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Auf dem Weg zu einer Frau in der Taiga-Wildnis

Ein Jahr lang ist der Berliner Journalist Jens Mühling zwischen der Ukraine und der sibirischen Taiga unterwegs gewesen. Sein Ziel war eine Frau, die einsam in der Taiga-Wildnis lebt - und die russische Seele.

Von Jens Rosbach |
    "Mein Russisches Abenteuer" beginnt vor zehn Jahren. Zu jener Zeit lernt der Berliner Journalist Jens Mühling einen russischen TV-Produzenten kennen. Er heißt Juri und verkauft in Deutschland Berichte aus seiner Heimat. Exotische Berichte. Mühling bekommt einen typischen Film vorgeführt.

    "Da ging es um einen exklusiven Klub in Moskau, der seinen Mitgliedern etwas ganz Erstaunliches bot: nämlich drei unerwartete Erlebnisse pro Jahr. Meistens waren die Erlebnisse erotischer Natur, so Zufallsbegegnungen mit unglaublich attraktiven Frauen. Und als der Film vorbei war, guckte uns Juri an und fragte: Und, was denkt Ihr? Und ich sagte: Das ist ja unglaublich, dieser Klub, wer kommt denn auf so was? Und Juri sagte nur (imitiert russischen Akzent): Ich komme auf so was!"

    Der Klub, angeblich von ehemaligen KGB-Agenten gegründet, existiert in Wirklichkeit gar nicht. Für die hiesigen Zuschauer hat Juri alles nur inszeniert.

    "Der sagte nämlich, dass eigentlich die wahren Geschichten in Russland noch viel unglaublicher sind, als die ausgedachten – nur kaufe ihm die in Deutschland niemand ab. Und deswegen erzähle er eben die Geschichten, die man in Deutschland über Russland hören will."

    Mühling fühlt sich ertappt. Denn als gebürtiger Westdeutscher ist er mit lauter Klischees über Russland aufgewachsen. Doch nun will es der studierte Literaturwissenschaftler wissen: Er lernt Russisch und arbeitet zwei Jahre lang bei der "Moskauer Deutschen Zeitung". In dieser Phase stößt er ständig auf skurrile Nachrichten aus Russlands Weiten. Unter anderem über eine Frau, die einsam in der Taiga-Wildnis lebt. Die sogenannte Altgläubige arbeitet, denkt und betet dort genauso wie ihre Vorfahren vor 400 Jahren. Mühling lässt diese Nachricht nicht los – selbst als er zurück in Deutschland ist. So beschließt er 2010, ein Jahr lang Urlaub zu nehmen, um die Altgläubige aufzusuchen. Dabei entsteht "Mein Russisches Abenteuer" - ein lebendiger, traurig-komischer Report über Russlands Gegenwart und Geschichte. Angefangen im 17. Jahrhundert, als der Moskauer Patriarch eine Kirchenreform anstieß und Russland sich dem Westen öffnete. Die Reformgegner - die Altgläubigen - hätten Panik bekommen, schreibt Mühling.

    "Während Russland westwärts driftete, flohen die Altgläubigen ostwärts. Verfolgt von den Schergen des Patriarchen retteten sie sich in dünn besiedelte Randgebiete des russischen Reichs. Sie gründeten Kommunen, in denen die Zeit stillstand, in denen nichts den Geist des alten Russlands verwässerte, kein Tabak und kein Kaffee, kein Rasiermesser und kein Uhrwerk… . Jahrhunderte vergingen. Wann immer die Altgläubigen unter Druck gerieten, zogen sie sich einfach ein Stück tiefer in die sibirischen Wälder zurück. Das ging gut, bis 1917 im fernen Sankt Petersburg eine Revolution ausbrach, die Russland in ein neues Blutbad stürzte."

    Doch selbst Lenins – und später Stalins - Schergen schafften es nicht, die Radikal-Religiösen ganz auszulöschen.

    "Die Altgläubigen taten, was sie immer getan hatten: Sie flohen tiefer in die Wildnis."

    Auf dem Weg zu einer der letzten Taiga-Altgläubigen trifft der Journalist zahlreiche kuriose Gestalten des heutigen Ostens: etwa Stalinisten mit der Überzeugung, dass der einstige Diktator viel zu weich gewesen sei. Oder einen ehemaligen Polizisten, der sich für den wiedergeborenen Messias hält - und in Sibirien 5000 Jünger um sich schart. Oder Kommunen-Bewohner, die einen heidnischen Slawen-Kult pflegen. Mühling stößt unentwegt auf suchende Menschen – die aber in der Vergangenheit suchen.

    "Viele Leute sind auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, was es überhaupt bedeutet, Russisch zu sein und graben Dinge aus – an die sich nicht mehr so leicht anknüpfen lässt, weil dazwischen eben 70 Jahre der Zerstörung liegen. Also ist von all dem, was vor der Revolution war, gar nichts mehr übrig, an das man jetzt so ohne Weiteres anknüpfen könnte. Man kann es nur rekonstruieren. Und das heißt in vielen Fällen, dass man es im Grunde neu erfindet."

    Die Rekonstruktion treibt aberwitzige Blüten: So präsentiert ein St. Petersburger Mediziner dem Autoren gar den angeblichen Penis des legendären Schriftstellers Grigori Rasputin, eingelegt in Formaldehyd. Mühling beschreibt all die skurrilen Begegnungen detail- und dialogreich. Immer staunend oder schmunzelnd – aber nie abwertend. Dabei macht der Journalist keinen Bogen um brisante Themen wie Tschernobyl, Tschetschenien oder den Raubbau an sibirischen Urwäldern. Der Berliner wird unterwegs - entlang der Transsibirischen Eisenbahn – immer wieder genötigt, Wodka zu trinken. Zudem gerät er an unzuverlässige Gestalten und muss das raue Klima ertragen. Nach monatelanger, anstrengender Reise glaubt Mühling schließlich nicht mehr, die Altgläubige tatsächlich zu finden. Ehrlich notiert er:

    "Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass nicht nur die Zeit gegen mich arbeitete, sondern ganz Russland. Niemals vorher und niemals danach spürte ich eine derartige Abneigung gegen die Russen… . Sie waren das unsympathischste Volk der Welt. Ich hasste ihre haltlosen Versprechungen, ich hasste ihre bevormundende Gastfreundschaft, ich hasste ihre Sauferei, ich hasste ihren Kinderglauben an die Macht der Machthaber."

    Trotz mehrerer Frusterlebnisse erreicht der Autor noch sein Ziel: die Taiga-Frau. Sie lebt in einer religiösen Traumwelt, in der sich Natur und apokalyptische Bibelverse vereinen. Die Altgläubige, hier eine Originalaufnahme des russischen Fernsehens, klagt in ihren Gebeten über die Jahrhunderte lange Verfolgung. In ihren Augen sind diese Epochen – egal ob sie von Peter dem Ersten, von Stalin oder von Putin geschrieben wurden – eine Zeit der Sünde. Eine Zeit des Satans. Mühling ist somit am Nullpunkt seiner Reise angelangt. Sein absonderlicher Trip durch das Riesenreich hat sich auf jeden Fall gelohnt: Denn sein 350-Seiten-Report - stilsicher und flüssig geschrieben – gibt einen unterhaltsamen Einblick in die viel beschworene russische Seele: in die Leidenschaft der Russen - und auch in ihre Leidensbereitschaft. In ihre Bewunderung und gleichzeitige Skepsis gegenüber allen Ausländern. Schließlich, natürlich, in ihre Schicksalsergebenheit und ihre Melancholie. Einfühlsam und zugleich kritisch beschreibt der Autor die gesamte östliche Gefühlsskala. Mühling bestätigt schließlich, dass die wahren Geschichten über die Ex-Sowjetunion noch viel unglaublicher sind als die ausgedachten. Sein Buch ist ein Abenteuer für’s Sofa, garantiert. Und eine Einladung, selbst einmal eine Reise Richtung Osten zu wagen.

    Jens Mühling: "Mein russisches Abenteuer"
    Dumont Buchverlag, 351 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-832-19589-2