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Atonale Höllenprosa

Ein gefälliger Erzähler war er noch nie. Und auch in seinem neuen Buch verzichtet Jürg Laederach auf Geschehen und Geschichten im üblichen Sinn. Herausgekommen ist sperrige Prosa, wie sie selten geworden ist.

Von Claus Lüpkes |
    "Zögern, Zeit, Dehnen": ein Text, in dem es vordergründig um Harmful und seine Frau Mirjam Harder geht, die – soviel wird klar – in Aachen leben. Und auch so viel ist klar: Harmful wird inhaftiert, weil er aus Versehen seine kranke Frau erschossen hat, mit einer selbst gebastelten Schrotflinte. Oder die Episode "Begegnung eines Tages": während Harmful sich morgens in seinem Bad die Zähne putzt, bekommt er Besuch von einem Passanten, der durch die Wand schreitet und damit das Drinnen und Draußen aufhebt. Immer wieder taucht Laederach auf diesen 180 Seiten tief ein in Harmfuls surreale Welten, in seine Albträume und in düsteren Halluzinationen, die um Krankheit und Tod kreisen. "Harmful" ist eben alles andere als "harmlos": er ist wild und wüst, schädlich und gefährlich, böse und boshaft:

    "Ich denke, es ist eine Art böser Blick auf die Welt: Harmfuls Hölle. Aber da diese Bosheit wiederum nicht informationell völlig wahrheitsgetreu begründet ist, bleibt ja noch eine Chance, dass es sich auch ganz anders verhalten könnte."

    Dabei verzichtet Laederach in seinen Texten konsequent auf eine herkömmliche Erzählweise, so, wie sich seine Literatur einer realistischen Abbildung von Wirklichkeit verweigert. Weshalb er auch als "Meister des Nicht-Realismus" und seine Texte als "a-tonale" Literatur bezeichnet wurden. Seine Prosa ist stattdessen ein Plädoyer für die Imagination, die Fantasie, die Fiktion:

    "Ich gestalte es um, aber es bleibt in einem gewissen Rahmen drin, ich kann auch eine ganz normale Geschichte über ein Mittagessen so erzählen, dass die dann sehr fiktional wird. Also sozusagen dieser Suchscheinwerfer zwischen Realismus und Fiktion ist bei mir sagen wir jetzt auch in diesem Buch sehr stark auf die Fiktion gerichtet."

    Bei allem Verzicht auf literarischen Realismus: Jürg Laederach sucht er in seinen Texten die Auseinandersetzung mit seiner Zeit und der Welt, in der er lebt. So gerät ihm ein Diskurs über die Schweiz zu einer Abrechnung mit seiner Heimat, wenn er sie als "das bei weitem perverseste Land Westeuropas" bezeichnet und beispielsweise dem "Schweizer Denken" Beliebigkeit und Opportunismus unterstellt.

    Natürlich bleibt auch der sogenannte "Kulturbetrieb" nicht von ihm verschont.
    Und Laederachs Absage an das herkömmliche Erzählen mündet fast zwangsläufig in einen Kritiker-Schelte:

    "Die Kritiker sind heute verkommen auf irgendwelche Storywiedergaben und leiten damit die Autoren auch in die falsche Richtung, die dann einfach irgendwelche Stories erzählen, das interessiert mich überhaupt nicht, oder nur in ganz seltenen Fällen. Ich glaube, dass die Story per se in klassischer Weise einfach ausgedient hat. Daran sind ja wiederum nicht unbedingt die Konservativen oder die Autoren schuld, sondern es ist einfach in der Gegend zu viel gelaufen."

    Jürg Laederach, auch geprägt von der Wiener Gruppe um H.C. Artmann, sieht sich als ein literarischer Avantgardist und fortschrittlicher Autor und glaubt an so etwas wie eine fortlaufende Entwicklung in der Literatur:

    "Mich interessiert so ein polyperspektivischer Scheinwerfer auf Gebiete dieser Welt und mich interessiert natürlich auch die Inspiration selber: fällt mir dazu etwas ein oder nicht. Und da ich natürlich auch Einzelteile und Details der "richtigen" Welt, wenn wir mal so sagen wollen, nehme, kann ich auch von dieser Welt nicht allzu weit weg. Also ich kann sagen von mir selbst: ich bin absolut fiktional, aber meine Grenzen sind in meiner Absichtserklärung so eng gesteckt, dass ich dann trotzdem nicht einfach in den Weltraum abdüse."

    Trotz aller Ausflüge in kreative Sphären: Laederach möchte mit seiner Prosa am Boden bleiben:
    "Ich bin dann trotzalledem nie soweit von einer – wie soll ich sagen – "konventionellen" Form weg. Ich bin also nicht im Weltraum draußen ganz woanders und muss mir dann überlegen: wo lande ich mit meinem Raumschiff, ich such mal den Landeplatz, sondern ich bin eigentlich ziemlich in der Nähe und komm dann auch richtig runter. Ich würde ja nicht für eine Zeitung oder für irgendeinen Beitrag oder für einen Essay würde ich ja nicht jetzt eine ganz hochbearbeitete Sprache wählen."

    Jürg Laederach ist ein Grenzgänger: so hat er in den 60er-Jahren an der ETH Zürich Mathematik und Physik studiert, und anschließend in Basel Romanistik und Anglistik – und Musikwissenschaft. Dabei galt und gilt sein besonderes Interesse dem zeitgenössischen Jazz. Stellt sich die Frage, ob er auch beim Schreiben an das Freie Improvisieren glaubt, wie z.B. die Beatniks in den 50er-Jahren um Jack Kerouac und Alain Ginsberg:

    "Ich denke, was man beim automatischen Schreiben nicht zugestehen kann, kann man beim Improvisieren zugestehen. Natürlich ist auch der Jazz nicht improvisiert, das ist das Problem: sie brauchen auch Grundlagen, sie brauchen Einzelteile, sie brauchen Montagetechniken usw., es ist im Grunde eine schnelle, aber riesige Baustelle: bei den einen wird die Unordnung einfach von Baustellenaufräumern weggeräumt, und die anderen konstruieren blitzschnell etwas daraus. Und mir hat das wild rumliegende Material immer Leid getan, ich fand, daraus müsste man doch etwas machen können."

    So wie sein Landsmann Jean Tinguely, der den Schrottplatz zu seiner Fundgrube machte und zu seinem Atelier und aus Abfallteilen riesige verspielte Plastiken (zusammen)schweißte.
    Ein weiteres Interesse von Jürg Laederach gilt dem Theater. So zählt er zu seinen Vorbildern Anton Tschechow ebenso wie Samuel Beckett. 2006 brachte Anna Viebrock in Basel Laederachs "69 Arten, den Blues zu spielen" auf die Bühne, und auch in "Harmfuls Hölle" erinnern vor allem die ausgiebigen kargen Dialoge an Bühnenprosa:

    "Also "Harmful" ist nach sehr vielen szenischen Kenntnissen geschrieben, die ich mir in den vergangenen Jahren angeeignet habe. Und ich denke bis zu einem gewissen Grade: es inspiriert mich einfach, wenn ich mir vorstelle, dass da einfach jemand ganz dasteht und so real vor mir, dann ist das natürlich faszinierend, und ich würde auch, wenn Sie so wollen, Stücke inszenieren wollen – also ich hab das gelernt auch: einfach Stücke im Kopf inszenieren, man kann ja nicht für jede literarische Szene, die man schreiben will, oder für jede Figur, die etwas Außerordentliches tun soll, kann man sich nicht eine Bühne mieten und das dann mit echten Schauspielern nachstellen."

    Als "Erzählungen" hat der Suhrkamp-Verlag "Harmfuls Hölle" bezeichnet.
    Zumindest auf dem Buchumschlag:

    "Im Buch drin steht: In dreizehn Episoden. Das ist schon nicht mehr dasselbe, wir haben die eher seltene Möglichkeit gewählt, dass außen ein etwas Gattungsbegriff steht als innen. Es sind ja verzahnte Erzählungen, man könnte auch sagen: da ist ihm ein Roman missglückt. Aber es ist ganz klar: in einem Roman kann man diese Wildheiten nicht unterbringen. Man muss da schon klare Kapitelschlüsse machen und deswegen habe ich es "Erzählungen" genannt."

    "Harmfuls Hölle" ist ein Band rabenschwarzer Prosa, mit der Jürg Laederach die Wirklichkeit hinterfragt, genauer: unsere Vorstellung von Wirklichkeit, von Wahrheit. Eine eigenwillige, sperrige Prosa, wie sie selten geworden ist im breiten Strom der zeitgenössischen Literatur.


    Jürg Laederach "Harmfuls Hölle"
    Suhrkamp-Verlag Berlin, gebunden, 188 Seiten: 19,90 Euro