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Auerochse im Schlick

Geologie. – Platt wie eine Flunder, so beschreiben Norddeutsche selbst ihre Küste. Noch vor rund 4000 Jahren, so nahmen Wissenschaftler bislang an, war das heutige Watt noch Marschland, das bei den Gezeiten regelmäßig überflutet wurde. Ein einzigartiger Fund stellt diese Annahme allerdings in Frage. Reste eines Auerochsen sowie einer hölzerner Schleuse aus der Neuzeit, die auf einer Sandbank entdeckt wurden, lassen auch völlig andere Schlüsse über die geologische Geschichte der Küste zu.

Jens Welhöner | 02.12.2003
    Der Kapitän des Linienschiffs zu den nordfriesischen Inseln staunt nicht schlecht: Auf einer Sandbank mitten im Watt ragen Holzbalken aus dem Schlick. Sofort alarmiert der Seemann die Archäologen im Schleswiger Landesamt für Bodendenkmalpflege. Und die zögern nicht: Bei der nächsten Ebbe setzen sie an der Fundstelle den Spaten an. Nach kurzer Zeit die Überraschung: Neben den Resten einer hölzernen Schleuse aus der Neuzeit kommen viel ältere Funde ans Tageslicht: Ein riesiger Schädelknochen, und gleich daneben weitere Reste eines Auerochsen, des längst ausgestorbenen Vorfahren der heutigen Hausrinder. So schildert Grabungsleiter Hans-Joachim Kühn den Sensationsfund im Watt. Mittlerweile liegen die Knochen auf dem Schreibtisch in seinem Büro. Mit einem Ruck hebt der Archäologe den mehr als einen halben Meter langen Schädel hoch:
    Also lange Zeit kann man den nicht so in der Hand halten, weil das ja doch ein gewaltiges Gewicht ist. Die Hornspitzen haben einmal 80 Zentimeter auseinander gesessen, die Ansätze der Hörner entsprechen dem Armumfang eines kräftigen Mannes. Also das ist schon ein gewaltiges Tier gewesen.

    Der Auerochse stammt aus der Steinzeit, um 2400 vor Christus. Seine Knochen sind sauber durchtrennt und liegen in einer Grube. Woraus die Forscher schließen, dass Jäger das Tier zerlegt und Teile von ihm an Ort und Stelle vergraben haben.

    Wir haben also den Schädel gefunden und die Beinknochen, also die Extremitäten. Und diese Kombination von Schädel und Beinen, niedergelegt in einer Grube, sind uns aus verschiedenen Epochen und Kulturen als Opfergaben, also rituelle Niederlegungen, durchaus bekannt.

    Die Forscher nennen den Auerochsen auch Ur. Die letzten Exemplare wurden im Mittelalter von Jägern getötet. Berichte aus dieser Zeit schildern Ure als braune Riesen, mit Schulterhöhen von bis zu zwei Metern. Ulrich Schmölcke, Zoologe an der Uni Kiel:

    Die haben gerne in Wäldern gewohnt, waren anpassungsfähig an ihren Lebensraum. Aber ich glaube man kann den Ur primär als Waldrind bezeichnen.

    Wälder im Wattenmeer? Vor 4.000 Jahren war das Watt vor der deutschen Küste noch Festland, der Meeresspiegel lag mehr als zwei Meter unter seinem heutigen Stand. Das ist seit langem bekannt. Aber bis vor kurzem vermuteten Forscher, die Landschaft sei damals noch Marschland gewesen, also flach, mit nur wenigen Bäumen, dicht an der Küste und deshalb immer wieder von der Flut überschwemmt. Ulrich Schmölcke:

    Wie weit der Auerochse zum Zeitpunkt seines Todes von der Nordsee entfernt war, können wir nicht sagen. Es müssen aber viele Kilometer gewesen sein. Wir dürfen uns nicht diesen Ur in einer Marschlandschaft vorstellen, das wäre völlig verkehrt.

    Botaniker Helmut Kroll erforscht an der Uni Kiel seit vielen Jahren die Pflanzenwelt der Steinzeit.

    Wir haben keine Bäume, die in den Salzbereich gehen. Also wo Salzeinfluss ist, ist nie Wald oder sonstiges Gehölz.

    Das Gelände um die Fundstelle kann also nicht überflutet worden sein. Der Auerochsenfund stützt Helmut Krolls bisherige Forschungsergebnisse. Dicht unter der heutigen Wattoberfläche liegt überall eine dicke Torfschicht. Und in diesem Salztorf erhalten sich die Pollen von Pflanzen über Jahrtausende. Sie geben dem Botaniker Auskunft über die Vegetation der Steinzeit:

    Und das sind überwiegend Weidengebüsche, Erlenwälder, Bruchwälder im weiteren Sinne. Und, auf höheren Bereichen, ein Wald aus Eichen, Ulmen und Linde.

    Ganz in der Nähe der Auerochsen-Fundstelle entdeckten Archäologen vor einigen Jahren die Reste eines Erlenwaldes. Offensichtlich war der größte Teil des heutigen Wattenmeers also noch vor 4.000 Jahren dicht bewaldet. Das Gelände muss relativ hoch gelegen haben, die Nordsee war noch weit entfernt, sonst hätte die Meeresflut die Pflanzen schnell abgetötet. Wahrscheinlich verlief die Küstenlinie zu dieser Zeit sogar noch deutlich westlich der Insel Sylt, also etwa 30 Kilometer von der heutigen Küste entfernt. Archäologe Hans-Joachim Kühn:

    Diese Landschaft ist geformt durch die vorletzte Vereisung. Und die hat große Hügel, große Schuttmassen zurückgelassen, aber auch tiefe Täler, durch die diese Schmelzwasser geströmt sind. Und diese Hügel- und Tallandschaft im nordfriesischen Raum ist in Folge des Meeresspiegelanstiegs überflutet worden. Und mit Sedimenten überlagert worden, und zwar so mächtig, dass man heute die eiszeitlichen Hügel und Täler nicht mehr sieht.

    Der Auerochse aus dem Watt ermöglicht der Forschung also eine noch genauere Rekonstruktion der Landschaft vor 4.000 Jahren. Und wahrscheinlich warten im Schlick noch weitere Überraschungen auf ihre Entdeckung.