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Auf den Spuren der "drei ???"

Bekannt als "Die drei ???" ermitteln die berühmten Kinderdetektive Justus, Peter und Bob bereits seit 30 Jahren in Deutschland. Zwar bescheinigt man der beliebten Krimi-Reihe einen hohen Suchtfakor, doch die Hauptfiguren sind eher funktional als psychologisch ausgefeilt.

Von Karin Hahn | 28.08.2010
    In allen fast fließbandartig verfassten Serientitel steht immer die Frage im Mittelpunkt: Wie klären die drei Ermittler den neuen Fall? Und natürlich: Wer ist der Täter?

    Die Kinder- und Jugendbuchautoren Martin Widmark, Alan Bradley, Trenton Lee Stewart, Richard Newsome und Inge Löhnig folgen in ihren Romanen diesem oft gewählten Erzählmuster. Allerdings richten alle Autoren ihre Aufmerksamkeit auf einzigartige, nicht immer ganz realistische Kriminalgeschichten und die individuelle Entwicklung ihrer Figuren, die als Ermittler eher spontan als routiniert agieren. Die Öffentlichkeit des Internets oder weitere technische Hilfsmittel bleiben dabei ziemlich konsequent außen vor, denn im Grunde geht es immer darum, sich handelnd mit einem spannenden Fall auseinanderzusetzen.

    "An Krimis und Thrillern, denke ich, kann man ziemlich viel festmachen, Menschen einfach in Extremsituationen zeigen, ein Thema auf die Spitze treiben. Warum Menschen sich verhalten, wie sie sich verhalten",

    .... meint die Krimiautorin Inge Löhnig, die später noch zu Wort kommt.

    Martin Widmark: Das Mumiengeheimnis, Detektivbüro LasseMaja

    Bereits unter Grundschulkindern gibt es zahlreiche Krimifans, nur werden sie meist mit Geschichten abgespeist, in denen die Erzählstruktur simpel ist und zum x-mal ein Hund oder eine Katze entführt werden. Den Kindertraum, ein seriöser Ermittler zu sein, nimmt der schwedische Autor Martin Widmark in seiner Krimi-Reihe " Detektivbüro LasseMaja" für Leser ab 8 Jahren ernst. Seine eigenständigen Hauptfiguren Lasse und Maja haben sich ein gemütlich-chaotisches Büro mit allen kuriosen wie notwendigen Utensilien eingerichtet. Trotz Sommerflaute trudelt in dem Band "Das Mumiengeheimnis" ein äußerst mysteriöser Fall auf den Tisch der beiden selbst ernannten Kommissare. Eine Mumie, frisch aus Ägypten im örtlichen Museum eingetroffen, erweist sich als frecher Bilderdieb und Briefeschreiber:

    "Die Museumsleiterin nimmt hinter dem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch Platz. ... 'Was steht in dem geheimnisvollen Brief der Mumie?' fragt Maja. 'Die Mumie verlangt fünf Millionen Kronen vom Museum, wenn nicht noch mehr Bilder verschwinden sollen. Die Rache der Mumie ist grausam, aber gerecht, steht in dem Brief.' Lasse und Maja hören am Unterton in ihrer Stimme, dass sie nicht recht daran glaubt, dass die Mumie den Brief geschrieben hat."

    In jedem Lasse & Maja-Fall ist der Kreis der Verdächtigen, die alle ein schlüssiges Motiv haben, übersichtlich und doch ist im temporeichen Handlungsverlauf nie vorschnell klar, wer der Täter sein könnte. Der ominöse Bilderdieb in Mumiengestalt ist jedenfalls auf Rache aus. Das erkennen die Profis Lasse und Maja, bevor der nicht gerade clevere Polizeiinspektor überhaupt anfängt zu denken.

    Ein ironischer Blick auf die Schwächen der Erwachsenen schleicht sich zum einen durch die zahlreichen karikierenden Illustrationen von Helena Willis ein, aber auch durch die feinsinnigen Alltagsbeobachtungen der beiden Kinder. Fast nebenbei erzählt Martin Widmark vom Totenkult im alten Ägypten, im Band "Das Schulgeheimnis" über fehlende Wasserzeichen auf Falschgeld und im neuen Buch "Das Diamantengeheimnis" von der Behandlung der wertvollen Steine. Lasse und Maja arbeiten bei all ihren Fällen völlig unabhängig und mit harmlosen Hilfsmitteln, zum Beispiel um Fingerabdrücke zu finden. Sie tricksen die Verdächtigen aus oder spionieren Undercover.

    Martin Widmark kann kindlich denken und muss nicht in eine Hockstellung gehen, um scheinbar auf gleicher Höhe mit seinen Lesern zu sein. Das einfache Erzählen ist bei ihm noch nicht durch ein Gehege einander durchdringender pädagogischer oder soziologischer Tabus beschränkt, was sicher den großen Erfolg dieser Krimi-Reihe in Schweden erklärt.

    Trenton Lee Stewart: Die geheime Benedict-Gesellschaft und die große Entscheidung

    Einem Agententhriller ähnlich lesen sich die seitenstarken Bücher über die Benedict-Gesellschaft des amerikanischen Autors Trenton Lee Stewart für Kinder ab 10 Jahren. Auch im dritten Band "Die geheime Benedict-Gesellschaft und die große Entscheidung" sorgen sich die Kinder Reynie, Kleber, Kate und Constance um den Flüsterer, eine gefährliche Maschine. Erfunden wurde der "Gehirnfeger", der die Gedanken unzähliger Menschen manipulieren kann, von Mr. Benedicts Zwillingsbruder Ledrophta Curtain.

    Er und seine brutalen Zehner-Männer verkörpern, getreu dem Genre, die Schurken. Ihnen gegenüber stehen der Forscher Nicholas Benedict und die vier hochbegabten, neugierigen Detektive, die jetzt allerdings unter dem Dach ihres Gönners wie in einem Sicherheitstrakt untergebracht sind. Reynie ist der besonnene Anführer, der ernste Kleber verfügt über ein fotografisches Gedächtnis, Kate über akrobatische Fähigkeiten und die vierjährige Constance verfasst gern Gedichte und stellt sich immer quer. Alle vier nennen sich die Benedict-Gesellschaft. Mit Gedankenspielen, Rätseln und gewagten Erkundungen vertreiben die eng verbundenen Kinder sich die Zeit.

    "'Und wie heißt eure Mannschaft?', fragte Kate und verschränkte ihre Beine zu einer hübschen Brezelform. 'Wir sind die Unbefangenen.' Als sie mit dieser Erklärung nur sprachloses Erstaunen erntete, zog sie die Brauen zusammen. 'Kapiert ihr nicht? Das ist ein Wortspiel: gefangen, befangen, unbefangen... Wie nennt man das noch, Kleber? Irgendwas mit Polypen.'
    'Eine Polysemie!', seufzte Kleber. 'Das sagt man, wenn ein Wort mehrere Bedeutungen hat, aber in dem Fall...'
    'Richtig! Polyremi! Deshalb sind wir die Unbefangenen.'"


    Die Zeit drängt, zum einen fordert die Regierung den Flüsterer für sich, zum anderen ahnt Mr. Benedict, dass sein Bruder längst Spione ausgeschickt hat, um die Maschine zu entführen. Dann verschwindet die schwer zu kontrollierende Constance plötzlich und der Flüsterer wird durch eine listige Finte der Curtain-Anhänger entwendet. Nichts kann die Kinder in Benedicts Haus mehr halten, jetzt sind ihre kognitiven wie emotionalen Fähigkeiten gefordert.

    Trenton Lee Stewart entwickelt seine unterschiedlichen Figuren überwiegend aus ihrem Gesprächsverhalten heraus und beteiligt den geduldigen Leser so direkt an der Handlung aus Gedankenexperimenten und Action. Logisches Kombinieren, Geschick, Intelligenz, aber auch Telepathie werden die jungen Ermittler zwar in Curtains Falle locken, doch sie wären nicht die Benedict-Gesellschaft, wenn sie sich daraus nicht befreien könnten. Die heimliche Hauptfigur ist auch in diesem Teil Constance, die ewige Nein-Sagerin, die wiedermal darum kämpft, ernst genommen zu werden. Erneut variiert Trenton Lee Stuart seinen Grundkurs in Recht und Ordnung, allerdings fesselt der neue Band längst nicht mehr so wie die beiden vorangegangenen.


    Richard Newsome: Das Milliarden-Trio und der indische Diamant

    Ein Polizeiwachtmeister, der sich unter höchstpeinlichen Umständen, den streng bewachten indischen Diamanten im Britischen Museum nachts klauen lässt, eine australischer Junge, der von einem Tag zum anderen Milliardär wird und der geheimnisvolle Brief der englischen Erbtante – das sind die Bausteine, aus denen Richard Newsome den Kinderkrimi "Das Milliarden-Trio und der indische Diamant", in dem nichts so ist, wie es anfänglich scheint, konstruiert.

    "Hallo Gerald, ich hoffe, das ist nicht zu seltsam für Dich – ein Brief aus dem Grab! Aber jetzt bist Du mein Erbe und ziemlich viel Geld wert. Hoffentlich hast du nichts dagegen.
    Na, die Frage kommt ein bisschen zu spät!, dachte Gerald.
    Ich muss Dich um einen Gefallen bitten, las er weiter. Man hat mir gesagt, du seist ein helles Kerlchen. Ich weiß, dass wir uns nie begegnet sind, aber Deine Mutter hat mich immer auf dem Laufenden gehalten. ... Deswegen hast Du wahrscheinlich schon herausgefunden, dass ich ermordet worden bin. Ich möchte, dass Du herausfindest, wer es war."


    Als Alleinerbe wird der 13-jährige Gerald Archer Wilkins vor eine kaum zu bewältigende Aufgabe gestellt. Mutterseelenallein sitzt der Junge in seiner Londoner Stadtvilla, denn seine selbstsüchtigen Eltern haben sich mit seinem Privatjet in die Karibik abgesetzt. Vorsorglich hat die Tante Gerald mit allerdings verschlüsselten Informationen und einer standesgemäßen Kreditkarte ausgestattet. In einem zweiten Brief fordert sie den Jungen auf, sich mit dem Direktor des Britischen Museums in Verbindung zu setzen. Der Mord hängt, so vermutet Gerald, mit dem gestohlenen Diamanten zusammen, für den Geralds Tante die Versicherungssumme bereit stellte. Als dann aber dieser dünne, brutale Mann den Jungen im Museum in die Enge treibt und wissen will, wo sich die Diamantenkiste befindet, scheint doch alles anders zu sein. Zwar ist ein Polizist in der Nähe, aber aus der brenzligen Situation befreien Gerald zwei Kinder.

    "'Wir haben schon vermutet, dass der Bösewicht kein Aufheben machen würde, wenn wir dich direkt vor dem Polizisten schnappen', sagte der Junge. 'Zum Glück war der da, sonst hätten wir Plan B aus der Tasche ziehen müssen.'
    'Und was war Plan B?', fragte Gerald.
    Seine beiden Retter sahen sich an.
    'Äh, der war noch nicht ganz fertig', sagte das Mädchen. 'Aber Plan A hat ja hingehauen.' Gerald lachte auf.


    Ab diesem Moment weichen die streitlustigen Zwillinge Ruby und Sam nicht mehr von Geralds Seite und gehen mit ihm durch Dick und Dünn. Durch Zufall
    belauscht das Trio die Diamantenräuber, die offenbar aus gehobenen gesellschaftlichen Kreisen stammen und somit außerhalb jeden Verdachts stehen. Die Kinder folgen den Dieben auf eine Mittsommernachtsfeier in die Nähe von Avonleigh, wo sich angeblich die letzte Stätte des Heiligen Grals befindet. Als plötzlich alle Verdächtigen und sogar der Museumsdirektor dort auftauchen, ahnen die Kinder, dass sie dem Objekt der Begierde, der Diamantenkiste aus dem 2. Jh v. Chr, nah sind.

    Auch wenn Gerald, Sam und Ruby beteuern, wie uninteressant das Unterrichtsfach Geschichte ist, bei diesem Fall müssen sie alte Karten wälzen, geschichtliche Zusammenhänge kombinieren und sich mit den lebensgefährlichen Tücken einer römischen Grabkammer herumschlagen. In einem äußerst spannenden Showdown wird der Auftraggeber für den Mord an Geralds Tante von den jungen Ermittlern zwar enttarnt, seine Flucht jedoch können sie nicht verhindern.

    In seinem sehr lebendig geschriebenen Debütroman spielt der neuseeländische Autor in bester Indiana Jones - Manier mit bekannten mythologischen Überlieferungen, wahren und erfundenen Tatorten und der Lust des Lesers am Abenteuer in der realen Welt. Richard Newsome erzählt chronologisch sukzessiv immer in einem wohl kalkulierten Wechsel zwischen ansteigenden und abfallenden Spannungsbögen. Alle Ereignisse gehen kausal auseinander hervor und Leser wie Ermittler bleiben über den Ausgang im Ungewissen. Ein schönes Gegengewicht zur aufregenden Handlung, denn nicht nur einmal geraten die drei in lebensgefährliche Situationen, bildet Richard Newsomes Humor verbunden mit den sozialen Interaktionen zwischen den Kindern.

    "'Was zum Teufel...?', stotterte Gerald. Sam legte den Finger an die Lippen. Dann drückte er das Ohr auf den Boden und lauschte. 'An den Schrank kann man von beiden Seiten heran', flüsterte er. 'Es gibt auf beiden Seiten eine Tür.' Er grinste über Geralds Verwirrung. 'Wen hast du erwartet? Herrn Tumnus aus Narnia?'"

    In seinem Kinderkrimi für Leser ab 10 Jahren entlarvt der neuseeländische Autor aber auch Wichtigtuerei und Eitelkeiten, indem er die so hoch angesehenen Personen der Gesellschaft tief fallen lässt, die Handlung durch ironisches Geplänkel auflockert und die Kinder zwar Grenzen überschreiten lässt, sie aber nie heroisiert.

    Alan Bradley; Flavia de Luce – Mord ist kein Kinderspiel

    Lauert bei jedem Krimi im Hintergrund die Furcht, so drängen sich in den abenteuerlichen Romanen eher Geheimnisse, ungelöste Rätsel und die spannungsreiche Aufklärung in den Vordergrund. Oftmals sind junge Detektive bei ihren Fällen nicht hilflos, aber meistens fühlen sie sich auf sich allein gestellt und das heißt, sie haben fast alle Freiheiten. Dass Kinderermittlern immer wieder unglaubliche Dinge glücken, hat auch einen emanzipatorischen Effekt: Jedes Buch bestärkt den Leser in seinem Anspruch, ernst genommen zu werden.

    Und das trifft ganz besonders auf den zweiten Roman des Kanadiers Alan Bradley zu. Er spielt im Mutterland des Krimis England und im Mittelpunkt steht eine 11-jährige Amateurdetektivin. Nachdem Flavia ihren ersten Toten in einem Gurkenbeet entdeckt hat, spielt der neue Band "Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel" erneut im kleinen Ort Bishop's Lacey nur einen Monat später. Eine große Detektivin des Kriminalromans Miss Marple steht hier Pate für die kleine Ermittlerin Flavia. Sich langweilend und ohne Freunde hängt die Ich-Erzählerin mit ihren morbiden Gedanken am liebsten auf dem Friedhof ab. Sie widmet sich ihren Racheplänen gegen die fiesen älteren Schwestern, ihrer Vorliebe für einfallsreiche Giftmischer und der Chemie.

    "Ist es nicht unglaublich spannend, dass innerhalb weniger Minuten nach Eintritt des Todes die Organe des Körpers aus Mangel an Sauerstoff damit beginnen, sich selbst zu verdauen? Der Ammoniakgehalt steigt an, und mit Hilfe fleißiger Bakterien wird Methan (besser bekannt als Sumpfgas) produziert, ebenso Schwefelwasserstoff, Kohlendioxid und Merkaptan, ein faszinierender Schwefelalkohol, in dessen Struktur Schwefel die Stelle des Sauerstoffs einnimmt – daher der faulige Geruch. Wie seltsam ist es doch, dachte ich, das wir Menschen Millionen Jahre gebraucht haben, aus den Sümpfen emporzukriechen, nur um in einem kurzen Augenblick des Todes den Abhang wieder hinunterzuschliddern."

    Der 71-jährige Alan Bradley lässt seine altmodisch wirkende Handlung im idealisierten Traumland England zu einer Zeit spielen, in der er wie Flavia 11 Jahre alt war. In allen geplanten Bänden fließt unwiederbringlich Nostalgisches ein, wie eine reisende Puppenbühne oder im ersten Roman die Aufregung um eine wertvolle Briefmarke, aber auch intelligente Anspielungen auf politische Themen, Literatur und naturwissenschaftliche Experimente. Dabei ist Bradleys lakonische Erzählweise sehr modern. Das liegt vor allem an dem widersprüchlichen, unerschrockenen Charakter seiner Hauptfigur. Selbstbewusst spottet Flavia gelehrt und altklug, folgt unerfahren der richtigen Intuition und plappert dann wieder kindlich drauflos. Voller Vertrauen in seine neugierige Protagonistin entwickelt Alan Bradley neben allem trockenen Humor eine berührende Geschichte über die Suche nach dem individuellen Glück und lebenslanger Schuld.

    "'Und dann hat sie ihn geseh'n, wie er da an dem alten Galgen baumelte', fuhr sie fort. 'Sein Gesicht sah grausig aus, hat sie gesagt – wie 'ne schwarz gewordene Melone.'
    Allmählich bedauerte ich, dass ich mein Notizbuch nicht dabei hatte.
    'Und wer hat ihn umgebracht?', fragte ich jetzt, ohne weitere Rücksichten zu nehmen. 'Tja ... Das ist es ja gerade. Das weiß man nicht.'
    'Ist er denn umgebracht worden?'"


    Vor gut fünf Jahren hat sich der kleine Robin Ingleby in Gibbet Wood angeblich erhängt. Dieser unaufgeklärte Fall beflügelt Flavias Fantasie, um so mehr als durch eine Autopanne der berühmte Marionettenspieler Rupert Parson im Dorf strandet und während einer Vorstellung im Gemeindehaus durch einen Stromschlag ums Leben kommt. Eine seiner Puppen ähnelt, was das versammelte Dorfpublikum kurz aufstöhnen lässt, dem toten Robin. Flavia vermutet sofort einen Zusammenhang zwischen beiden Fällen und liegt genau richtig.

    Geschickt präsentiert sich das Mädchen als unauffälliges, naives Kind, dass so die polizeiliche Arbeit unterläuft und die Verdächtigen gezielt ausfragen kann. Nichts entgeht ihren ausnehmend guten Ohren und niemand vermutet, dass sie wirklich ernsthaft im Mordfall recherchiert. Ein Grund, warum Alan Bradley sich gerade eine so junge Ermittlerin für seine Krimis ausgesucht hat.
    Auch bei seiner Hobby-Ermittlerin fehlt es nicht an persönlichen Macken, für die Erwachsene die großen Detektive lieben. So nennt Flavia ihr Fahrrad liebevoll Gladys, rühmt sich insgeheim für ihre Intelligenz und möchte doch eigentlich ein besserer Mensch werden, der die Schwächen der teils schrulligen Dorfbewohner nicht immer schamlos ausnutzt. Der Roman "Flavia de Luce – Mord ist kein Kinderspiel" reiht sich mühelos in den Trend zu All-Age-Titeln ein, ist aber bereits für Krimifans ab 12 Jahren eine spannende Lektüre.

    Inge Löhnig: Schattenkuss

    Dreht sich bei Krimis für Kinder und Jugendliche alles um Geheimnisse, so ist das bei Thrillern nicht anders. Die bayerische Krimiautorin Inge Löhnig wählte für ihren ersten Jugendroman "Schattenkuss" einen dem Leser vertrauten Mikrokosmos als Schauplatz des Verbrechens – die Familie:

    "Und wenn ich mir so eine Geschichte überlege, dann ist es nicht so, dass ich zuerst die Figur habe oder die Situation habe. Ich habe vielleicht eine Idee, eine Ausgangssituation. Das war in dem Fall von "Schattenkuss" witzigerweise die Situation, wie geht eine Familie damit um, wenn plötzlich der Vater arbeitslos wird und die Mutter zur Ernährerin der Familie wird. Also das Ganze Gefüge in der Familie verändert sich. Und dann habe ich gemerkt, da ist ein Mädchen, dessen größte Angst besteht darin, dass diese Familie auseinanderbrechen könnte. Und dann war es natürlich auch schön, sie in so eine Situation zu schicken, wo die Gefahr tatsächlich besteht. Und aus dieser Rahmenhandlung heraus, hat sich letztendlich der Krimiplot ergeben."

    Die 16-jährige Lena erfährt überraschend vom Tod der Großmutter, die sie kaum gekannt hat und reist mit den Eltern von Stuttgart ins ?rtchen Altenbrunn. Hier registriert sie zum ersten Mal, dass in der Familie ihrer Mutter Steffi seit 20 Jahren ein Konflikt schwelt, an dem diese Familie bereits zerbrochen ist.

    "'Wer ist denn diese Ulrike?' Lena gähnte. Im Rückspiegel fing sie Toms Blick auf, der ihr verriet, dass sie soeben vermintes Terrain betreten hatte. Steffi drehte sich um.
    'Wer Ulrike ist? Das weißt du doch. Meine Schwester.'
    Bitte? Lena starrte ihre Mutter völlig überrascht an. Seit wann hatte sie eine Tante? Und warum reagierte Steffi so harsch auf eine harmlose Frage? 'Also an Alzheimer leider ich noch nicht', fuhr sie ihre Mutter an. 'Du hast nie ein Wort über Ulrike verloren. ... Und jetzt tust du so, als müsse ich natürlich von ihrer Existenz wissen. Wie ätzend ist das denn. Wahrscheinlich hast du dich mit ihr genauso verkriegt wie mit Oma, stimmt's?'"


    Im Haus der Oma findet Lena Fotos von Ulrike und über die Jahre hinweg sporadisch geschickte Postkarten aus dem Ausland. Durch den Prolog des Romans ahnt der Leser aber bereits, dass Ulrike Opfer eines Verbrechens geworden sein könnte. Mit all ihren bohrenden Fragen über Ulrikes Schicksal stößt Lena auf eine Mauer des Schweigens, innerhalb der Familie, aber auch in der Nachbarschaft. Gibt Lena zuerst vor, sie recherchiere für ein Filmprojekt, so rutscht sie doch nach und nach neugierig geworden in die Rolle der unbewusst Ermittelnden hinein.

    Inge Löhnig: "Lena ist eine Beobachterin, eine die nicht gern im Mittelpunkt steht, sie stellt sich lieber an den Rand und schaut zu, was passiert. Sie schottet sich so ein bisschen ab, sie hat ja ein Hobby, sie hat diesen Camcorder, mit dem sie kleine Filme macht und das beschreibe ich ja auch in paar Mal, wie sie diesen Camcorder benutzt, um ihn zwischen sich und die Realität zu schieben, einfach um Distanz zu schaffen."

    Aus zwei Blickwinkeln verfolgt der Leser, der Lena immer ein Stückchen voraus ist, die Handlung: zum einen nimmt er Teil an ihrer mühsamen Recherche und zum anderen öffnet Inge Löhnig ein Zeitfenster, um die Ereignisse im Juni 1990 kurz vor Ulrikes Verschwinden zu schildern. Je mehr sich Lena in die vergangenen Geschehnisse vertieft, um so mehr lernt sie auch eine unbekannte Seite ihrer Mutter Steffi kennen, die in ihrem Heimatort ihre Jugendliebe wiedersieht. Das schwierige Mutter – Tochter - Verhältnis, aber auch die Auseinandersetzungen zwischen Steffi und Ulrike offenbaren überzeugend, dass es Inge Löhnig nicht nur um den Fall ging, sondern auch um eine tiefere Auslotung der Konflikte zwischen den Frauenfiguren innerhalb der Familien. Als Lena bemerkt, wie ähnlich sie ihrer Tante ist, provoziert sie ganz bewusst ihre Umgebung.

    "Sie zieht also die alten Sachen an, eine zerrissene Jeans, Dog Martens Schuhe und findet sogar eine alte Ray Bans Sonnenbrille, die auch wieder cool sind und sie geht sogar so weit sich die Haare schneiden zu lassen, eine Frisur, die sogar die der ihrer Tante gleicht als diese 17 Jahre alt war und verschwunden ist. Ulrike ist also wieder präsent im Dorf und das löst bei den Dorfbewohnern nicht nur Irritationen aus, sondern auch Angst, ja, es bringt etwas in Bewegung. "

    "'Das ist ein Talisman', erklärte Odakota, als er Lenas Blick bemerkte. Dann sah er ihr in die Augen. 'Du bist nicht feig. Trotzdem: Pass auf dich auf. Lass Ulrikes Sachen besser im Schrank. Sonst weckst du vielleicht eine schlafende Bestie.'"

    Odakota, ein ehemaliger Freund von Ulrike und Outlaw, der sich bewusst von den Leuten im Dorf distanziert, ist der Einzige, der Lena in ihrer Vermutung, Ulrike sei tot, bestärkt. Aber auch er rückt nicht mit der ganzen Wahrheit heraus und verhält sich geheimnisvoll.
    Klischeefrei hält Inge Löhnig in ihrem psychologisch präzise gebauten Roman die Balance zwischen den Beobachtungen eines heranwachsenden Mädchens und der sie umgebenden irritierenden Realität. Einen Sommer mit bitteren Erfahrungen wird Lena hinter sich lassen und doch selbstsicherer aus ihm hervorgehen.

    Tiefgründige psychologische Fragen oder gar Zweifel an der Grundordnung der Gesellschaft spielen in den unterhaltsamen aktuellen Abenteuerkrimis und Thrillern keine Rolle. Die jungen Ermittler Lasse, Maja, Gerald, Lena, Flavia und die Benedict-Gesellschaft verlassen sich auf ihren Verstand, ihre Kombinationsgabe und ganz klar ihre Gefühle. Immer nah an Grenzsituationen hilft ihnen ab und zu auch der berühmte Zufall. Und wer einmal in einen Kriminalfall verstrickt war, auf den wartet sicher auch der nächste.


    Die vorgestellten Bücher in der Übersicht:

    Martin Widmark, Illustrationen von Helena Willis: Das Mumiengeheimnis, Detektivbüro LasseMaja,
    Aus dem Schwedischen von Maike Dörries, Wien 2010, Ueberreuter Verlag,
    89 Seiten, 7,95 Euro

    Richard Newsome: Das Milliarden-Trio und der indische Diamant,
    Deutsch von Janka Panskus, Oetinger Verlag, Hamburg 2010,
    380 Seiten, 16,95 Euro

    Trenton Lee Stewart: Die geheime Benedict-Gesellschaft und die große Entscheidung,
    Deutsch von Werner Löcher-Lawrence, Bloomsbury Verlag, Berlin 2010,
    400 Seiten, 16,90 Euro

    Alan Bradley; Flavia de Luce – Mord ist kein Kinderspiel,
    Aus dem Englischen von Gerald Jung, Penhaligon Verlag, München 2010,
    352 Seiten, 19,95 Euro

    Inge Löhnig: Schattenkuss,
    Arena Verlag, Würzburg 2010,
    264 Seiten, 9,95 Euro