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Auf den Spuren der "Schneemänner"

Wenn auf Mallorca Schnee fällt, bekommen die Kinder schulfrei. Denn auf der warmen Sonneninsel schneit es fast nie. Außer hoch oben in den Bergen des Tramuntanagebirges der Insel. Sogar noch kostbarer als heute waren Schnee und Eis zu Zeiten, als es auf Mallorca keine Kühl- und keine Gefrierschränke gab! Damals wurde versucht, Schnee bis in die Sommermonate zu lagern- und das gelang sogar!

Von Stephanie Eichler |
    Das Sammeln und Lagern des Schnees, der Transport und der Verkauf gehören zu den bizarrsten Kapiteln der Wirtschaftsgeschichte der Insel über das eine Zeitreise in die verschneiten Berge Mallorcas informiert:

    In der Nacht ist ordentlich Schnee gefallen. Der Puig d'en Galileu im Tramuntana-Gebirge ist ganz weiß. Die Brüder Xisco und Joan, elf und zwölf Jahre alt, wohnen im zehn Kilometer entfernt gelegenen Bergdorf Caïmari. Heute ist ihr Tag! Sie werden in die Berge steigen, dort Schnee schaufeln und Geld verdienen! Während die übrige Familie noch am Feuer sitzt, ziehen die Jungen schon los. Zusammen mit anderen Gleichaltrigen und einem Erwachsenen, der die Gruppe koordiniert, geht es hoch zum "Casa de neu”, dem "Schneehaus”.

    So ähnlich muss es gewesen sein, als sich die "nevaters”, die Schneemänner Mallorcas zur Arbeit trafen, erinnert sich Pep Estelrich, Pfarrer im Ruhestand, der noch mit den letzten Schneemännern (als sie längst erwachsen waren) auf Bergtour ging:

    "Familien, die in bescheidenen Verhältnissen lebten, waren darauf angewiesen, dass auch schon die Kinder mitarbeiteten und da war diese Arbeit mit dem Schnee sehr willkommen, da sie sehr einfach war. Man muss nur Schnee sammeln und sonst nichts.” "

    Doch folgt man einem Gedicht des mallorquinischen Schriftstellers Guillem Colom i Ferrà war es eine beschwerliche Zeit, die die Jungen dort oben verbrachten:

    ""La vida del nevater
    és una vida sobrada:
    la neu ens glaca les mans
    i el vent ens talla la cara,
    la boira ens cobreix arreu
    com si fos una mortalla.
    I sols sentim a l´entorn
    belar de cabres salvatges
    perdudes sobre els penyals
    i vols de voltors que passen
    per sobre dels nostres caps,
    afamegats de carnassa...."

    Das Leben des Schneemanns
    ist ein hartes Leben
    Der Schnee gefriert uns die Hände
    Und der Wind schlägt uns ins Gesicht
    er hüllt uns ein, wie ein Totenhemd
    Wir sind allein hier oben, in der Umgebung
    meckern nur wilde Ziegen
    verloren auf den Felsen
    ausgesetzt sind wir den Geiern
    die über unsere Köpfe fliegen,
    voller Gier nach Fleisch


    Hart waren die Arbeitstage der 10- bis zwölfjährigen Jungen, aber gut organisiert erzählt Pep Estelrich:

    "Die kleine Gemeinschaft wählte einen Bürgermeister, einen Pfarrer und einen Richter. Und wenn sie sich stritten, musste der Richter schlichten und eine Lösung finden.” "

    Auf den höchsten Bergen Mallorcas, Puig Major, Puig de Massanella und d´en Galileu, Teix und Tomir befinden sich immer noch die Schneehäuser der "kleinen Gemeinschaft”. Das Haus am Puig d´en Galileu wird gerade vom mallorquinischen Umweltministerium renoviert. Die Grundmauern stehen wieder komplett. Ein Kamin ist zu sehen und Vorsprünge in der Mauer, auf denen die Jungen wohl ihre Habseligkeiten unterbrachten. Ein Teil des Hauses ist abgetrennt. Hier standen die Maulesel, auf denen die Jungen ins Dorf zurückritten, um ihren Wochenproviant zu holen, erzählt Pep Estelrich:

    ""Sie nahmen Fisch mit, Sardinen, manchmal auch ein bisschen Fleisch. Schnee und Eis, um die Waren frisch zu halten, hatten sie ja da oben genug."

    Auch Bergführer Lorenzo und seiner Gruppe, die heute zum Puig d`en Galileu aufgestiegen sind, schmeckt die Verpflegung. Die Wanderung war auch ohne Schnee und ohne Werkzeug, wie es die Schneemänner mit sich trugen, anstrengend. Doch die mühevolle Tour hat sich gelohnt:

    Hier oben fühlt sich Toni so gut wie sonst nirgends! Und der zweite Wanderer, der ebenfalls Toni heisst, sagt: "Man ist frei hier, losgelöst von allen Problemen”. Für Bergführer Lorenzo ist es der schönste Platz auf der Welt.

    Neben dem Wohnhaus der Schneemänner befindet sich eine fünf Meter tiefe, rechteckige Grube mit einer Grundfläche von vierzig mal zwei - größer als die des Wohnhauses. Eine Mauer aus Natursteinen stützt die Wände. Bergführer Lorenzo hält seine Gruppe zurück. Es besteht Einsturzgefahr. Die Schneemänner, die zehn- bis zwölfjährigen Jungen mussten runter in die Grube, denn hier wurde der Schnee gelagert, erklärkt Pep Estelrich:

    "Sobald sie eine ordentliche Schicht in die Grube geschaufelt hatten, stiegen die Schneemänner hinab und stampften den Schnee platt. Dabei sangen sie: pitgen sa neu, pitgen sa neu..."

    Lorenzo beschreibt das Schuhwerk, dass die Schneemänner beim Stampfen trugen: Es war ein einfaches Tuch aus Leder, dass sich die Jungen um die Füsse wickelten. Wahrscheinlich aber waren die meisten Jungen sowieso barfuss. Ihre Füsse waren voller Hornhaut und glichen denen eines Affen.

    Die plattgestampfte Schneeschicht bedeckten die Jungen mit Carritx, einer Art Gras mit sehr dicken Halmen. Dann schaufelten sie die nächste Schicht rauf, Lage für Lage, bis die Grube gefüllt war, mit rund 85.000 Kilogramm Schnee. Die starke Last drückte den Schnee zusammen, dabei wurde er zu Eis. In der Grube war das Eis gut isoliert, es hielt sich so bis in den Hochsommer, wenn die Schneemänner ihren Eltern längst wieder auf den Feldern halfen, denn ihre Arbeit am Schneehaus endete, sobald die Grube voll war. Im Frühjahr kamen dann Erwachsene, schnitten das Eis in "Schneebrote”, "pans de neu” und transportierten es nach Palma, bis in die Eisdielen, in denen auch der österreichische Erzherzog Ludwig Salvator gern zu Gast war. In dem Standardwerk "Die Balearen in Wort und Bild”, beschreibt er den Alltag der Menschen in Palma:

    "Nachmittags und gegen Abend gehen namentlich im Sommer viele in die Cafés, um Gefrornes zu essen oder kühlende Getränke, wie Limonade, Frambois etc., zu trinken. Man bezieht den Schnee hierzu aus den Schneehütten der Sierra."

    Der Tramuntana. Eiswürfel, die den Whisky oder die Limonade kühlten, waren auch ein begehrtes Gut bei den Touristen Mallorcas, die ab 1903 im prunkvollen Gran Hotel in Palma logierten. Doch das Eis aus dem Gebirge war nicht nur ein Luxusgut für betuchte Genießer, liest Onofre Vaquer, Historiker, in alten Dokumenten nach:

    "Es ist eine kuriose Geschichte, aber es gibt Dokumente, die belegen, dass das Eis auch an die Häftlinge in den Gefängnissen der Inquisition geliefert wurde. Und zwar eine beachtliche Menge! Die Häftlinge nutzten es für den Verzehr und behandelten Krankheiten damit. Die Familien der Häftlinge bezahlten die Rechnungen, denn sie waren für die Verpflegung im Gefängnis zuständig."

    Ein knappes Pfund Eis kostete zwischen einem halben und einem Viertel Tageslohn. Trotz des Preises leisteten sich auch arme Leute das Eis, um eine fiebernde Stirn zu kühlen oder Verbrennungen zu lindern. Keine Frage, das Eis war begehrt und als mal kein Schnee fiel, selbst auf den höchsten Bergen der Insel nicht, wurde das Eis aus Barcelona eingeschifft. Mehr als die Hälfte schmolz schon während der Überfahrt und was übrig blieb, zerrann den Menschen zwischen den Fingern beim Verkauf im Hafen Palmas. Auf Mallorca selbst gelang es aber, das empfindliche Weiß quer über die Insel zu transportieren: Felanitx ist einer der Orte, der von den Bergen der Tramuntana am weitesten entfernt ist. Und trotzdem gab es hier in einer Eisdiele auch noch im Hochsommer Süßes aus Natureis. Heute führen Autobahnen über die Insel, und die Strecke wird in weniger als anderthalb Stunden zurückgelegt. Aber zurück zur Zeit der Schneemänner. Ganze fünfzehn Stunden brauchte ein Kutscher für den Transport des Eises (Atmo: Kutsche). Dass es dabei nicht schmolz, ist nicht erstaunlich, meint Bergführer Lorenzo:

    "Die Männer legten den grössten Teil der Reise in der Nacht zurück, wenn es kühler ist. Und zusätzlich war es auch tagsüber kälter. IM 17. Jahrhundert herrschten in Europa allgemein niedrigere Temperaturen als jetzt."

    Eine Lieferadresse für das Eis war das Kloster St. Jeronimo in Palma. Hinter dicken Mauern lebten um die siebzig Ordensschwestern in Klausur. Auf der ehemaligen Krankenstation öffnet gerade Oberin Maria Pons, heutige Leiterin des Klosters, den "refrescado”, den "Erfrischer”:

    ""Das ist eine sehr alte Kiste, so alt, dass wir nicht mal wissen, wann sie gemacht wurde. Innen drin war wohl eine Metallschicht, damit man hier das Eis länger aufbewahren konnte. Mit dem Eis wurden Lebensmittel frisch gehalten, ausserdem war es für die Kranken, um deren Fieber zu senken.”"

    Und manchmal gönnten sich die Nonnen auch einen süßen Nachtisch aus Milch, Mandeln und dem Eis. Mehr möchte Schwester Maria Pons nicht erzählen. Lieber macht sie die alte Kiste wieder zu. Länger als drei Jahrhunderte blühte das Geschäft mit dem Schnee. Besitzer der Fincas in den Bergen waren sogar per Gesetz dazu verpflichtet, den Schnee sammeln und lagern zu lassen, bis im Jahre 1927 die Zeit der Schneemänner plötzlich vorbei war: Denn eine Maschine, die Kunsteis produzierte, ging in Palma de Mallorca in Betrieb.