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Auch Gesunde hören gelegentlich Stimmen

Wie viel Stimmen hören ist noch normal? Das ist eine der Fragen, die sich vergangene Woche die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde gestellt hat. "Psychiatrie als diagnostische Disziplin", das war das Leitthema des Kongresses.

Von Volkart Wildermuth | 27.11.2007
    ICD 10, Internationale Klassifikation der Krankheiten, Ausgabe 10, Abschnitt F00 bis F99, geistige und Verhaltensstörungen, so heißt das dicke Handbuch, nach dem die Psychiater ihre Diagnosen treffen. Unter der Nummer F20.0 geht es zum Beispiel um die paranoide Schizophrenie, die gekennzeichnet ist durch "relative stabile, oft paranoid Wahnvorstellungen die gewöhnlich von Halluzinationen insbesondre akustischen Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen begleitet sind. Akustische Halluzinationen, Stimmenhören, das ist ein wichtiges Symptom für die Diagnose. Für sich genommen ist das aber gar nicht so selten. Per Fragebogen haben Forscher festgestellt, dass auch viele Gesunde gelegentlich Stimmen hören berichtete Kongresspräsident Wolfgang Gaebel, Professor an der Universität Düsseldorf.

    "Da sind Zahlen von etwa 17 Prozent genannt worden. Diese Menschen sind nicht krank, im landläufigen Sinne. Das heißt, es gibt keinen klaren Bruch zwischen gesund und krank, sondern es gibt Übergangsformen, die besonders interessant sind auf die Frage, warum bricht die Krankheit nicht aus ist das genetische make up anders als bei einem manifest erkrankten gibt es besonderer Bewältigungs- oder kompensatorische Mechanismen, also eins sehr interessantes Feld was die Debatte um die Krankheitseinheiten und überhaupt die Krankheitskonzepte im Fach im Moment sehr beflügelt."

    Dabei gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. Einige Forscher versuchen die biologischen Hintergründe der psychiatrischen Störungen zu erhellen und so die Schizophrenie zum Beispiel aufzuspalten in Mehrere Unterformen, die sich darin unterscheiden, ob diese oder jenes Neurotransmittersystem gestört ist. Ein anderer Ansatz ist die funktionelle Diagnostik. Sie fragt weniger nach dem Symptom, also den Stimmen im Kopf, als nach den Auswirkungen, die dieses Symptom für den Betreffenden hat. Halluzinationen stören zum Beispiel die Gespräche in der realen Welt, erläutert Prof. Wulf Rössler, von der Universität Zürich.

    "Auf dieser Basis können sie mit Betroffenen ganz anders ein therapeutischen Plan ausbauen, wenn sie versuchen an der Funktionalität anzugreifen, nämlich diese betroffenen Person klar zu machen, dass Stimmenhören eine Beeinträchtigung ist, das die Person in ihrer täglichen Kommunikation sehr behindert. Umgekehrt wenn ich einfach sagen, "Du hast eine Psychose, Du hast eine Schizophrenie, Stimmen hören ist nicht gut, die müssen weg", da haben viele der Betroffenen werden sagen, das ist eine persönliche Erfahrung die ich unter Umständen gar nicht mal minder schätze."

    Wenn die Stimmen kein Problem darstellen, dann sind sie für Wulf Rössler auch kein Symptom einer psychischen Störung. Diese andere Form der Diagnose führt auch zu einer anderen Form der Therapie, die dann eben auch an den praktischen Schwierigkeiten im Leben der Betroffenen ansetzt. Denn Menschen mit einer Schizophrenie verlieren häufig ihren Arbeitsplatz.

    "Bisher sind wir davon ausgegangen, wir trainieren die Leute in ihren Fähigkeiten zum Beispiel dass sie im Denken eingeschränkt sind oder verlangsamt sind, und dann versuchen wir sie auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. Supported Employment dreht dieses Prinzip um. Wir versuchen die Menschen auf dem Arbeitsmarkt sofort wieder zu palzieren und integrieren und sie dann am Arbeitsplatz zu betreuen und das ist ein unglaublich erfolgreicher Betreuungsansatz. "

    In einer europaweiten Studie konnte mit dem Konzept des supportet employment, der unterstützen Beschäftigung, doppelt so viele Patienten mit einer schizophrenen Störung auf dem ersten Arbeitsmarkt integriert werden, als mit den konventionellen Ansätzen. Derzeit beginnt die Diskussion um eine Neufassung der Diagnoserichtlinien in der Psychiatrie. Beim Thema Schizophrenie reichen die Vorschläge von einer kompletten Abschaffung des Begriffs bis zu einer rein körperlichen Definition als Störung des Neurotransmitters Dopamin. Doch das greift nach Meinung vieler, der in Berlin versammelten Psychiater, zu kurz. Sie wollen, dass die Diagnose einer psychischen Störung sich weniger an Blutwerten oder Symptomfragebögen, sondern vor allem an den Einschränkungen orientiert, die sie im Leben der Betroffenen verursacht.