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Auch wir sind "Werther"-Opfer

Martin Andree fragt in seinem Buch "Wenn Texte töten", warum Texte wirken, warum wir überhaupt mit Figuren leiden, heulen, lieben, verzweifeln, obwohl wir wissen, dass dies doch alles nur Buchstaben zwischen zwei Buchdeckeln sind. Ein Meister der wirkungsvollsten Techniken aus seiner Sicht: Johann Wolfgang von Goethe.

Von Thorsten Lorenz | 26.12.2006
    Dieses Buch ist wahrhaft mit Blut geschrieben. Schon über das Titelblatt fließt ein gigantischer Blutfleck, der den schwarzen Titel überschmiert - als hätte Dracula persönlich die Hand des Layouters geführt. Blut, Blut, Blut, wohin man blickt. Man kann den Blutsfleck nicht nur sehen, man kann ihn sogar ertasten. Der Literaturwissenschaftler Martin Andree sorgt schon vor dem Aufschlagen seines neuen Buches für einen PR-Effekt. Er weiß, wie man mit Lesern umgeht. Denn genau das ist sein Thema: die Tricks, die Programme, ja die Programmierung von Lesern durch Texte. Einfacher gesagt: Andree fragt, warum Texte eigentlich wirken, warum wir überhaupt mit Figuren leiden, heulen, lieben, verzweifeln, obwohl wir wissen, dass dies doch alles nur Buchstaben zwischen zwei Buchdeckeln sind, ob mit oder ohne Blutfleck.

    Und seine Antwort lautet: Das ist kein psychologisches Geheimnis, sondern in den Texten selbst steht, wie es funktioniert. Man muss sie nur genau lesen, um zu wissen, wie wir am Ende von unseren eigenen Lektüren konditioniert werden. Und der wohl am besten darüber Bescheid wusste, war Johann Wolfgang von Goethe. Seine "Leiden des jungen Werther" sind ein einziges Trick-Universum, das nicht nur den Leser verführt, sondern auch noch zeigt, wie die Verführung funktioniert. Goethe durchschaut wie kein anderer bislang die Funktionsweisen moderner Öffentlichkeitsarbeit. Martin Andree:

    "Ja, wir denken heute: Ja, Goethe, Werther, Schullektüre, ja was geht uns das heute an? Kaum jemand kann sich heute noch vorstellen, was für ein Hammer dieses Buch war, als es erschienen ist. 1774, Goethe hat es als 24-Jähriger geschrieben und hat kalkuliert eine Weltsensation hingelegt. Einen Erfolg, den es bis dahin in dieser Form nirgendwo gegeben hat. Dieses Buch wurde sofort in zig Sprachen übersetzt, war ein europäisches Phänomen, wurde überall nachgeahmt. Die Menschen trugen Werther-Frack und Werther-Mode, parfümierten sich mit Eau de Werther, sie sprachen in der Rhetorik des Romans, es brach ein unglaublicher Werther-Kult aus, Menschen aßen von Werther-Geschirren und tranken aus Werther-Tassen. Menschen pilgerten zu Werthers Grab. Und faszinierend ist, wie Goethe dieses PR-Stück eigentlich hinbekommen hat. Denn Goethe war damals jung, Goethe wollte Weltruhm. Und im Gegensatz zu dem Olympier, zu dem er sich später dann stilisierte, kann man sagen, dass Goethe hier sehr kalkuliert eine Sensation und ein Riesen-Marketing-Erfolg hervorgebracht hat."

    Erfolg oder Katastrophe, je nachdem, wie man es sieht. Denn die Wirkung des Werther führte zu einer Tragödie: Einige Leser stürzten sich in den Selbstmord - aus unerfüllter Liebe oder was man damals für Liebe hielt. Wie konnte das geschehen? Goethe inszeniert, so Andree, eine neue Art und Weise der Lektüre. Er nennt sie "emphatisch", ein Wort, das Goethe selbst verwendet. Und das heißt: Es kommt darauf an, Literatur mit einer bis dahin nie gekannten Intensität zu lesen. Diese Intensität verwandelt den Text. Er ist eben nicht mehr nur Text, er überschreitet seine eigene Medialität. Er wird zu einer Welterfahrung. Man könnte sagen: Der Trick besteht darin, Poesie in Wirklichkeit und Wirklichkeit in Poesie zu verwandeln, den Text und die eigene Welt aufeinander abzubilden. Und wie das gehen kann, führt Werther vor. Werther ist zum Beispiel selbst ein emphatischer Leser, der wiederholt dieselben Texte liest, und das in freier Natur. Er ist selbst Modell eines neuen Lesens der Unmittelbarkeit.

    Und diese Unmittelbarkeit drückt sich auch in Gefühlen aus, die sehr viel mit Körperflüssigkeiten zu tun haben: Werther und seine geliebte Lotte versinken in Tränen, und das Blut pulsiert. Goethe ist kein Superlativ zu schade, als wäre man in einer Werbemaschine: Es geht nicht einfach um das Herz, nein, um das ganze Herz; nicht nur um Gefühle, nein, sondern um wahre Gefühle; es geht nicht allein um die Schönheit der Natur, sondern um ihre unaussprechliche Schönheit. Alles erstrahlt in Unmittelbarkeit, so wie Kinder, die ja so rein sind - auch das eine fortwährende und mitunter enervierende Werther-Rhetorik. All diese Phänomene sind nicht nur oberflächliche Daten, sondern, wie Goethe so radikal sagt, Quellen der Welterfahrung. Quelle, das ist ja auch ein Wort des Ursprungs. Kein Wunder, das aus solchen Quellen Tränenströme fließen, zwischen Werther und Lotte und anderen Beteiligten.

    "Es geht darum zu zeigen: Können Texte ihre eigenen Leser programmieren? Das heißt: Sind die Reaktionsmuster, die man am Ende bei den Rezipienten beobachten kann, kann man die im Text verankert sehen und werden Rezipienten programmiert durch die Texte, die sie lesen?

    Anderes Beispiel ist zum Beispiel, dass im Werther oft gezeigt wird, wie das Buch als Freund erscheint. Werther liest Bücher zum Beispiel immer wieder, was dann bei Lesern dazu geführt hat, dass sie Werther immer wieder gelesen haben. Das Buch zeigt immer wieder exemplarisch: Wie soll man intensiv lesen, wie soll man emphatisch lesen? Und die Leser haben das eben auch angewendet auf das Buch selbst.

    Und das kann man sehr schön zeigen, dass die Modelle und die tatsächlichen Rezeptionsfälle analog verfahren. Ja, im Prinzip sind wir alle Werthers und Lottes geblieben. Wir lesen heute andere Texte oder wir gucken andere Filme. Aber die Mechanik, nach der das funktioniert, ist weitgehend gleich geblieben."

    Andree zeigt im Detail, wie die Verführung zu einer emphatischen Lektüre durch einen Text funktionieren kann und wie diese Verführung wiederum durch andere Leser ungeheuer verstärkt wird. Auf eine simple PR-Formel gebracht: Zum Erfolg wird, was bereits bei anderen erfolgreich ist. Goethes Werther wird zum Kult. Der Kult liebt heilige Orte, zu denen man pilgern kann - so etwas das Grab des Carl Wilhelm Jerusalem in Wetzlar. Jerusalems Selbstmord im Jahre 1772 war skandalöses Vorbild für Goethes Werk. Und sein Grab ruft Scharen von Pilgern zum Besuch. Pilger, die wiederum eine Gemeinde bilden - auch das untrügliches Kennzeichen kultischer Verehrung. Bilder, Symbole, Statuen, Kelche über Werther und Lotte, all diese Insignien des heutigen Tourismus hatten ursprünglich den Charakter von Reliquien, von Heiligenverehrung. Liest man Rezensionen aus der damaligen Zeit, so bekennen die Rezensenten fortwährend, wie auch ihnen der Strom der Tränen geflossen sei. So wie Werther und Lotte reagieren ihre Erstleser, die in Briefen und Zeitungen den Tränenstrom an die folgenden Tausende von Lesern weiterreichen. Es geht nicht um Kunst, sondern um die Verführung zu einer vermeintlichen Unmittelbarkeit. Ja, Goethe und viele nach und mit ihm wollen ausdrücklich kein Kunstwerk, sondern Seelensprache produzieren.

    Goethes Werther löst also eine einzige Selbstverstärkung aus, eine Welle der Tränen die wiederum eine Welle der Tränen und so weiter, und so weiter - bis zum Tsunami der Tode, in die sich manche Leser stürzen. Die Werther-Lektüre ist nicht irgendeine, sie ist eine imitatio, wie man in der Antike sagte. Man kennt solche Lektüren zudem aus dem christlich-religiösen Zusammenhang:

    "Es hat zu allen Zeiten das gegeben, was ich Nachahmungs-Lektüren oder Imitatio-Lektüren nenne, das heißt Lektüren, die so beschaffen sind, dass die Leser oder die Rezipienten, das was in den Medien oder in den Texten drinsteckt, als existentielle Mission auffassen, und dann umsetzen in ihrem Leben.

    Eigentlich ist die Kommunion das Modell einer intensiven Kommunikation. Das heißt auf der einen Seite ist die Hostie nur ein Zeichen, auf der anderen Seite ist sie mehr als das: ein Kultgegenstand. Und als solcher dient Präsenz des Leibs Jesu Christi. Sie ist mehr als nur ein Zeichen. Und genau so soll auch der Text gelesen werden. Der Text soll gewissermaßen verschlungen werden, er soll existenzielle Bedeutung bekommen. Er soll Kultgegenstand werden, wie ja auch der Werther-Roman einen Kult ausgelöst hat am Werther-Grab. Das heißt, es geht immer darum, wie können Texte mehr werden als nur Texte? Wie kann die Lektüre über den bloßen Text, den bloßen Buchstabentext hinausgehen? Oder wie wird zum Beispiel so ein n Buch wie der 'Werther' zum Kultbuch?"

    Martin Andree hat im letzten Jahr eine großartige literaturhistorische Studie über die Archäologie der Medienwirkung vorgelegt. Nun wendet er diese Techniken an und betreibt Medienwirkungsforschung an einem der größten Publikumserfolge des 18. Jahrhunderts: Goethes" Werther". Andree zeigt, wie "Werther" die Lektüre steuert, die Lektüre einer intensiven, emphatischen Kommunikation. Das Buch "Wenn Texte töten" ist selbst so emphatisch, dass wir uns heute in unsere eigenen Lektüre sofort wiedererkennen.

    Auch wir sind Werther-Opfer. Nur heißen die modernen Medien heute nicht Buch, sondern Kino und Computer. Wir rätseln, wie es mitunter nach dem Besuch eines Kinofilmes oder nach der intensiven Bearbeitung von Computerspielen zu Gewalttaten kommt. Die Antwort lautete schon damals: Weil Medien ihre eigene Medialität überschreiten können und ins Leben eingreifen. Aber das ist kein psychologisches Geheimnis, sondern erfordert die Lektüre von Programmen. Andree legt eine solche Lektüre vor. Nun wissen wir: "Werther" ist immer noch das Betriebsgeheimnis unserer Rezeption. Und wir wollen Gott froh sein, dass nicht immer Blut dabei fließt.