Archiv


Auf den Spuren großer Vorbilder

Was John Cage für die Pianistin Grete Sultan war, war Arnold Schönberg für für den Dirigenten René Leibowitz. Zwischen der Begeisterung für alte Meister und die Kunst der Moderne waren beide hin- und hergerissen. So entstand ein großes Repertoire, das nun in zwei CD-Sammelboxen erschienen ist.

Von Frank Kämpfer |
    Im Folgenden geht es um zwei Wegbereiter der Neuen Musik, die bislang womöglich nur Sammler und Liebhaber kennen. Der Moderne verschworen, waren sie zugleich verbunden der Tradition – als Interpreten darf man sie als Jahrhundertgestalten bezeichnen – vergessen waren und sind sie in Deutschland zu Unrecht. Der Musikmarkt hat beide kürzlich posthum mit Sondereditionen geehrt.

    J.S. Bach: Goldberg-Variationen, Nr.10; Grete Sultan, Klavier

    Stefan Wolpe, Form for Piano; Grete Sultan, Klavier

    Bachs Goldberg-Variationen und als Gegenpart die Moderne – so, wenn überhaupt, kannte man sie, so prägt sich ihr Bild. Bach, Schönberg und Cage schienen in ihrem Spiel einander nahe gerückt – aufgeladen mit Intensität, Zeitlosigkeit, Poesie. Grete Sultan am Klavier, das war und ist ein Geheimtipp. Dass sie gegenwärtig ist, dass man sie aber nicht kennt, das resultiert zum einen aus ihrer extremen Biographie, zum anderen aus der mangelnden Dokumentation ihrer Kunst. 1906 in Berlin hineingeboren in eine große, verzweigte Musikerfamilie, erfuhr sie früh eine sehr gründliche Ausbildung. Sie hatte mehr als Talent; Ende der 20er Jahre stand sie am Beginn einer vermutlich großen Karriere. Unerwartet kam 1933 der Bruch. Als Jüdin wurde auch Grete Sultan die freie Berufsausübung unmöglich gemacht; erstaunlicherweise erst Jahre später, buchstäblich in letzter Minute, gelang ihr Ende 1940 die Flucht. Am Zielort New York glaubte sie sich zunächst völlig allein, doch sehr schnell, fast problemlos gelang ihr das Hineinwachsen in die Konzertszene im Osten der USA.

    Richard Buhlig, ihr früherer Lehrer, vermittelte klug – durch ihn geriet Grete Sultan schließlich in den Kreis um Merce Cunningham und John Cage. Christian Wolff gehörte zu ihren Schülern. Und Cage, zu dessen wichtigsten Interpreten sie alsbald gehörte, schrieb die Etudes australes für sie.

    Der beispielhaft gelungene europäisch-amerikanische Brückenschlag in ihrem Leben bestimmte auch Grete Sultans Repertoire. Eine Reihe von Klavierabenden, die sie 1969 in der New Yorker Town Hall gab, stehen dafür: Beethoven, Schubert und Schumann einerseits, Copland und Hovhaness andererseits. Aus diesen legendären Konzerten resultieren die frühesten erhaltenen Tondokumente – John Sadler nahm die Abende auf, Produzent Heiner Stadler fand die Tonbänder Jahrzehnte später bei der greisen Musikerin im Wohnzimmerschrank.

    Alan Hovhaness: Yenovk, Nr. 5: Gamelan; Grete Sultan, Klavier

    Ein bemerkenswertes wie unbekanntes Tondokument: Grete Sultan mit einem Ausschnitt aus Yenovk von Alan Hovhaness. Hovhaness, Sohn armenisch-schottischer Eltern, engagierte sich in den 1930er/1940er Jahren wie auch manch Anderer für die Integration westlicher und östlicher Kulturen – in der Klavierpartita Yenovk verwendet er den Flügel wie ein östliches Instrument: anfangs einen Oud assoziierend, später ein Gamelan-Instrument. Zu dieser Zeit eine bemerkenswerte Komposition!

    Überhaupt ist diese vor einigen Wochen beim Label WERGO erschienene CD-Box mit Aufnahmen von Grete Sultan reich an Überraschungen. Bieten die vier CDs doch nicht weniger als die pianistische Musikgeschichts-Lesart einer ungewöhnlichen Frau am Klavier, die ob ihrer doppelten Nähe zu Bach wie zu Cage, d.h. zur New York School und zum deutschen Barock Horizonte aufreißt. Dass die Modernen den Faden der Tradition durchschneiden wollten, dass man als Emigrant in Amerika ohne Karriere-Chance blieb – Grete Sultans Wirken in den Vereinigten Staaten widerlegt viele Legenden, nicht zuletzt die, nur auf zwei Komponisten fixiert gewesen zu sein.

    Die geradezu opulente Werkeauswahl mit Bach, Beethoven, Schubert, Schumann, Schönberg und der New Yorker Moderne ist indes keine reine Leistung von WERGO; das Mainzer Label hat Aufnahmen des US-Produzenten Heiner Stadler wiederveröffentlicht, remastert von Tonmeister Ingo Schmidt-Lukas. Da kein Jubiläum anstand, bleibt der Anlass der Edition etwas unklar – doch ergänzt die CD-Box die vor Jahresfrist bei Schott Music in Mainz erschienene Sultan-Biographie von Moritz von Bredow nahezu ideal.
    Hier noch ein besonderes Tondokument: Toshi Ichiyanagis In memory of John Cage von 1992 – eingespielt im Jahre 2000 von einer 94-jährigen Grete Sultan:
    Toshi Ichiyanagi: In memory of John Cage; Grete Sultan, Klavier

    Grete Sultan – Piano Seasons. Vier CDs mit historischen Aufnahmen aus den Vereinigten Staaten – soeben erschienen beim Label WERGO in Mainz.

    Auch die andere CD-Edition, die ich Ihnen vorstellen will, hat es in sich: porträtiert doch auch sie eine zu wenig bekannte Jahrhundertfigur, die als Protagonist der Moderne lebenslang am Traditionsbezug arbeitete. Was Cage als Komponist für Grete Sultan darstellte, war Arnold Schönberg womöglich für René Leibowitz. Leibowitz, geboren 1913 in Warschau als Sohn assimilierter jüdischer Eltern, erfuhr Mitte der 1930er Jahre in Paris eine lebensentscheidende Prägung: Er begegnete Erich Itor Kahn und Rudolf Kolisch und begann alsbald dodekaphonisch zu komponieren. Ein dramatisches Lebensjahrzehnt mit Internierung, Flucht, Untergrundarbeit, theoretischen Studien, linkem Engagement und unentwegtem Komponieren und schließlich Begegnung und Bruch mit Arnold Schönberg katapultierte Leibowitz für kurze Zeit an die vorderste Front der Avantgarde-Musik. Als wichtigster Fürsprecher Schönbergs in Frankreich vertrat er die Zwölftonmusik bei den Darmstädter Ferienkursen Ende der 1940er Jahre – von den jungen Serialisten wurde er dort jedoch schnell zur Seite gedrängt.

    Eine bemerkenswerte Komposition rührt aus jener Zeit: Explanation of Metaphors. Das geradezu spritzige, gestenreiche Ensemblestück bündelt Leibowitz‘ Erinnerung an seinen von der Gestapo ermordeten Bruder, seine intensive Beschäftigung mit Anton Webern und ein Weltempfinden des Verschollenseins:

    René Leibowitz: Explanation of Metaphors; Hoelscher, Reichow, Müller, Friedrich, Comparini, Nussbaum

    Soweit Explanation of Metaphors; 1948 von René Leibowitz komponiert. Julie Comparini (Erzählerin), Francoise Friedrich (Harfe), Boris Müller Schlagzeug, Florian Hoelscher und Jan Mark Reichow (Klavier) waren die Ausführenden. Dirigent Walter Nussbaum darf man als Initiator der Aufnahme bezeichnen – seinem Engagement ist es hauptsächlich zu danken, dass zum Jahrhundertjubiläum des Komponisten eine Doppel-CD vorliegt. Ein Highlight darauf: das Violinkonzert mit dem Komponisten am Pult als historische Aufnahme aus dem Funkhaus Hannover. Von den 20 anderen Kompositionen, die gut ein Fünftel von Leibowitz‘ Werkeverzeichnis ausmachen, sind etliche Weltersteinspielungen. Nussbaum produzierte sie mit der Schola Heidelberg und dem aisthesis ensemble in zwei Schüben – Anfang der 1990er Jahre in Baden-Baden und 2004/2006 im Sendesaal des Hessischen Rundfunks.

    Dem Schallplattensammler, der Leibowitz als musikalischen Leiter bemerkenswerter Offenbach-Alben und analytisch-opulenter Beethoven-Sinfonien erinnert, eröffnet sich so ein ganz anderes Bild: Der Einblick in die hauptsächlich zwischen 1958 und 1970 entstandene Klavier- und Kammermusik sowie ins Vokalschaffen zeigt einen Urheber, der lebenslang am Expressionismus von Schönberg, Berg, Webern festhielt, aber zu einer eigenen, verkürzt vielleicht gesagt "französischen" Klanglichkeit fand.

    Ein letztes Musikbeispiel illustriert: die farbreichen, gleichwohl nach innen gekehrten Trois poèmes de Pierre Reverdy von 1971 – Leibowitz‘ vorletzte fertig gestellte Komposition.

    René Leibowitz: Trois poèmes de Pierre Reverdy; van der Poel, Keil, Rave, Hübner, Abele, Jan Marc Reichow

    Soweit René Leibowitz Trois poèmes de Pierre Reverdy – eingespielt mit Truike van der Poel, Carola Keil, Lisa Rave, Sebastian Hübner und Ekkehard Abele sowie Jan Marc Reichow am Flügel. Letzterer verfasste auch das umfassende, leider recht unüberschaubare Booklet. Erschienen ist die Doppel-CD zum einhundertsten Geburtstag des Komponisten beim Baseler Label DIVOX. Zuvor habe ich Ihnen eine 4-CD-Edition mit der Pianistin Grete Sultan vorgestellt, die beim Mainzer Label WERGO erschien. Soweit für heute DIE NEUE PLATTE, ausgewählt von Frank Kämpfer.


    Musik:

    Piano Seasons
    Grete Sultan, Klavier
    CD WERGO Wer 6776 2


    Musique de chambre
    René Leibowitz
    CD DIVOX CDX-21103, LC 1851