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Auf den Spuren des Blauen Reiters

Vor hundert Jahren entdeckten der Maler Wassily Kandinsky und seine Lebensgefährtin Gabriele Münter das Städtchen Murnau am Staffelsee als ihre Sommerfrische. Auch andere Künstler zog es bald ins sogenannte "Blaue Land". Und so entstanden viele berühmte Bilder der Künstlergruppe "Der Blaue Reiter" dort. Dieses Jahr feiert Murnau die Künstlergruppe mit einer großen Retrospektive und vielen Veranstaltungen.

Von Marion Trutter | 31.08.2008
    "Du musst jetzt überlegen, wo du Schatten hast, also: Wenn das Licht von da kommt, kommen die Schatten von der Seite - grundsätzlich, egal. Also sprich: Du legst da unten rein den Schatten - schau: so. Siehst du? Zweiter Pinsel immer gleich mit dabei, der Wasserpinsel, dass du das auch verteilen kannst. Und wenn du das in diesem schönen Ultramarinblau machst, dann schaut das immer toll aus auf Häusern."

    Lange schon verzaubert das Blaue Land große Künstler - und solche, die es werden wollen. Die Malerin Christine Meier ist an diesem Sommermorgen mit sieben Frauen ins Murnauer Moos gekommen mit Malblock, Stift und Pinsel. Die Damen wollen ihre Aquarellmalerei verbessern, und sie skizzieren eifrig ihr Motiv - so wie Malschülerin Roswitha:

    "Wir sitzen hier an der Ramsach, die fließt hier an uns vorbei, und haben den Blick auf das Ramsach-Kircherl, das Ähndl, wie es auch heißt, weil es eine der ältesten Kirchen hier in der Gegend ist, vielleicht sogar die älteste. Das ist ein sehr schönes Motiv. Und wir üben gerade, dass wir auch die Perspektive richtig hinbekommen. Und unsere Mallehrerin hilft uns dabei."

    Wie oft die Kirche am Murnauer Moos schon auf Leinwand gebannt wurde, lässt sich schon gar nicht mehr zählen. Die St. Georgs-Kirche aus dem achten Jahrhundert ist dem Drachentöter gewidmet. Wie ein stiller Wächter thront sie am Hang über der Mooslandschaft, lädt Wanderer zur Einkehr ein und Künstler zur Kreativität. Christine Meiers Schülerinnen wissen die Inspiration zu schätzen:

    "Also, diese Gegend lockt ganz einfach, muss ich sagen. Die Farben, die verändern sich - morgens, mittags, abends, es gibt immer wieder andere Farben, und die Landschaft sieht immer wieder anders aus."

    "Das ist einfach wunderbar, dieses Licht, das kann man kaum beschreiben, das muss man einfach sehen. Und das ist wahnsinnig schön, wenn Wolken dann über den Bergen kommen und dann kommt die Sonne ein bisschen raus. Also, das verändert sich ständig - und das ist wunderschön."

    So ähnlich sahen das vor hundert Jahren wohl auch Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Zur Sommerfrische kam das Künstlerpaar 1908 nach Murnau - und war hingerissen. Fasziniert von den ständig wechselnden Farben im Moos, vom Schillern des Staffelsees, von Zugspitze, Eschenloher Riegel und Ettaler Mandl, einer Felsnase, die vorwitzig in den Alpenhimmel spitzt.

    Vor allem aber war es dieses besondere Licht: ein bläulicher Dunstschleier, der häufig über dem See und den Bergen liegt. Dieses Blau gab um 1900 nicht nur der Gegend um Murnau und Kochel den Beinamen, sondern auch einer Gruppe von Avantgarde-Künstlern aus München. Die Malerin und Galeristin Gina Feder erklärt:

    "Das ist eigentlich in einem Austausch zwischen Kandinsky und Franz Marc passiert. Franz Marc hat immer gesprochen von "meinem geliebten Blauen Land". Und der Almanach, den sie gegründet haben, hieß "Der Blaue Reiter", das war eigentlich diese Verbindung zwischen dem Blauen Land und dem Georg, dem Reiter, was für Kandinsky eben Wiedererkennungswert hatte, dass er den Reiter wieder hier in Murnau entdeckt hat. Und dadurch ist auch dieser Begriff "Das Blaue Land" geblieben. Das liegt daran, dass diese Abendstimmung oft die Berge in so ein intensives Blau taucht, also so ein leichtes Blau-Grau-Lila-Grau, das ist so eine Farbe, die so durch den Dunst, der dann schon da ist, und durch das schräg einfallende Licht, entsteht."

    Mitten in diesem Blauen Land, am Rand von Murnau, kaufte Gabriele Münter ein Haus - als Sommersitz für sich und ihren Liebsten. Neu renoviert ist es bis heute ein Schmuckstück - mit rotem Ziegeldach, wasserblauen Fensterläden, Blumengarten und weitem Ausblick auf Murnau und die Alpenkette. Innen fällt als erstes eine bunte Treppenwange auf. Die Kunstführerin Gabriele Macher beschreibt, wie Kandinsky hier höchst persönlich Hand anlegte:

    "Hier hat er seinen Reiter in den Grund- und Komplementärfarben gemalt - aufsteigender Reiter, Symbol der Avantgarde, und das ist mit Schablone gemalt: Tüpfelmalerei, so ein bisschen Andeutung der russischen Folklore auch, das er so am Anfang seiner Malerei eben sehr viel umgesetzt hat. Und Schablone, wenn wir uns hier die Wände anschauen: noch die ursprüngliche Farbe der alten Wand. Und da sehen Sie die Schablonenmalerei am Fries und das hat angeblich Kandinsky inspiriert, hier auch mit der Schablone die Treppe raufzumalen. Das Ganze ist noch aus der Zeit von Kandinsky, das heißt ab 1909 bis 194 in den Sommermonaten haben sie hier ihr Häuschen ausgestaltet. Und das gesamte Mobiliar, das wir in dem Häuschen sehen werden, hat ein örtlicher Schreiner angefertigt und Gabriele Münter und Kandinsky bemalt nach ihren eigenen Vorstellungen."

    Blau mit bunten Mustern bemalten sie die Küchenanrichte. Das Kopfteil an Kandinskys Bett ziert ein buntes Medaillon. Auf einer Kommode zwei Malpaletten mit Ölfarbe: knallig und klar die Farben Kandinskys, eher gedämpft die Farbtöne von Gabriele Münter.

    "In diesen Räumen traf sich um 1910 die künstlerische Avantgarde der Zeit. Bei den Treffen zur Herausgabe des Almanachs "Der Blaue Reiter" waren allerdings nur Männer willkommen: Kandinsky und Franz Marc, August Macke, Heinrich Kampendonk und andere. Die Frauen aber - viele von ihnen selbst bekannte Künstlerinnen - wurden während der Sitzungen weggeschickt."

    Wie Gabriele Münter darauf reagierte, ist nicht überliefert. Vielleicht zog sie sich zurück in ihren Garten. Und der sieht heute wieder so aus wie damals:

    "Gabriele Münter hat immer zwischen dem Motiv und dem fertigen Ölbild immer eine Skizze oder ein Foto gehabt. Und aufgrund dessen, nach den Fotografien, nach ihren Bildern, hat man das so anlegen können. Und sie liebte ja den Klatschmohn sehr, die Sonnenblumen, Klatschmohn ist jetzt schon am Verblühen, das sie auch zitiert hat in ihren Blumenstillleben, die sie ja zum Schluss hier sehr viel gemalt hat auf Postkarten. Man hat hier einen Gemüsegarten, einen Obstgarten. Und Kandinsky liebte das ja auch und hat dann mal erzählt: Ich bin wieder in Murnau und ernte die Erdbeeren, die Stachelbeeren sind reif. Aber die Beziehung war hier schon etwas brüchig gewesen, als sie sich hier niedergelassen haben."

    Die Beziehung ging auseinander, Gabriele Münter blieb. Sie starb 1962 in ihrem Haus in Murnau und liegt auf dem Friedhof bei der St. Nikolaus-Kirche begraben. Vom Schlafzimmer ihres Hauses kann man das Grab auf dem gegenüberliegenden Hügel sehen - und daneben das Schloss. Heute hängt im Schlossmuseum ein Gemälde der Künstlerin direkt an einem Fenster, durch das man die im Bild dargestellte Landschaft sieht. Gabriele Macher vergleicht Natur und Abbild:

    "Murnau liegt ja auf einer Terrassenhöhe, das ist von der Gletscherzeit praktisch bestimmt, vom sogenannten Faltenmolasserücken, und von dieser Terrassenlandschaft aus hat sie auch das Bild - man steht hier am höheren Standpunkt, vorne die Olympiastraße orange gemacht, klar umrissen mit Linien, dann die Wiesen grün, auch ganz klar irdisch, dann die Häuser - und von da aus hat man einen Blick raus dann in die Berge, hinten vielleicht Zugspitze, Heimgarten et cetera, weiß man nicht. Sie zitiert hier nur die klaren Umrissformen. Dazwischen setzt sie die Wolken rein, also eine Stimmung, die sie vermittelt hat, die man, wenn man aus dem Fenster schaut, auch wirklich ab und zu mal sieht."

    Nur ein paar Schritte sind es vom Schloss zum Markt. Das Rathaus mit dem Drachen des Murnauer Wappens, die bunten Giebelhäuser - alles sieht noch fast so aus wie auf den Gemälden von Münter und Kandinsky.

    Schon am Vormittag flanieren Einheimische und Besucher durch die Fußgängerzone und sonnen sich in den Straßencafés. Jenseits der Mariensäule: die Alpensilhouette, schwarz-blau, wie Gabriele Münter sie einmal in ihrem Tagebuch beschrieb. Im Jubiläumsjahr des Blauen Reiters findet man überall Postkarten und Bücher, Tassen und Käppis mit Kunstmotiven. Im Schaufenster eines Trachtengeschäfts hängen sogar zwischen Lederhosen Kopien von Münter- und Kandinsky-Bildern. Und im Café Krönner am Obermarkt gibt es Nougat-Pasteten mit dem Porträt von Gabriele Münter - gestaltet in Siebdruck aus Schokolade.

    Doch Café-Inhaberin Barbara Krönner hat noch mehr zu bieten: Seit zehn Jahren veranstaltet sie unter dem Motto "Kultur im Kaffeehaus" Theateraufführungen, Kabarett und Musikabende. Da hört man dann Jazz mit dem Staffelsee-Quartett oder mit der Sängerin Barbara Mayr aus dem Nachbarort Uffing. Drei- bis viermal im Jahr wird das Café auch zur Galerie. Momentan zeigt Hubert Lang aus Oberammergau seine Hommage an den Blauen Reiter. Dafür hat er - so Barbara Krönner - Bilder von Kandinsky, Münter und Franz Marc mit verschiedenen Farben und Techniken neu interpretiert:

    "Also, hier sehen wir die Kahnfahrt nach Gabriele Münter, das ist jetzt als Aquarell gearbeitet - oder hier drüben als Holzschnitt von Hubert Lang, und das Aquarell zum Beispiel hat ein Schweizer Herr gekauft für die Museumsleiterin in Massachusetts, glaube ich, wo eines der Originale hängt."

    Noch befindet sich ganz Murnau im Blauen-Reiter-Rausch, freut sich an der großen Retrospektive im Schlossmuseum, denkt und fühlt und lebt ganz einfach blau. Barbara Krönner aber schaut auch nach vorne:

    "Ich denke einfach, dass diese Atmosphäre, die Murnau hat, einfach so eine Künstleratmosphäre ist. Der Blaue Reiter ist halt die Vergangenheit und für mich persönlich ist es wichtig, dass man die jetzigen Menschen, die jetzigen Künstler ausstellt und auch ranlässt - und nicht nur Poster aufhängt von den alten Werken. Es geht ja weiter. Es sind ja auch heute Menschen da, die kreativ sind."