Weißrusslands kein AKW. Das bedeutet auch: Es gibt keine Techniker, keine Erfahrung. Die soll, so will es die Regierung, aus dem Ausland kommen. Bewerber gibt es genug: Schließlich geht es um mindestens vier bis fünf Milliarden Euro. Und um einen prestigeträchtigen Reaktorneubau mitten in Europa. Auch wenn die weißrussische Regierung derzeit noch pokert, Karatsch ist sich sicher, dass der russische Konzern "Rosatom" das Rennen machen wird.

    "Wir glauben, dass wir dann noch abhängiger von Russland werden. Der AKW-Bau wird zu einer wirtschaftlichen Schlinge, die sich um den Hals Weißrusslands legt."

    Denn wer das Kraftwerk baut, wird auch den Kredit bereitstellen müssen, meint Olga Karatsch. "Atomkraftwerk = Finanzielle Abhängigkeit plus atomares Risiko", das ist die Botschaft mit der Nasz Dom die Bevölkerung erreichen will. Mit Flugblättern und Briefkasteneinwürfen, vorbei an den staatlich gelenkten Medien. Die versuchen schon seit geraumer Zeit, das Volk auf Atomkurs zu bringen. Doch die Angst sitzt tief.

    "Ich glaube, es war 2005, als in Weißrussland das Gerücht kursierte, dass eine Havarie passiert war, entweder im litauischen AKW Ignalina oder im russischen Smolensk. Diese Gerüchte waren so massiv, dass die Leute sich weigerten, die Kinder in die Kindertagesstätten zu bringen, sie in die Schule gehen zu lassen. Es herrschte Panik unter der Bevölkerung."

    Die Atomfrage spaltet die weißrussische Gesellschaft. Denn immer noch gilt ein Viertel der Fläche Weißrusslands als verstrahlt, müssen Milch und Getreide teilweise vernichtet werden. Die Katastrophe von Tschernobyl ist auch 22 Jahre nach dem Unfall immer noch gegenwärtig.

    Programmtipp:

    Gesichter Europas, 13.12.2008, 11:05 Uhr: AKW per Dekret - In Weißrussland wächst der Widerstand gegen Atomkraft (DLF)