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Auf dem Weg in eine offene "Beziehungsgesellschaft"

Lange habe sich in Amerika hartnäckig ein multikulturelles Nebeneinander gehalten, meinen Edouard Glissant und Patrick Chamoiseau in ihrem "Brief an Barack Obama". Er besticht durch die ebenso sachkundige wie poetische Untersuchung der erst jetzt in den USA möglichen Kreolisierung.

Von Margit Klingler-Clavijo | 15.02.2012
    Es ist ein Raunen seit Jahrhunderten. Es ist der Gesang der Weiten des Ozeans. Klingende Muscheln scharren an Schädeln, an Knochen, an grünbezogene Eisenkugeln, am Grund des Atlantiks. In diesem Abgrund liegen Friedhöfe von Sklavenschiffen, mit vielen ihrer Matrosen. Die Beutegier, die verletzten Grenzen, die gehissten und gefallenen Flaggen, von der westlichen Welt. Und die hier den dichten Teppich mustern, sind die Söhne Afrikas, mit denen man Handel trieb, sie stehen auf keiner Ladungsliste, keiner kennt ihre Zahl.

    Mit dieser Erinnerung an den transatlantischen Sklavenhandel beginnen Edouard Glissant und Patrick Chamoiseau ihren Brief an Barack Obama, der ohne den Jubel eines Paul Auster, Derek Walcott und anderer angelsächsischer Autoren auskommt, den diese dem ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten entgegenbrachten. Der Brief besticht durch die ebenso sachkundige wie poetische Untersuchung der nunmehr auch in den USA möglichen Kreolisierungsprozesse, wie sie die beiden Autoren aus der Karibik kennen, wo es im Gegensatz zu den USA viel früher zu Vermischungen der Kulturen, Sprachen, Religionen und Rassen gekommen war. In den USA hielt sich ihrer Ansicht nach hartnäckig ein binäres Schwarz-Weiß Denken, ein multikulturelles Nebeneinander, ohne echte Annäherung, Austausch oder Vermischung. Edouard Glissant und Patrick Chamoiseau gehen bei der Analyse einer sich kreolisierenden USA von den eingangs erwähnten "Abgründen" aus, das heißt von der unzureichend aufgearbeiteten Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels, der in den USA tiefe Spuren hinterließ, was Edouard Glissant in einem Interview aus dem Mai 2009 wie folgt erklärte:

    "Wir bestehen darauf, dass es in der amerikanischen Geschichte etwas gab, was ungesagt blieb. Die Gründungsväter des Landes, die althergebrachten Helden des Landes wie die Washingtons und Jeffersons waren im Besitz von Sklaven. Jefferson, der die allseits bekannten unsterblichen Worte aufgesetzt hat – die Menschen werden frei und gleich geboren – die sich mit den darauf folgenden Erklärungen der französischen Verfassungen decken, ist gestorben und hat sich geweigert, seine Sklaven freizulassen, höchstwahrscheinlich, weil er seine Nachkommen nicht bestrafen und ihr Erbe nicht schmälern wollte. Und was macht Barack Obama' Er betreibt in den USA historische Wiedergutmachung, indem er das Ungesagte ausspricht. Er trägt dazu bei, dass dieses Ungesagte endlich bekannt wird."

    Glissant und Chamoiseau halten Barack Obama für die Verkörperung der Kreolisierung, zum einen, weil er aufgrund seiner Biografie - seiner Vater ist Afrikaner und Barack Obama hat auf mehreren Kontinenten gelebt - im Gegensatz zu vielen Afro-Americans zwar den "Schmerz des Abgrundes" kennt, jedoch nicht mehr im verhängnisvollen Schwarz-Weiß Denken gefangen ist und daher nicht mehr der Versuchung unterliegt, Revanche zu fordern für all die Schmach und Demütigung, die Afro-Americans in den USA erlitten haben und teils noch erleiden. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass Martin Luther King, Rosa Parks und all die anderen, die sich zuvor schon Rassismus und Ausgrenzung widersetzten, Barack Obama den Weg geebnet haben. "Der Schmerz des Abgrunds" lässt sich Edouard Glissant und Patrick Chamoiseau zufolge nicht in der Konfrontation überwinden, sondern durch völlig neue Arten der Beziehung. Ihr Anfang kann so einfach sein wie eine freiwerdende Luftblase im Meer:

    Sie steigt vom Grund des Ozeans auf, um sich mit ihrer Ladung hohen Dunkels ruhig dem Licht darzubieten. Ohne Gebrüll, ohne Klage, ohne Hass.

    Eine Kreolisierung der USA hätte weit reichende Folgen und ginge einher mit dem Abschied vom nicht selten mit Gewalt durchgesetzten Weltmachtanspruch. Sie würde außerdem den Weg in eine offene "Beziehungsgesellschaft" ebnen, deren Merkmale die beiden Autoren wie folgt beschreiben:

    Die Größe einer Nation ergibt sich aus der Gerechtigkeit mit der sie das Verhältnis aller Nationen und aller Gruppen intuitiv wahrnimmt, und ihre Größe bestätigt sich in den Maßnahmen, die sie unternimmt, um dieses Verhältnis ins Gleichgewicht zu bringen. Es spielt keine Rolle, wenn diese Vorschläge als utopisch persifliert, von harten Realitäten an den Rand gedrängt werden, sie finden dennoch ihren Weg in die Vorstellungen, in das Imaginäre der Menschen. Die Utopie ist immer der Weg der uns fehlt.
    "Wenn die Mauern Fallen" ist ein vehementes Plädoyer für offene Gesellschaften und multiple Identitäten und Ausdruck des Protestes gegen das 2007 von dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy eingerichtete "Ministerium für Immigration, Integration, nationale Identität und solidarische Entwicklung", das am 13. November 2010 wieder abgeschafft wurde. In dem bereits erwähnten Interview aus dem Mai 2009 hatte Edouard Glissant erklärt:

    "Meines Erachtens kann man die Identität einer Gemeinschaft nicht von vorneherein Festlegen. Wenn man die Identität einer Gemeinschaft im Voraus festlegt, erstarrt Sie und wird steril. Das erlaubt dieser Gemeinschaft nicht mehr, in die Welt zu gehen, sie zu verstehen, eine Intuition von der Welt zu haben. Man kann die Identität nicht gesetzlich festlegen."

    Edouard Glissant und Patrick Chamoiseau untersuchen zunächst den nationalistischen Identitätsbegriff, der zur Gründung des Ministeriums führte und monieren, dass er auf der Ausgrenzung des Anderen beruht.

    Der Begriff der Identität hat selbst lange als Mauer gedient: Sie bezeichnete, was das Eigene ist, unterschied es von allem, was zum Anderen gehörte, um dieses dann als dunkle, unverständliche Bedrohung, als Ausdruck der Barbarei hinzustellen.

    Edouard Glissant und Patrick Chamoiseau halten diesem restriktiven Identitätsbegriff ihr Konzept von "Mondialität" entgegen, wo man sich nicht mehr über ein Vaterland, eine Nation oder ein Territorium definiert, sondern über selbst gewählte Orte, die Beziehungen zur ganzen Welt ermöglichen.

    Die in Beziehung setzende Identität eröffnet eine Vielheit, wie ein Feuerwerk der Ovation an die vielen Imaginären. Die Mannigfaltigkeit, oder vielmehr die Überbordende Fülle der Imaginären beruht auf der erfrischenden und bewussten Wahrnehmung dessen, was alle Kulturen, alle Völker, alle Sprachen an Schatten Und an Wundern hervorgebracht haben.

    Edouard Glissant und Patrick Chamoiseau vertrauen der Sprengkraft des Imaginären und gehören so zu den geistigen Wegbereitern einer All-Welt, deren Schönheit und Vielfalt sie mit sprachlicher Eleganz evozieren.

    Edouard Glissant, Patrick Chamoiseau: Brief an Barack Obama.
    Die unbezähmbare Schönheit der Welt
    Übersetzung: Beate Thill, Wunderhorn 2011, 60 Seiten