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Auch nach fünf Monaten keine Entwarnung in Fukushima

Vor fünf Monaten bebte in Japan die Erde. Infolge des dadurch entstandenen Tsunamis wurde die größte Atomkatastrophe ausgelöst, die die Menschheit seit Tschernobyl bisher erlebt hat. Wissenschaftsredakteurin Dagmar Röhrlich ist gerade aus Japan zurückgekommen und berichtet von den Aufräumarbeiten in Fukushima.

Dagmar Röhrlich im Gespräch mit Theo Geers | 11.08.2011
    Theo Geers: Heute ist es auf den Tag fünf Monate her, dass vor Japan die Erde bebte, dass hierdurch ein gigantischer Tsunami mit teilweise 20 Meter hohen Wellen ausgelöst wurde – und dass dieser Tsunami dann die neben oder nach Tschernobyl größte Atomkatastrophe ausgelöst hat, die die Menschheit bisher erlebt hat – die Katastrophe hat einen Namen: Fukushima. Doch es ist still geworden um den Katastrophenreaktor – Grund genug, an einem Tag wie heute mal wieder hinzuschauen. Es gibt noch einen weiteren Grund: Im Studio ist Dagmar Röhrlich und sie ist gerade aus Fukushima zurückgekommen ... . Lange nichts gehört von den vier Reaktoren – wie sieht da heute aus?

    Dagmar Röhrlich: Die Arbeiten in Fukushima laufen weiter. Unter anderem sollen die Millionen Liter Wasser dekontaminiert werden, die die Arbeiter seit fünf Monaten für die Kühlung der Reaktoren einsetzen. Bis März 2012 sollen täglich 1.200 Tonnen Wasser behandelt und zur Kühlung der Reaktoren eingesetzt werden, damit die Mengen an hochkontaminierten Wässern nicht weiter wachsen. Allerdings gibt es bei diesem Kreislauf immer noch Probleme: Die Anlage zur Dekontamination des Kühlwassers steht immer wieder für etliche Stunden still, weil Teile ausfallen. Ein Beispiel: Um die Radionuklide auszufällen, wird ein Fällungsmittel eingepumpt. Dieses Mittel ist zähflüssig und setzt die Pumpen immer wieder zu. Deshalb testet Tepco derzeit ein neues System, aber so richtig vorwärtskommt die Firma dabei nicht.

    Tepco hat inzwischen verkündet, dass die Reaktoren sich im sogenannten "Cold Shutdown" befinden. Eigentlich sollte die Temperatur in den Reaktordruckbehältern dann bei 93 Grad Celsius liegen, das heißt: Der Kern kann das Kühlwasser nicht mehr verdampfen. Allerdings hat Tepco diesen Begriff anders definiert: Man hat nur am Boden des RDB, wo sich ein großer Teil des geschmolzenen Kerns befinden soll, Temperaturen von unter 100 Grad Celsius gemessen. Allerdings lag sie an anderen Stellen anscheinend doch bei mehr 100 Grad Celsius. Aber das wird nun als "Kalte Abschaltung" genommen.

    Geers: Sie sprechen von nachträglich geänderten Standards, mit denen die Lage dann beschönigt werden kann, -aber gesehen davon, dass dies ja jedes Vorurteil bestätigt, dass man gegen Teile der Atomindustrie schon immer haben konnte: In der letzten Woche wurden extrem hohe Strahlungswerte aus Fukushima gemeldet – 10 Sievert pro Stunde – und dann hieß es auch noch, Strahlung könne noch höher sein, denn das Messgerät sei am Anschlag gewesen– können Sie Wert einordnen?"

    Röhrlich: An dem Kamin, der Block 1 und 2 entlüftet, sind in der vergangenen Woche an einem Rohr mindestens 10 Sievert pro Stunde gemessen worden. Mindestens deshalb, weil das Messgerät nicht mehr anzeigen konnte. Inzwischen gibt es an einem anderen Rohr einen Messwert von 5 Sievert pro Stunde. Das sind lokale Belastungen, keine, die sich in der Umwelt verteilt. Sie entstand wahrscheinlich beim sogenannten Venting, bei dem in den ersten Tagen immer wieder Druck aus den Reaktoren abgelassen werden musste. Anscheinend haben sich dabei Ablagerungen gebildet, die nun, wo die Anlage erkundet wird, entdeckt werden. Solche Überraschungen wird es in den kommenden Woche immer wieder geben.

    Geers: Nun wird ja nicht nur in Fukushima aufgeräumt, sondern auch in der Umgebung und als Laie macht man sich ja gar keine Vorstellung, was es heißt, eine Stadt mit Straßen, Plätzen, Gebäuden, Bäumen, kurzum, einfach alles, zu reinigen, dort aufzuräumen, wenn eben wirklich alles auch noch radioaktiv verseucht ist – wie machen die Japaner das?"

    Röhrlich: Es gibt rund um den Reaktor Gebiete, die aufgrund der hohen Strahlung durch das Radiocäsium für Jahrzehnte gesperrt bleiben müssen. Anderswo sei die Belastung gering oder die Lage ließe sich so verbessern, dass die Bewohner nach Hause könnten. Und die Regierung möchte auch, dass die Menschen das tun. Und so hat die japanische Regierung erklärt, dass sie in wenigen Wochen in fünf weniger belasteten Gebieten in der 20-bis-30-Kilometerzone die Evakuierung aufheben will. Vorher müssten, sobald auf lokaler Ebene Pläne für den Wiederaufbau vorlegen - also zur Dekontamination der Gebäude und des Landes darum, der Wasserwerke und -rohre, Krankenhäuser und Schulen. Das betrifft etwa 58500 Menschen. Im Lauf dieses Monats sollen auch Pläne zur Dekontamination anderer Gebiet vorgelegt werden.

    Allerdings hat die Regierung so langsam reagiert, dass Wissenschaftler und Gemeinden bereits zur Selbsthilfe gegriffen haben. So haben Wissenschaftler mit Hilfe von Spenden die richtigen Methoden für die Dekontamination von Häusern und Böden getestet. Etwa an der Tominari-Grundschule in Date City. Dort schabten sie beispielsweise die oberste Teerschicht ab. Die Risse, die sich durch das Beben gebildet haben, wurden ausgeschabt, denn darin haben sich die radioaktiven Substanzen angesammelt, weil der Regen sie dorthin geschwemmt hat. Blätter wurden eingesammelt, das Gebäude abgebürstet, der Swimming Pool der Schule auseinandergenommen, gereinigt, die Rohre ausgetauscht - durch eine Vielzahl von Maßnahmen ist es tatsächlich gelungen, die Belastung der Schule weit unter die Grenzwerte zu senken, sodass sie ungefährlich ist.

    Ähnlich wurde der Bauernhof von Yoshitomo Shigihara in einem Dorf bei Iiatate behandelt, einer Gegend, die wegen der hohen Belastung nachträglich geräumt werden musste, obwohl sie jenseits der 30-Kilometer-Zone liegt. Der Bauer kann aber trotzdem nicht zurückkommen, weil hinter seinem Haus ein Wald wächst - und die Radionuklide, die sich auf den Nadelbäumen abgelagert haben, bereiten Probleme. Man müsste ihn fällen. Dass zumindest seine Söhne mit ihren Kindern nie mehr zurückkehren werden und seine Familie den Hof nach mehr als 90 Jahren verlassen wird, belastet Yoshitomo Shigihara sehr. Als die Männer in den Strahlenschutzanzügen kamen und maßen, ohne ihnen etwas über die Messwerte zu verraten, ahnte er noch nicht, was kommen würde:

    Geers: Man hat uns gesagt, dass uns, weil wir mehr als 30 Kilometer von der Anlage entfernt leben, nichts passieren könnte. Wir bräuchten nicht beunruhigt zu sein, und so glaubten wir uns zunächst in Sicherheit.

    Röhrlich: Erst Wochen später erfuhren sie, dass dem nicht so war.

    Geers: Wenn man jetzt aufgeräumt hat, ist man natürlich nicht fertig, dann das radioaktive Zeug muss ja irgendwo hin – wohin kommt es denn?

    Röhrlich: Derzeit liegt alles immer unter blauen Plastikplanen in irgendeiner Ecke des Geländes. Niemand weiß, wohin damit. Nach geltendem Recht ist der Transport radioaktiv belasteter Erde illegal. Der Atommüll muss also in der Nähe des Hauses bleiben. Diese Gesetzeslage soll geändert werden.

    Geers: Über welche Mengen an – ja Sondermüll - reden wir hier eigentlich, mit denen Japan jetzt fertig werden muss?

    Röhrlich: Allein ein einzelner, kleiner Bauernhof brachte 20, 30 Tonnen Müll - die Mengen werden also gewaltig sind. Steht man neben diesen Müllhaufen, ist die Belastung deutlich messbar. Man kann ihn nicht einfach liegen lassen. Das Ganze irgendwo zentral zu sammeln, wird kaum möglich sein. Deshalb schlagen Wissenschaftler vor, in den Gemeinden eigene Deponien einzurichten. Die müssten mit Tonschichten gegen den Untergrund und nach oben abzudichten. Zusätzlich sollen Drainage-Systeme dafür sorgen, dass eventuell eindringendes Wasser gesammelt und behandelt wird, ehe es in die Umwelt gelangt.

    Geers: Ein spezielles Problem ist der Boden, der muss ja teilweise großflächig abgetragen werden, da gehen die Japaner auch nicht sehr zielgerichtet vor ... .

    Röhrlich: Statt der obersten Zentimeter wird an Schulen beispielsweise der oberste halbe Meter abgehoben. Für japanische Strahlenforscher und auch die Wissenschaftler an der Universität ist das angesichts der Messwerte viel zu tief: Damit schaffe man neue Probleme, denn Kontaminiertes und Nicht-Kontaminiertem werde vermischt und alles müsse endgelagert werden. Außerdem fehlt dann der fruchtbare Boden, der nicht einfach vermehrt werden kann. Der ist rar und teuer. Hier sollte, so betonen die Wissenschaftler, doch sehr viel gezielter vorgegangen werden müssen - auch um wirklich mit großen Flächen fertig werden zu können.

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