"Amalie Kuhn, ja, okay, und Sie haben eine Sterbeurkunde aus Hartheim. In welcher Anstalt war ihre Großtante untergebracht, des wär noch wichtig."
Historikerin Magdalena Peherstorfer betreut die Dokumentationsstelle. Im Auftrag der Angehörigen sucht sie im virtuellen Gedenkbuch Schloss Hartheim nach Spuren von Amalie Kuhn, geboren 1875 in Aschaffenburg.
"Mhh, okay da müsst es in der Opferdatenbank sein, weil Bayern war des Einzugsgebiet von Hartheim. Können wir mal schauen in unserer Opferdatenbank."
Die Sterbeurkunde vermerkt kurz und bündig:
"Die Rentnerin Amalie Kuhn, katholisch, wohnhaft Hartheim bei Linz (Oberdonau) ist am 8. Dezember 1940 um 1 Uhr 30 Minuten verstorben. Todesursache: Arteriosclerose, Herzschlag. Der Standesbeamte. In Vertretung: Staud."
60 Jahre lang lag das vergilbte DIN-A 4 Blatt mit der Nr. 72/94 vergessen im Keller des Aschaffenburger Familienhauses. Bei Aufräumarbeiten entdeckte die Großnichte zufällig eine dicke Akte über Amalie Kuhn: Notariatsurkunden, Briefe, Dokumente - zusammengehalten von verrosteten Klammern in aschgrauen Schnellheftern mit der Beschriftung Firma-Ort-Jahrgang: ein Leben, gelöscht aus dem Familiengedächtnis?
"Es wurde schon drüber gesprochen, aber sehr selten und sehr geheimnisvoll, so würd' ich das ausdrücken. Da drüber ist nie gesprochen worden wo sie und wie sie wirklich ... es ist schon mal erwähnt worden, aber es hat niemand nachgeforscht."
Die ledige Amalie Kuhn wird mit 54 Jahren zwangsentmündigt; die Vormundschaftsakte beschreibt rudimentär Stationen eines aus dem Lot geratenen Lebens. Die jüngste von acht Kindern einer angesehenen Bürgerfamilie gilt als leistungsschwach, eigenwillig und zänkisch. Eine Erbschaft ermöglicht ihr ein Leben als "Privatiere". Mit 28 Jahren macht sie eine Romreise, wo man es ihr nach eigenen Worten "krumm" gemacht habe. Seitdem fällt sie leicht in Erregungszustände, schimpft lauthals zur Nachtzeit, verköstigt Obdachlose und Kinder.
"Also da ist mir nur eine Geschichte in Erinnerung, wo erzählt wurde, dass sie mit dem Kinderwagen auf das Feld gegangen ist wo die Apfelbäume standen und hat Äpfel geerntet, und ist dann durch die Stadt und hat diese Äpfel verkauft. Und das wollten die anderen immer nicht haben. Mehr ist da nicht erzählt worden. Schon, dass sie eine exzentrische Person war, kam da schon ab und zu mal raus, aber genaues nicht."
Elf Jahre verbringt sie in der "Unterfränkischen Heil- und Pflegeanstalt Lohr". Auf einem seltenen Foto dieser Zeit steht sie, vollbepackt mit Paketen und Taschen unter drei kahlen Birken, ein Anflug von Lächeln im schmalen Gesicht mit dem eingefallenen Mund. "Reisefertig" hat sie auf die Rückseite des Fotos geschrieben. Und:
"Wartet nur, bis es etwas wärmer ist, meinem Kleid nach sieht man mirs niemand an, dass ich hier war. Ihr müsst mich nicht für dumm oder verrückt halten, das könnt ihr mit anderen Leuten machen."
Brief und Foto aus dem Jahr 1938 werden aus der Anstalt niemals weggeschickt; die Großnichte entdeckt sie später in der Krankenakte in Berlin. Am 2. Oktober 1940 wird Amalie Kuhn gemeinsam mit 62 Männern und 63 Frauen in die Anstalt Grosschweidnitz bei Löbau in Sachsen verlegt. Auf Anordnung des Reichsverteidigungskommissars aus kriegswirtschaftlichen Gründen, informiert die neue Anstaltsleitung den Vormund und die Angehörigen. Von dort erreicht noch eine Postkarte die Aschaffenburger Verwandten. Amalie Kuhn klagt über Hunger.
"Es gibt die Krankengeschichten in Berlin von den T4-Opfern und von denen haben wir die Datenbank, da kann man dann suchen. Kuhn Amalie, genau, das heißt es gibt die Krankengeschichte in Berlin und sobald dieser Name da in dieser Datenbank auftaucht ist er ganz gesichert ein T4-Opfer."
In ihrer wiedergefundenen Krankenakte aus dem Bestand R 179 Kanzlei des Führers wird vermerkt: Zustand unverändert. Schwachsinniges Wesen, reinlich, zu nichts zu gebrauchen.
Nicht gesichert ist ihr Sterbeort. Im Aktenkonvolut taucht der Erbschaftsteuerbescheid auf, der als Todesort Pirna Sonnenstein angibt. Zudem gehörte die Zwischenanstalt Grosschweidnitz nicht zum Einzugsgebiet der sechshundert Kilometer entfernt gelegenen Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. "Und des is a typischer Fall von Aktenaustausch."
Für weitere Verwirrung sorgt ein Frachtbrief, gestempelt am 1.2.1941 in Linz, der Amalie Kuhns zurückgeschickten Nachlass bestätigt: Eine Schürze, eine Nachtjacke, ein Unterrock, ein Schal, ein Obstmesser. Hartmut Reese, Leiter der Lern- und Gedenkstätte und der Archivar Gerhard Marckhgott stehen vor einem Rätsel. Reese: "Also wenn der Frachtbrief aus Linz ist...", Marckhgott: "Kann ja da abgeschickt sein, ja." Reese: "Dann müssten sie die Sachen erst hierher schicken und dann weiterschicken." Marckhgott: "An sich kein Problem; sie müssen sich vorstellen, dass tausende Krankengeschichten jede Woche herumgeschickt wurden und ob die da ein Packerl Nachlass mitnehmen oder nicht, ist von der Quantität her überhaupt kein Mehraufwand."
Im Fall Amalie Kuhns mussten die Behörden zu drastischen Täuschungsmanövern greifen, da die Familie und der Vormund nach ihrer Verlegung nach Grosschweidnitz heftig interveniert und intensive Nachforschungen betrieben haben.
"Es gibt inzwischen eine Kooperationstabelle, also eine gesamte Opferdatenbank von den Gedenkstätten Hartheim, Sonnenstein, Grafeneck, Bernburg und Hadamar. Und des ist der Sinn von dieser gemeinsamen Datenbank, dass wir genau solche Fälle aufdecken, und dass es ein bisschen durchsichtiger wird, dieser ganze Aktenaustausch. Und genau in dieser Datenbank findet sich die Amalie Kuhn, Geburtsdatum ist ident, Todesort ist Sonnenstein. Ja, ist ganz sicher."
Die Urne mit ihren angeblich sterblichen Überresten wurde 1940 auf Wunsch der Angehörigen auf dem Aschaffenburger Friedhof beigesetzt. Überführt wurde sie per Bahnpost aus Linz - kostenlos, wie das der Sterbeurkunde beigelegte Schreiben vom 8.Dezember 1940 betont. Tatsächlich befinden sich darin fünf Kilogramm Asche und Knochenmehl aus einem Haufen menschlicher Überreste der Opfer von Hartheim.
Historikerin Magdalena Peherstorfer betreut die Dokumentationsstelle. Im Auftrag der Angehörigen sucht sie im virtuellen Gedenkbuch Schloss Hartheim nach Spuren von Amalie Kuhn, geboren 1875 in Aschaffenburg.
"Mhh, okay da müsst es in der Opferdatenbank sein, weil Bayern war des Einzugsgebiet von Hartheim. Können wir mal schauen in unserer Opferdatenbank."
Die Sterbeurkunde vermerkt kurz und bündig:
"Die Rentnerin Amalie Kuhn, katholisch, wohnhaft Hartheim bei Linz (Oberdonau) ist am 8. Dezember 1940 um 1 Uhr 30 Minuten verstorben. Todesursache: Arteriosclerose, Herzschlag. Der Standesbeamte. In Vertretung: Staud."
60 Jahre lang lag das vergilbte DIN-A 4 Blatt mit der Nr. 72/94 vergessen im Keller des Aschaffenburger Familienhauses. Bei Aufräumarbeiten entdeckte die Großnichte zufällig eine dicke Akte über Amalie Kuhn: Notariatsurkunden, Briefe, Dokumente - zusammengehalten von verrosteten Klammern in aschgrauen Schnellheftern mit der Beschriftung Firma-Ort-Jahrgang: ein Leben, gelöscht aus dem Familiengedächtnis?
"Es wurde schon drüber gesprochen, aber sehr selten und sehr geheimnisvoll, so würd' ich das ausdrücken. Da drüber ist nie gesprochen worden wo sie und wie sie wirklich ... es ist schon mal erwähnt worden, aber es hat niemand nachgeforscht."
Die ledige Amalie Kuhn wird mit 54 Jahren zwangsentmündigt; die Vormundschaftsakte beschreibt rudimentär Stationen eines aus dem Lot geratenen Lebens. Die jüngste von acht Kindern einer angesehenen Bürgerfamilie gilt als leistungsschwach, eigenwillig und zänkisch. Eine Erbschaft ermöglicht ihr ein Leben als "Privatiere". Mit 28 Jahren macht sie eine Romreise, wo man es ihr nach eigenen Worten "krumm" gemacht habe. Seitdem fällt sie leicht in Erregungszustände, schimpft lauthals zur Nachtzeit, verköstigt Obdachlose und Kinder.
"Also da ist mir nur eine Geschichte in Erinnerung, wo erzählt wurde, dass sie mit dem Kinderwagen auf das Feld gegangen ist wo die Apfelbäume standen und hat Äpfel geerntet, und ist dann durch die Stadt und hat diese Äpfel verkauft. Und das wollten die anderen immer nicht haben. Mehr ist da nicht erzählt worden. Schon, dass sie eine exzentrische Person war, kam da schon ab und zu mal raus, aber genaues nicht."
Elf Jahre verbringt sie in der "Unterfränkischen Heil- und Pflegeanstalt Lohr". Auf einem seltenen Foto dieser Zeit steht sie, vollbepackt mit Paketen und Taschen unter drei kahlen Birken, ein Anflug von Lächeln im schmalen Gesicht mit dem eingefallenen Mund. "Reisefertig" hat sie auf die Rückseite des Fotos geschrieben. Und:
"Wartet nur, bis es etwas wärmer ist, meinem Kleid nach sieht man mirs niemand an, dass ich hier war. Ihr müsst mich nicht für dumm oder verrückt halten, das könnt ihr mit anderen Leuten machen."
Brief und Foto aus dem Jahr 1938 werden aus der Anstalt niemals weggeschickt; die Großnichte entdeckt sie später in der Krankenakte in Berlin. Am 2. Oktober 1940 wird Amalie Kuhn gemeinsam mit 62 Männern und 63 Frauen in die Anstalt Grosschweidnitz bei Löbau in Sachsen verlegt. Auf Anordnung des Reichsverteidigungskommissars aus kriegswirtschaftlichen Gründen, informiert die neue Anstaltsleitung den Vormund und die Angehörigen. Von dort erreicht noch eine Postkarte die Aschaffenburger Verwandten. Amalie Kuhn klagt über Hunger.
"Es gibt die Krankengeschichten in Berlin von den T4-Opfern und von denen haben wir die Datenbank, da kann man dann suchen. Kuhn Amalie, genau, das heißt es gibt die Krankengeschichte in Berlin und sobald dieser Name da in dieser Datenbank auftaucht ist er ganz gesichert ein T4-Opfer."
In ihrer wiedergefundenen Krankenakte aus dem Bestand R 179 Kanzlei des Führers wird vermerkt: Zustand unverändert. Schwachsinniges Wesen, reinlich, zu nichts zu gebrauchen.
Nicht gesichert ist ihr Sterbeort. Im Aktenkonvolut taucht der Erbschaftsteuerbescheid auf, der als Todesort Pirna Sonnenstein angibt. Zudem gehörte die Zwischenanstalt Grosschweidnitz nicht zum Einzugsgebiet der sechshundert Kilometer entfernt gelegenen Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. "Und des is a typischer Fall von Aktenaustausch."
Für weitere Verwirrung sorgt ein Frachtbrief, gestempelt am 1.2.1941 in Linz, der Amalie Kuhns zurückgeschickten Nachlass bestätigt: Eine Schürze, eine Nachtjacke, ein Unterrock, ein Schal, ein Obstmesser. Hartmut Reese, Leiter der Lern- und Gedenkstätte und der Archivar Gerhard Marckhgott stehen vor einem Rätsel. Reese: "Also wenn der Frachtbrief aus Linz ist...", Marckhgott: "Kann ja da abgeschickt sein, ja." Reese: "Dann müssten sie die Sachen erst hierher schicken und dann weiterschicken." Marckhgott: "An sich kein Problem; sie müssen sich vorstellen, dass tausende Krankengeschichten jede Woche herumgeschickt wurden und ob die da ein Packerl Nachlass mitnehmen oder nicht, ist von der Quantität her überhaupt kein Mehraufwand."
Im Fall Amalie Kuhns mussten die Behörden zu drastischen Täuschungsmanövern greifen, da die Familie und der Vormund nach ihrer Verlegung nach Grosschweidnitz heftig interveniert und intensive Nachforschungen betrieben haben.
"Es gibt inzwischen eine Kooperationstabelle, also eine gesamte Opferdatenbank von den Gedenkstätten Hartheim, Sonnenstein, Grafeneck, Bernburg und Hadamar. Und des ist der Sinn von dieser gemeinsamen Datenbank, dass wir genau solche Fälle aufdecken, und dass es ein bisschen durchsichtiger wird, dieser ganze Aktenaustausch. Und genau in dieser Datenbank findet sich die Amalie Kuhn, Geburtsdatum ist ident, Todesort ist Sonnenstein. Ja, ist ganz sicher."
Die Urne mit ihren angeblich sterblichen Überresten wurde 1940 auf Wunsch der Angehörigen auf dem Aschaffenburger Friedhof beigesetzt. Überführt wurde sie per Bahnpost aus Linz - kostenlos, wie das der Sterbeurkunde beigelegte Schreiben vom 8.Dezember 1940 betont. Tatsächlich befinden sich darin fünf Kilogramm Asche und Knochenmehl aus einem Haufen menschlicher Überreste der Opfer von Hartheim.