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Auch leichte Schmerzen können chronisch werden

Schmerzen sind normalerweise ein wichtiges Warnsignal. Aber Schmerzen können sich auch verselbstständigen und ein dauerhaftes Problem werden. Bei diesem Prozess spielt das Gehirn eine Schlüsselrolle: Das Gehirn lernt schnell, wenn starke Schmerzen nicht frühzeitig bekämpft werden. Es bildet ein so genanntes Schmerzgedächtnis. Das gilt auch für leichtere Schmerzen.

Von Kristin Raabe | 11.07.2006
    Bewegungsunfähig und bewusstlos liegt der Patient auf dem OP-Tisch. Seine Schmerzen betäubt die normale Narkose jedoch nicht und das kann Folgen haben: Der starke Schmerzreiz während der Operation aktiviert schmerzverarbeitende Nervenzellen im Rückmark. Sie sind regelrechte Schmerzverstärker und lösen eine Kettenreaktion aus, an deren Ende sich im Gehirn ein Schmerzgedächtnis bildet. Der einmalige starke Operationsschmerz wird schließlich chronisch. Damit dies nicht geschieht geben Ärzte heutzutage bei allen Operationen auch starke Schmerzmittel. Dass auch leichte Schmerzen chronisch werden können ist eine relativ neue Erkenntnis. Wie es dazu kommen kann, hat Jürgen Sandkühler von der Universität Wien herausgefunden.

    "Wir können jetzt zumindest die Hypothese aufstellen, das relativ geringe Veränderungen zum Beispiel an der Bandscheibe, am Halteapparat, an den Sehnen, an den Gelenken, an den Muskeln, dass die zum Schmerzen führen, die relativ milde sind. Die führen zu relativ geringfügigen Erregungen in dem schmerzverarbeitenden System und das diese Schmerzen bei einem Teil der Patienten zu Veränderungen der Schmerzverarbeitung im Nervensystem führen, dann kommt es zu einer Schmerzverstärkung, weil der Schmerzverstärker immer weiter aufgedreht wird, die Ursache im Rücken bleibt ja erhalten, sie wird nicht erkannt, sie wird nicht therapiert, sie verschwindet nicht und jetzt wird der Schmerzverstärker jede Woche, jeden Monat immer weiter aufgedreht. So dass bei gleichbleibend geringradigen Schmerzursachen, die Beschwerden des Patienten eigentlich zunehmen. Dafür haben wir eine mögliche Erklärung gefunden, nämlich diesen schon durch milde Reize aktivierbaren Schmerzverstärker im Rückenmark. "

    Im Rückenmark gibt es also zwei Schmerzverstärker: Einen für starke und einen für schwache Schmerzen. Jürgen Sandkühler hat auch einen Weg gefunden, wie sich diese unangenehmen Schmerzverstärker abstellen lassen:

    "Das sind zum Beispiel physikalische Formen der Behandlung, wie Wärme-Kälte-Anwendungen, das sind elektrische Reizmuster, die man appliziert, oder das sind auch bestimmte Formen der Elektro- oder Nadelakupunkuntur, wenn sie in der Nähe des schmerzenden Areals appliziert werden. Alle diese Verfahren haben gemeinsam, dass sie Nervenzellen in der Haut, in der Muskulatur erregen, die ähnlich wie die Schmerzfasern zum Rückenmark ziehen und dort die Schmerzverarbeitung verändern. Diese therapeutische Stimulation macht genau das Gegenteil von den Schmerzverstärkern, sie dreht den Schmerzverstärker wieder zurück und zwar indem sie Zellveränderungen auslöst, die denen beim Schmerzverstärker entgegengerichtet sind. "

    Das klingt erst mal paradox: Durch einen schmerzenden Stich mit einer Akupunkturnadel, den chronischen Schmerz auslöschen. Aber in diesem Fall sticht die Akupunkturnadel nicht in irgendeinen der aus der chinesischen Medizin bekannten Akupunkturpunkte, sondern in genau jene Nervenbahnen, von denen der Schmerz kommt. Der eher unangenehme als schmerzende Reiz der winzigen Nadel löst dabei aber ganz andere Prozesse aus, als ein richtiger Schmerz:

    "Die Schmerzfasern, die zu einer Verstärkung der Schmerzinformation führen, die den Schmerzverstärker einschalten, das sind die ganz ganz dünnen Fasern, die ganz langsam leiten und die nennen wir C-Fasern und die Fasern, die das Gegenteil machen, das sind die etwas dickeren, die schneller leiten, das sind die A-Delta-Fasern. Das heißt wir haben unterschiedliche Fasertypen, die unterschiedliche Wirkungen haben auf das schmerzverarbeitende System im Rückenmark."

    Jürgen Sandkühlers Labor in Wien ist mit vielen modernen Geräten ausgerüstet, die es ihm erlauben, die schmerzverarbeitenden Nervenfasern bei der Arbeit zu beobachten. Letztendlich war soviel High-Tech notwendig, um zu beweisen, das althergebrachte Methoden chronischen Schmerz lindern können.