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Auf den Spuren der Pfälzer Wandermusikanten
Musizieren gegen Not und Elend

Von Monika Lüpschen |
    Im Wohnzimmer des verwinkelten Bauernhauses in Jettenbach in der Westpfalz hängen zwei Klarinetten an der Wand. Wie sein Großvater habe auch er Klarinette gespielt, sagt Günther Leonhard; nur jetzt gehe das nicht mehr. Er weist auf seine Hände. Die Finger sind krumm. Im reinsten Pfälzer Dialekt erzählt der alte Herr von seinem Großvater, wo dieser einst spielte – zunächst in Holland. Sichtbar angestrengt kramt der alte Herr in seinen Erinnerungen:
    "Das war die Ulrich-Kapelle. Und das war in Scheveningen, wo der Großvater gespielt hat. Hat immer gesagt, ich habe Könige und Kaiser gesehen. Ich war ja noch ein Bub; das habe ich so mitgehört. De Goss haben sie immer zu meinem Großvater gesagt. Der war Dirigent. Er war 26 Jahre Dirigent. Nach dem Krieg hat er ausgeholfen in einer Kapelle."
    Großvater Leonhard gehörte zu der wachsenden Schar von Wandermusikanten, die zwischen 1860 und 1914 unterwegs waren, um mit Musik ihre Familien zu ernähren. Ihr Verdienst wurde für die Westpfalz zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor.
    Interessant ist aber zunächst die Frage, wieso sich ausgerechnet in der Region Kusel, Homburg, Kaiserslautern und Kirchheim so etwas wie ein großes Musikanten-Nest entwickelte. Was waren die Ursachen?
    Die Westpfalz ist ein strukturarmer Raum. Hier war es für die Menschen schon immer schwierig, aus dem kargen Boden genug zu erwirtschaften. Zusätzlich zur Landwirtschaft arbeiteten sie im Bergbau und in Steinbrüchen.
    Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts – das geht aus einer Arbeit von Helmut Seebach über Wandergewerbe in der Pfalz hervor – verdoppelte sich die Zahl der Einwohner in manchen Dörfern. Mehrere aufeinander folgende Missernten verschärften die Situation.
    Die damaligen Landkommissäre – etwa den heutigen Landräten vergleichbar – meldeten, dass diese Missernten und die sich daraus folgende Verteuerung der lebensnotwendigen Dinge das Elend der Menschen auf das "Unglaublichste" gesteigert hätte.
    Die Folge war: Immer mehr Bettler zogen herum, einzeln und in kleinen Gruppen, oft mit Jugendlichen, und machten Musik, mehr schlecht als recht. Schnorrer wurden sie genannt oder Schnorranten.
    Das Schnorrantentum endete, als ab 1836 nachgewiesen werden musste, dass man a) fähig war, zu musizieren, b) nur das Familienoberhaupt Musik als Erwerb betreiben durfte und c) für Reisende in Sachen Musik dies im Pass vermerkt werden musste.
    Eine weitere Quelle, dem Musikantentum auf die Spur zu kommen, sind die Kirchenbücher der Region. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts sind in ihnen Berufsmusiker als "musiciens" oder "musiganden" vermerkt.
    Vermutlich waren es keine Wandermusikanten wie in späteren Zeiten, wohl aber Musikanten, die zu Veranstaltungen wie Hochzeiten oder Kirchweihen spielten.
    "Aus der Westpfalz gab es ganze Kolonien in USA, die auswanderten meist aus wirtschaftlichen Gründen, haben dann drüben versucht, sich ein bisschen zusammenzuschließen. Oft haben sie auch Briefe geschrieben: Kommt doch rüber, hier lebt es sich besser als in der Pfalz. Und tatsächlich, es war eine Art Massenauswanderung."
    Erklärt Dieter Zenglein vom Kulturreferat der Kreisverwaltung Kusel. Und diese Pfälzer Auswanderer waren dann später für die Wandermusikanten, die ja immer wieder in ihre Heimat zurückkehrten, eine willkommene erste Anlaufstation.
    Musikschulen gab es damals nicht. Musikanten, die auf Rang und Ruf bedacht waren, bildeten 10 bis 15 Mann starke Kapellen mit einem Meister an die Spitze. Dieser schulte seine Leute in der Heimat so, dass sie meist mehrere Instrumente beherrschten. Übrigens wurden Jugendliche als Schüler schon möglichst früh in die Musikerkreise aufgenommen.
    Paul Engel, ehemaliger Musiklehrer, Orchesterleiter und als Gründer des Pfälzer Musikantenland-Museums kundig wie kein anderer, kennt die Anforderungen:
    "Also, die müssen ihr Instrument schon in einem hohen Maße beherrscht haben. Die haben von Harmonielehre Ahnung gehabt, haben nämlich nach Noten gespielt. Und diese Notenbücher, in denen sie ihre Stücke aufgeschrieben haben, haben sie selbst arrangiert, denn die Besetzung der Kapelle konnte sich ja ändern. Und der Schwierigkeitsgrad der einzelnen Instrumentalparts konnte auch wechseln bei der
    Besetzung. Das alles spielte eine große Rolle. Etwa zehn Prozent des Repertoires, weil ich ja die Notenbücher gesammelt habe, waren Eigenkompositionen."
    300 dieser Eigenkompositionen sind bis heute erhalten; viele dürften verloren gegangen sein. Ehe der Sprung über den großen Teich oder noch weiter nach Australien und China gelang, tourten die Musikanten durch Europa, spielten einzeln oder in kleinen Gruppen in der Schweiz, Frankreich, Holland, Skandinavien, Russland, England.
    Märsche, Walzer, Polka, Mazurka, Rheinländer, Quadrillen und anderes mehr. Gebrauchsmusik wurde verlangt.
    "Darüber hinaus – in die Bücher geguckt, dass da zeitgenössische Kunstmusik enthalten ist. Zum Beispiel Lohengrin-Ouvertüren, das war damals moderne Musik, Zukunftsmusik, die nicht alle mochten, die man teilweise belächelt hat – alle zeitgenössischen Opernkomponisten. Sie haben Musik, zu denen das breite Volk nie Zugang gehabt hätte, in ihren
    Freiluftkonzerten im Stadtpark, im Pavillon, in der Stadt irgendwo unters Volk gebracht."
    Organisatorisch lief das Leben der Wandermusikanten so ab: Im Frühjahr brachen die Musiker auf. Von da an lag alles in den Händen des Meisters. Er kümmerte sich um die Plätze auf Schiffen, wenn es nach Übersee ging. Er mietete dort für seine Leute Unterkünfte, ein Haus oder eine Etage. Manchmal reiste auch die Ehefrau mit, die dann für die Mitglieder der Band sorgte, was diese natürlich bezahlen mussten.
    Den Weg zu den französischen, holländischen oder deutschen Häfen, von wo aus die Überfahrt begann, bewältigte die Gruppe meist zu Fuß. Gab es unterwegs Veranstaltungen wie beispielsweise der Kölner Karneval, nahm man diese Gelegenheit natürlich auch gerne wahr, um Geld zu verdienen.
    Selten fuhren die Musiker einfach so in's Blaue. Meist hatten sie ein bestimmtes Ziel, um aufzutreten, etwa in einem Bade- oder Ausflugsort, in Gastwirtschaften oder auf einem Schiff. Sehr willkommen war es, in Zirkussen wie Sarrasani, Hagenbeck, Busch, Krone zu spielen. Dort waren Pfälzer Musiker fast immer mit von der Partie.
    Der Meister war sozusagen der Arbeitgeber. Er zahlte den Mitgliedern der Kapelle wöchentlich bei freier Verpflegung 15 Mark und erwartete Ordnung und soliden Lebenswandel. Wer dagegen verstieß, musste damit rechnen, davon gejagt oder bei der nächsten Tour nicht mehr mitgenommen zu werden.
    Im Winter kehrten die Musiker zurück, außer denen, die in fernen Ländern tätig waren. Und in den Dörfern wurden sie sehnlichst erwartet, sagt Michael Kappel, Heimat- und Familienforscher für die Region Jettenbach:
    "Die Frauen von den Wandermusikanten, die in Holland waren, zu denen haben sie bei uns im Dorf die Gilleweiber gesagt. Gille, das kommt von Gulden, und dann haben sie immer darauf gewartet, dass die Gilleweiber bei die Geschäftsleute gehen und bezahlen. Und die hatten dann in den 20er-Jahren stabiles Geld gehabt. Eine alte Musikantenwitwe hat mir mal gesagt, ihr Nachbar, der war Sattler, er hat immer gesagt: Wenn nun die Musiker wieder heimkommen, dann habe ich für den Winter wieder Arbeit. Dann haben sie das Geld mitgebracht und neue Matratzen gemacht, Sofa, Sessel, und so war's bei den anderen Handwerkern auch. Das war schon ein wichtiger Wirtschaftsfaktor bei uns."
    Von den Wandermusikanten profitierten auch die Instrumentenbauer der Region. Auf zwei sehr erfolgreiche weist Paul Engel hin:
    "Besonders die Sippen Sander und Pfaff waren natürlich sehr beschäftigt damit, da sie für die 2000 bis 3000 Wandermusikanten Instrumente herstellten – von den Streichinstrumenten über die Holzblasinstrumente bis zu den Blechblasinstrumenten. Wenn die Musikanten unterwegs waren, wurde natürlich manches in lädiertem Zustand wieder nach Hause gebracht; da hatten die Instrumentenbauer besonders viel zu tun."
    In diesem Zusammenhang gibt es noch eine schöne Geschichte. Einer der Wandermusiker hatte seiner Frau aus Amerika eine Nähmaschine mitgebracht. Sie funktionierte aber nicht richtig:
    "Der Pfaff war ein Tüftler und hat sich sehr dafür interessiert, wie die Nähmaschine gebaut war, hat sie repariert; das soll der zündende Gedanke gewesen sein, dass er gesagt hat, so etwas könnte ich ja eigentlich auch. Das hat dann so floriert, dass er sogar den Blechblasinstrumentenhandel aufgeben konnte."
    Und 1862 nach Vorbild der amerikanischen Singer-Nähmaschine in Kaiserslautern die eigene Nähmaschinenproduktion unter seinem Namen Pfaff begann.
    Es wird geschätzt, dass die Wandermusikanten bis zum 1. Weltkrieg jährlich zwischen 1,5 bis 2 Millionen Mark nach Hause brachten. Das schlug sich natürlich auch äußerlich in den Ortschaften nieder. Die Musikantendörfer hatten besonders schöne Häuser. Einige sind noch im Original erhalten; Kennzeichen ist oft eine Lyra an der Fassade. Die Häuser sind gut gearbeitet, häufig aus Sandstein errichtet, mit Zwerggiebel und Zierornamenten:
    "Dieses Haus ist im australischen Farmhausstil mit Veranda, eingebaut in
    Holzbauweise. Das Haus ist noch im Originalzustand von 1901, wurde auch von einem Musiker in Auftrag gegeben. Das heißt, sein Schwager ist früher zurück. Den Bauplan hat der Schwager im Geigenkasten mitgebracht und hat in Jettenbach den Maurermeister das vorgelegt: So soll es aussehen."
    Es gab allerdings auch Musiker, die kein Glück hatten und nie wieder kamen, denn die Reisen waren ja oft durch extremes Klima, Krankheiten und allgemeine Gefahren mehr als beschwerlich.
    "Und ein anderer, der Schreck Michael, der war schon 1870 im Pferdewagen nach Russland und ist krank geworden, in Russland
    verschollen. Zwei sollen im Baikal-See ertrunken sein, sind vorgedrungen ins tiefste Sibirien."
    Andere machten Karriere, brachten es zum Beispiel bis zum Kapellmeister am kaiserlichen Hof in China. Einer der erfolgreichsten ist der Arrangeur und Komponist George Drumm. Seine Verbindung zu der im Weißen Haus auftretenden Kapelle der US-Marines öffnete ihm viele Türen, sodass er sehr bekannt wurde. Mit "Hail America" wurde er jedoch berühmt. Dazu Paul Engel:
    "1917 ist Amerika in den Ersten Weltkrieg eingetreten, und da war es für George Drumm opportun, dem neuen amerikanischen Patriotismus Ausdruck zu verleihen. Darauf hin hat er einen Marsch geschrieben, und diesen Marsch hat er betitelt "Hail Amerika". Und dieser wurde auch verlegt, gedruckt, da gab es genug deutsche Verlage – Schirmer-Verlag, Fischer-Verlag, und so wurde er bekannt. Dieser Marsch wird intoniert, und zwar in dem Augenblick, wenn der Präsident aus
    dem Capitol herauskommt und geht zum Pult und während dieser Zeit, diesem feierlichen Moment werden immer die Einleitungstakte von "Hail Amerika" gespielt."
    Wie von vielen Wandermusikanten, die über ihr Leben in der Ferne berichteten, sind auch von George Drumm Briefe an seine Familie in Erdenbach in der Pfalz erhalten.
    In feinster Schrift berichtet er ausführlich über seine Erlebnisse auf den vielen Stationen, bis er über Irland nach Amerika kam. Dieter Zenglein liest einige Passagen vor:
    "Als ich einige Monate im Theater Royal in Dublin war, bekam ich eine bessere Offerte vom Empire Theater, wo ich dann drei Jahre blieb. Nebenbei gründete ich mit einem Freund namens Barry ein kleines Orchester, welches nach und nach sehr populär wurde in einem bekannten Teerestaurant in der berühmten O'Connel Street, wo die großen Läden sind. Das Teerestaurant wurde immer mehr populär durch unsere Musik, während die reichen Ladies zu ihrem Nachmittagstee erschienen. Hier, nun muss ich viel überspringen, bis wir endlich am vizeköniglichen Hof landeten und dann spielten wir bloß noch für adlige Personen. Nun kamen die Engagements haufenweise. Die Landeigentümer in ihren alten Schlössern gaben die Jagdbälle und andere Festlichkeiten. Im Jahre 1900 im Herbst übernahm ich eine der städtischen Amateurkapellen und im Mai folgenden Jahres beteiligte ich mich am Wettstreit des alljährlichen Musikfestes. Aus 12 starken Opponenten ging ich siegreich hervor, Goldmedaille und Pokal in drei aufeinanderfolgenden Jahren. In 1904, als in den Vereinigten Staaten die St. Louis-Weltausstellung stattfand, wurde ich von Lord Mayor von Dublin empfohlen, dort mit meiner Kapelle zu spielen."
    In noch ganz anderer Weise haben die Pfälzer Wandermusikanten Akzente gesetzt.
    "Ich habe sehr gestaunt, in Büchern, die vor 1900 Hand geschrieben wurden von den Musikanten, Stücke zu finden, die man heute als Vorläufer des Jazz in Amerika ansieht, nämlich Ragtime. Dass es zu dieser Entwicklung kam, die zum Jazz führte, das hängt damit zusammen, dass die farbige Bevölkerung Amerikas nach dem Civil War die zerbeulten Militärmusikinstrumente, die niemand mehr brauchte, waren billig zu haben, und die haben dann Ragtime auf ihre Art und Weise gespielt in diesen Marching Bands, und so ist diese Ragtime-Musik weiter entwickelt worden."
    Auf der Burg Lichtenberg in Kusel wurde auf Initiative von Paul Engel das Pfälzer Musikantenlandmuseum gegründet. Hier wird in zahlreichen Dioramen das gesamte Leben der Wandermusikanten dargestellt – detailreich und anschaulich. Auffallend sind die vielen persönlichen Dinge, Briefe, Auszeichnungen ganz besonderer Art, Souvenirs, natürlich die Instrumente, darunter ganz außerordentliche Exemplare, die handgeschriebenen Notenbücher mit Eigenkompositionen. Sie wären übrigens exzellentes Material für eine Doktorarbeit.
    Auffallend auch Passregister der Wandermusikanten, die damals nötig waren, wenn sie ausreisen wollten. Besonders Besucher aus Übersee, die heute nach ihren Vorfahren fahnden, interessieren sich dafür, sagt Dieter Zenglein:
    "In der Regel finden wir tatsächlich den Vorfahren, der diesen Namen trug und damals hier seinen Pass beantragt hat, um mit der Gruppe in die USA zu gehen."
    Diese Welt der Wandermusikanten gibt es nicht mehr. Aber es wird versucht, die Tradition weiter zu führen – auch über Musikvereine, wenngleich es schwierig ist, junge Leute auf Dauer dafür zu interessieren.
    "Wir haben auch den Musikantenland-Preis eingerichtet vor Jahren, da waren etwa die Brüder Wanniczek, die waren Musikantenland-Preisträger, und die sind nach Frankreich, Brasilien und so weiter und haben dort solche Lieder gespielt in neuerer Form und das hat auch eine sehr große Resonanz gehabt."