Freitag, 19. April 2024

Archiv


Auf den Spuren mittelalterlicher Pilger

Es machen sich immer mehr Pilger auf den Weg: zu Fuß, mit dem Pilgerstock in der Hand und dem Allernötigsten im Rucksack. Die meisten gehen nach Santiago de Compostela im Norden Spaniens. Der andere große Pilgerweg des christlichen Mittelalters, die Via Francigena, wird gerade erst wieder entdeckt.

Eine Sendung von Kathleen Becker, Moderation: Thilo Kößler | 15.04.2006
    Der Frankenweg führt von Canterbury nach Rom über Frankreich – Calais, Reims und Bésancon - über den Großen Sankt Bernhard und durch das Aostatal, über Piacenza im Apennin und Siena in der Toskana. Oft über versteckte Wege und zugewachsene Pfade – denn in Frankreich und in der Schweiz ist der Weg noch nicht wieder so gut erschlossen wie in Großbritannien oder in Italien.

    Die Via Francigena, dieser Pilgerweg vom Norden in den Süden Europas, wäre vermutlich völlig in Vergessenheit geraten, wenn der Europarat sie im Jahre 1994 nicht auf Antrag der italienischen Regierung zur europäischen Kulturstraße erklärt hätte. Mittlerweile gibt es Vereine und Kulturinitiativen und ein insgesamt gewachsenes Bewusstsein für die Bedeutung dieses Weges, an dem weltberühmte Kathedralen, Klöster und Hospize liegen. Die Quelle für die Rekonstruktion des Weges ist seriös: Sie stammt aus dem 10. Jahrhundert. Von Sigeric, dem damaligen Erzbischof von Canterbury.




    Spurensuche im 10. Jahrhundert
    Der ehemalige Erzbischof von Canterbury und die Rekonstruktion des Frankenweges


    Eine flackernde Kerze im östlichen Teil der Kathedrale markiert den Ort, wo Thomas Becket begraben wurde. Der Lordkanzler und Erzbischof von Canterbury wurde im Jahre 1170 von zwei Rittern erschlagen, die im Auftrag Heinrich II. handelten. Mit seinem Beharren auf der unabhängigen Gerichtsbarkeit der Kirche war Thomas Becket dem König unbequem geworden. Bis heute ist die Todesstätte des Märtyrers ein Wallfahrtsziel geblieben. Und Canterbury ist der Ausgangspunkt der Via Francigena.

    Unten, zwischen den niedrigen romanischen Bögen der alten normannischen Krypta, kniet ein Mann, Mitte 60. An seinem Stab und Rucksack ist er leicht als Pilger zu erkennen. Der Pilger betet mit Edward Condry, einem der vier Kanoniker der Kathedrale. Ein stiller, intimer Moment.

    Dann steht Edward Condry auf, lächelt freundlich und konzentriert sich. Thomas Becket, sagt er, das ist vielleicht die tragischste Geschichte, die die Kathedrale von Canterbury zu bieten hat. Die Geschichte seines Vorgängers Sigeric nennt er dagegen ausgesprochen erfreulich: Sigeric war von 989 bis 994 Erzbischof von Canterbury – und ihm verdanken wir die recht genaue Kenntnis des Verlaufs der Via Francigena. Condry zeigt ein jugendliches Lächeln unter einem weißen Haarschopf.

    "Erzbischof Sigeric hatte den etwas unglücklichen Spitznamen 'Sigeric, der Ernsthafte'. So würde ich ja nicht gerne heißen. Jedenfalls: Auch heute noch müssen alle katholischen Erzbischöfe nach Rom reisen, um sich beim Papst ihr pallium abzuholen. So musste auch Sigeric für sein wollenes Schulterband nach Rom – das Zeichen für die erzbischöfliche Würde. Die etwa 70 Orte, die er in seinem Tagebuch der Rückreise verzeichnete, sind die Grundlage für die Via Francigena. Heute wird in Großbritannien der Gedanke der Pilgerreise immer wichtiger, die Metapher der Reise als eine Metapher für den Glauben. Wir sprechen ja oft vom Glaubensweg. Die Pilgerreise wird zum Ausdruck dafür, wie Menschen an wichtigen Punkten ihres Lebens ihren Glauben neu erfahren wollen."

    Ed Condry plant selbst eine Radtour auf der Via Francigena. Zwei Wochen mit 20 Kollegen – und einem Gefolgsbus für Gepäck und Ersatzteile. Am meisten freut sich der sportliche Kanoniker auf die Schussfahrt vom Großen Sankt Bernhard-Pass hinab. An der Via Francigena interessiert Canon Condry am meisten die körperliche Herausforderung und die spirituelle Weggemeinschaft mit den anderen Pilgern. Für ihn ist es eine willkommene Gelegenheit, an der Wiederbelebung der alten Pilgertradition teilzuhaben.

    "Das Pilgern ist lange Zeit vernachlässigt worden. Den reformatorischen, protestantischen Traditionen waren Pilgerfahrten verdächtig. Denn im Mittelalter, vor der Reformation, ging es beim Pilgern immer um Abbitte, Vergebung, oder um Wunder und Heilung. Calvin sagte, eine Pilgerfahrt habe noch keinem das Heil gebracht. Aus der Sicht der Reformatoren waren Pilgerfahrten als religiöse Handlungen irrelevant. Himmlische Gnade erreichte man nicht durch gute Werke, es war ein Gottesgeschenk. Aber ich glaube, zum Ende des 20. Jahrhunderts haben Menschen begonnen, Glauben anders zu interpretieren. Weniger als eine Liste fester Glaubensgrundsätze, Doktrinen oder Kästchen, wo wir unser Häkchen machen müssen, sondern als erlebten Glauben."

    Draußen gibt – über 1000 Jahre nach Sigerics beschwerlicher Reise nach Rom – der Kanoniker Edward Condry dem Pilger seinen Segen mit auf den Frankenweg. Und dazu womöglich noch einen kleinen Scherz. Denn bei den Unwägbarkeiten der kommenden 1900 Kilometer kann englischer Humor eigentlich nur hilfreich sein.

    "Ich muss da allerdings ein bisschen vorsichtig sein. Ich hatte mal eine Pilgergruppe verabschiedet, die fuhren von hier auf der Via Francigena bis nach Reims. Und dann regnete es die ganze Zeit. Da waren sie für meinen Segen natürlich nicht so dankbar. Ich erinnere mich auch an diese italienische Pilgergruppe vor zwei Jahren. Es gibt doch diesen alten keltischen Segen, der fängt so an: 'May the road rise to meet you – 'Möge die Straße dir entgegeneilen.' Und ich merkte plötzlich, dass es sich ins Italienische übersetzt ganz anders anhörte. Wahrscheinlich eher wie 'Möget ihr euch auf dem Asphalt das Gesicht aufscheuern' oder so ähnlich. Da musste ich mir ganz schnell was anderes einfallen lasse."


    1900 Kilometer ist der Frankenweg lang – mehr oder weniger, je nachdem, welche Route der Pilger einschlägt: Denn es gibt nicht nur einen Weg. Es gibt ein ganzes Wegesystem, das sich zwischen den Schlaglöchern der Geschichte herausgebildet hat. Die frühen Pilger des 4. Jahrhunderts konnten noch den intakten alten Römerstraßen folgen und hatten es somit ziemlich leicht mit der Orientierung – zumal sie in ihrer gemeinsamen Sprache, dem Lateinischen, nach dem Weg fragen konnten. Später, zu Zeiten der Völkerwanderung, als Europa in die Barbarei zurückfiel, ging nicht nur das römische Straßennetz unter, sondern auch die gemeinsame Sprache.

    Das machte den Weg nicht nur beschwerlicher, sondern auch gefährlicher. Denn es waren ja nicht nur Gläubige und Kleriker, Könige und Adlige, Bürger und andere ehrliche Menschen unterwegs in den Süden, sondern auch Räuberbanden, Barbaren und Wegelagerer. Und es gab unabsehbare Risiken wie Aufstände und Unruhen, Hungersnöte, Seuchen. Da ließen sich nicht alle Gefahren vorhersehen. Da liefen die Ängste und Sorgen immer mit. Der englische Mönch Gildas, der sich im 6. Jahrhundert auf den Weg nach Rom machte, nimmt sie in sein berühmt gewordenes Pilgergebet auf.

    "Möge ich geschützt sein
    vor Feinden und Räubern, vor allen Piraten
    und Freibeutern dieser Welt.

    Mögen nicht die Wellen des Meeres
    oder mächtige Flüsse oder alle Wasser
    mich gänzlich vernichten


    Möge Christus, mein Führer,
    bezwingen die erbarmungslosen todbringenden Tiere
    der Erde und des Wassers
    bezwingen ewiglich den Ausbruch der Donner,
    bezwingen auch das Gift der Schlangen
    bezwingen die üblen Listen aller Giftmischer dieser Welt:
    Dass keine Gefahr,
    von der ich hier künde,
    Schaden tun möge
    An mir oder meinen Gefährten.

    Gesund möge ich
    Mit meinen Gefährten
    Sicher ankommen
    Ohne Schaden oder Wunde…"

    Im Pilgeralltag des Mittelalters galt die größte Sorge der eigenen Sicherheit – eine gesunde Heimkehr war keinesfalls garantiert. Doch jeder hatte das ferne Ziel vor Augen, die Hoffnung auf Heilung und die Aussicht auf Erlösung: Das Ziel war Rom und das Grab des Apostels Petrus. Dort gab es Ablass für begangene Sünden, die Möglichkeit, sich zumindest für ein paar Jahre vom Fegefeuer freizukaufen. Ein lukratives Geschäft mit der Angst der Menschen, dessen Auswüchse immer stärker in die Kritik gerieten und schließlich zur Reformation führten. Martin Luther jedenfalls hatte überhaupt kein Verständnis für die Pilgerfahrt nach Rom – sein Schweizer Glaubensbruder Zwingli lässt sie gar verbieten.

    Heute ist der Weg das Ziel: Pilgern wird als Selbsterfahrung erlebt. Wer auf die Wallfahrt geht, will sich von den Sorgen und Ängsten des Alltags lösen und sich eine Auszeit nehmen: für den Weg zu sich selbst.



    Auf dem Weg zu sich selbst
    Zwei französische Pilgerinnen und ihre Erfahrungen auf der langen Wanderung


    Licques, ein kleines Städtchen im Département Pas-de-Calais, ist vor allem für seine Geflügelzucht bekannt. Die Angst vor der Vogelgrippe scheint aber noch nicht auf die Dorfbewohner übergegriffen zu haben. Diese spielen im Café neben der ehrwürdigen Abtei fröhlich Karten – und beäugen die beiden Pilgerinnen etwas misstrauisch. An diesem windigen Morgen sitzen Anne-Marie Secondé und Nicole Pomerleau über einem Kaffee und planen die nächste Etappe: 25 Kilometer zur Benediktiner-Abtei von Wisques.

    Anne-Marie Secondé, Ende 50, stammt aus Reims, einer wichtigen Etappe der Via Francigena. Nach einer langen Krankheit, erzählt sie, während der sie sich sehr zurückgezogen hatte, war eine Wallfahrtswanderung auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela Gelegenheit, wieder den Kontakt mit anderen zu finden. Auch heute machen ihr die Schmerzen auf dem Weg ein bisschen zu schaffen. Doch sie beschwert sich nicht. Das Pilgern ist für Anne-Marie Secondé zu einem Seelenzustand, ja sogar zu einem Lebensentwurf geworden.

    "Das Leben führt uns manchmal auf Wege voller Disteln und Dornen, voller Löcher und Wasserpfützen. Und dann kommen aber auch die Sonnenstrahlen. Ich bin mit Leib und Seele Pilgerin. Ich lebe eigentlich nirgends, das heißt, ich lebe da, wo mich meine Füße hintragen. Ich fühle mich wohl auf dem Weg. Eines Tages werde ich mich niederlassen. Wo, wann und wie, das wird sich von selbst ergeben. Heute versuche ich, vollständig offen zu sein und alles so zu nehmen, wie es kommt: die Begegnungen, die Stationen, ein Lächeln, auch die Sorgen natürlich. Gestern haben wir uns im Wald verlaufen, aber so ist das Leben. Wir sind durch dicken Matsch gestapft, so ist das Leben. Wir sind auf einem ausgeschilderten Weg losgegangen und haben auf einem ausgeschilderten Weg aufgehört. Zwischendurch haben wir keine Wegschilder gefunden, und auch das ist das Leben. An einem Tag findet man ein ganzes Leben."

    Kennen gelernt haben sich Anne-Marie und Nicole auf dem Jakobsweg. Eine gewisse Seelenverwandtschaft haben sie bei sich sofort ausgemacht, auch wenn sie unterschiedliche Vorstellungen von Religion und Glauben haben. Nicole Pomerleau, die Kanadierin, folgt einem alternativen, eher buddhistisch angehauchten Religionsbegriff. Die 62-Jährige hat ihr Haus in Québec praktisch aufgegeben. Die Suche nach neuen unentdeckten Pilgerwegen führte Nicole auf die Via Francigena.

    "Bei mir war es so, dass ich auf dem Jakobsweg überhaupt erst einmal das Konzept des Pilgerweges entdeckt habe. Ich habe so wunderbare Menschen getroffen, Menschen auf der Suche, auf ihrem Weg. Mir ist viel Sympathie begegnet, viel Solidarität, eine große Vielfalt. Wie alt man ist, welcher Religion man angehört, alte Vorurteile, all das ist nicht mehr wichtig. Stattdessen entwickelst du Toleranz und Selbstvertrauen. Ich finde das sehr angenehm. Pilgern ist ein großer Kontrast zu unserem täglichen Leben in unseren Städten, zur Arbeit, zum ständigen Wettbewerb. In gewisser Weise ruht man sich der Pilger aus, trotz der Blasen an den Füßen und dem Muskelkater. Der Geist kommt zur Ruhe."

    Der frische Wind treibt dicke Kumulus-Wolken über einen blauen Himmel, mit schönen Farbkontrasten mit der braunen Erde und dem Grün der Felder. Zum Picknick teilen die beiden, was sie haben: Sardinen in Chicoréeblätter gerollt, Vollkornbrot mit Käse und Tee aus der Thermoskanne. Anne-Marie Secondé ist gut für das Wandern ausgerüstet, mit Gore-Tex-Jacke und festen Wanderstiefeln. Um Anne-Maries Hals hängt eine große Kamm-Muschel vom Jakobsweg. Auf ihrem widerspenstigen Haarschopf sitzt ein weißes Woll-Barrett mit verschiedenen Pilgerabzeichen. Das Via-Francigena-Zeichen sind zwei gekreuzte goldene Himmelsschlüssel. Das Barrett hat Anne-Marie vom Jakobsweg mitgebracht, genau wie ihren langen Bambusstab. Der hilft beim Wandern und wehrt auch schon mal aggressive Hunde ab. Das Gebell der Dorfhunde ist normalerweise der erste Willkommensgruß, der Pilgern zuteil wird.

    Am Ortseingang von Wisques halten die beiden Pilgerinnen kurz in der Benediktinerabtei St. Paul. Der Abt gibt ihnen eine kleine Keramikkachel mit einer Pilgermadonna mit auf den Weg. Ein paar hundert Meter weiter bergauf liegt das Tagesziel, das Benediktinerinnen-Kloster Notre Dame de Wisques. Nach 25 Kilometern Wanderung über die Felder wirken die erleuchteten gotischen Fenster der imposanten Abteikirche warm und einladend. 30 Schwestern leben hier in Klausur. Die beiden kommen gerade richtig zum Abendgebet.

    "Die Schwestern haben ein selbstbewusstes, bestimmtes Auftreten. Wenn sie singen, pflegen sie ein gewisses Ritual, einen bestimmten Rhythmus in der lateinischen Liturgie. Es ist alles sehr mittelalterlich, ich fühle mich sofort in diesen Film versetzt 'Der Name der Rose'. Es ist prächtig und gleichzeitig einschüchternd – ich kann kein Latein. Ihr Gesang stimmt mich auf das Gebet ein. Ich muss nicht selbst beten, die Nonnen machen das für mich, und sie machen es auf jeden Fall besser. Ihr Gesang hilft, meine Seele zu erheben."

    Anne-Marie Secondé bedeutet gerade diese Station der Via Francigena sehr viel; eine verstorbene Tante war hier Ordensschwester. Vom Altarraum aus verfolgen Anne-Marie und Nicole in den Gebetsbüchern die Texte mit dem Finger. Wenn die Nonnen sich am Ende in Richtung Altar verneigen und mit wehendem Schleier zur Seite treten, sind sie nur mehr als Silhouetten zu erkennen.

    Am nächsten Morgen beim Frühstück – frisch gebrühter Kaffee, Weißbrot, Konfitüre – zeigt uns Schwester Lucie ihr Fotoalbum.

    "Hier das junge Paar aus Schottland, zwei Theologen mit Diplom der Uni Edinburgh. Sie hatten sich die Via Francigena als Hochzeitsgeschenk gewünscht. Als sie anriefen – 'Können wir heute Nacht bei Ihnen schlafen?' – hatte ich keine Ahnung, dass sie als Pilger kamen. Ich dachte, die kommen aus England, wir müssen was hermachen. Ich bezog also das Bett mit schönen Laken, aber als sie dann in der Abtei ankamen, waren sie von Kopf bis Fuß durchnässt – aber wie! Da habe ich die Laken schnell wieder abgezogen."

    Für Anne-Marie und Nicole ist das Tagesziel heute Amettes, der Geburtsort des Pilgerheiligen Benoit – oder Benedikt – Labre. Der bettelarme Einzelgänger aus dem 18. Jahrhundert pilgerte 30.000 Kilometer quer durch Europa. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die letzte professionelle Pilgerin in den späten 50er Jahren des 20. Jahrhunderts Französin war. Wenn die beiden Pilgerinnen Ende Mai in Rom ankommen, wird Nicole Pomerleau das Flugzeug zurück nach Kanada nehmen. Anne-Marie Secondé wird weitergehen – ihr Endziel heißt Jerusalem. Riskant? Der Glaube rettet, sagt sie.


    Heute streift sich wohl niemand mehr das Büßergewand über oder das Pilgerhemd. Heute tut es der normale Anorak. Feste Schuhe statt Sandalen, Thermosflasche statt Kalebasse. Aber den Pilgerstock tragen viele noch – und das Pilgerzeichen am Revers: Jerusalem hat das Symbol des Palmzweigs, Santiago di Compostela die Jakobsmuschel, die Via Francigena den Petrusschlüssel.

    Auch auf dem Frankenweg gilt das Prinzip der Gastfreundschaft – und die Regel der Benediktiner: "Alle Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus, denn er wird sagen: Ich war fremd und Ihr habt mich aufgenommen."

    So ist die Übernachtung in Kirchen und Klöstern für Pilger bis heute kostenlos. Oft aber reicht der Platz für das Gebot der Gastfreundschaft einfach nicht aus. Schon im Mittelalter waren Kirchen und Klöster immer wieder hoffnungslos überfüllt – und so entstanden entlang der Pilgerwege Schenken, Gasthäuser, Tavernen und Kaschemmen, die allerdings nicht umsonst Quartier boten, dafür aber ein Ambiente, das nicht immer mit den Prinzipien einer frommen Pilgerreise in Einklang zu bringen war.

    "In vieler Hinsicht ist jeder, der heute der neuen Via Francigena folgt, noch ein 'Pionier'. Obwohl die meisten Dorfpriester neugierig, positiv eingestellt und hilfsbereit waren, sind viele Gemeinden einfach nicht für Übernachtungsgäste eingerichtet. Es war seltsam, aber oft war ich bei den prächtigsten Kathedralen und reichsten Gemeinden weit weniger willkommen als bei den winzigsten, verfallenen Dorfkirchen. Nichts ist frustrierender, als nach acht Stunden Wanderung in oft gnadenloser Hitze bei einer beeindruckenden Kirche anzukommen, sich vom freundlich lächelnden Priester die Pilgerdokumente abstempeln zu lassen – und sich dann die Abfuhr zu holen: 'Es ist kein Platz in der Herberge.'"

    Kulturhistorisch ist die Bedeutung der Pilgerwege für Europa genau so hoch einzuschätzen wie die der Handelswege: Sie bildeten ein Netz der Begegnungen – und sorgten für einen immensen kulturellen Austausch zwischen Nord- und Südeuropa: Sie trugen Gedanken und Ideen von einem Ort zum anderen, beeinflussten Gewohnheiten und Lebensstile, veränderten Kleidung, Kirche und Küche. Nicht zu vergessen: der medizinische Fortschritt, der in den Kräutergärten der Klöster heranwuchs.

    Besonders segensreich wirkten die Hospize, die zum Schutz der Pilgermassen an besonders gefährlichen Stellen des Weges errichtet wurden – am San Bernardino zum Beispiel, jenem Pass auf dem Sankt Bernhard, den es auf dem Weg in Richtung Süden zu überwinden galt. Bei Wind und Wetter, Eis und Schnee. Menschen glitten aus und stürzten in die Tiefe. Lawinen gingen ab. Schutz boten die Soldats de la neige – eine eigene militärische Einheit, die erst unter Mussolini wieder aufgelöst wurde. Ein wenig Sicherheit gaben auch die Hunde, die Bernhardiner, die bis heute hier gezüchtet werden.



    Mit der Schnauze im Schnee
    Der Mythos der Bernhardiner auf dem San Bernhardino


    Ein grau-nasser Tag in Martigny im französischsprachigen Kanton Wallis. Seit der Bronzezeit war der Ort eine wichtige Transitstation an der Handelsroute über den Großen Sankt Bernhard. Ein stetiger Schneeregen fällt, in den Straßen wird der Schnee zu Matsch. Gerade an Tagen wie diesen ist die Lawinengefahr sehr hoch. Für Pilger heißt das: Der Weg hoch auf den Großen Sankt Bernhard-Pass ist heute unmöglich. Dafür bietet sich die Gelegenheit, den vielleicht berühmtesten Bewohnern des Passes einen Besuch abzustatten: den Bernhardinern.

    Die Bernhardiner, heute ein Wahrzeichen der Schweiz, stammen wahrscheinlich ursprünglich aus dem assyrischen Reich zwischen Euphrat und Tigris, also im heutigen Irak. Über Griechenland und Italien erreichte die Rasse Mitte des 14. Jahrhunderts die Schweiz, erzählt Betriebsleiterin Jasmine Abarca-Golay, eine dynamische Hundefreundin Anfang 30. Im Juni öffnet ein Museum in Martigny, das ganz den Bernhardinern gewidmet ist.

    "So um 1660, 1670 herum sind die Hunde dann auf dem Großen Sankt Bernhard-Pass angekommen. Man sagt, dass reiche Familien aus dem Kanton Wallis die Hunde den Kanonikern geschenkt haben, um das Hospiz vor Räuberbanden zu schützen. Zu der Zeit trieben sich dort oben eine Menge Räuberbanden herum, es war ein großes Problem. Und so gegen 1700 haben sie wohl gemerkt, dass der Bernhardiner ein Hund ist, der im Schnee zu Hause ist. Man kann sich fragen, wenn man einen so riesigen Hund sieht, wie er sich in den Bergen macht. Aber der Kurzhaar-Bernhardiner vom Hospiz ist nicht zu verwechseln mit der langhaarigen Rasse. Der Kurzhaar-Bernhardiner kann einen Berg hinunter galoppieren, mit Steinen überall, er ist wie eine Gämse. Er weiß genau, wo er seine Pfoten hinsetzen muss und ist sehr gelenkig. Man muss sich keine Sorgen machen, er fällt nicht."

    Der Name Bernhardiner kommt aus dem Althochdeutschen: Bernhard bedeutet der Bärenstarke. Mittlerweile haben leichtere Hunderassen die schweren Bernhardiner bei der Lawinenrettung verdrängt. Für einen 70 Kilo schweren Bernhardiner passen zwei, drei Golden Retriever in den Helikopter. Heute werden die Hunde eigentlich nur noch zur Erhaltung der Rasse gezüchtet.

    Mittagszeit in Martigny, Zeit für die tägliche Körperpflege für Gila, eine acht Monate alte Bernhardinerhündin. Während die Pflegerin das Fell ausbürstet, schnüffelt Gila dem schwarzen Kätzchen hinterher, das ihr zwischen den breiten Pranken umherflitzt. Bernie, Maskottchen des Zuchtbetriebs und Spielkameradin für die Hunde, schlägt dafür mit Genuss ihre Krallen in den Schwanz der Hündin.
    An der Wand des Boxenkorridors hängt eine Schwarz-Weiß-Radierung vom bekanntesten Bernhardiner-Lawinensuchhund, der je gelebt hat. Barry war in den Anfangsjahren des 19. Jahrhunderts am Hospiz aktiv und hat der Zuchtstiftung seinen Namen gegeben. Ein besonders begabtes Exemplar einer hochbegabten Rasse, sagt Jasmine Abarca-Golay.

    "Die Fähigkeit der Bernhardiner, eine Schneise in den Schnee zu schlagen, war immer besonders nützlich. Zudem haben die Hunde einen sehr guten Geruchssinn. Sie wussten, sie spürten immer, wenn etwas passiert war und wenn Menschen in Gefahr waren. Allein Barry zum Beispiel, der berühmte Bernhardiner, hat über 40 Personen gerettet. Barry lebte im Hospiz bei den Chorherren. Wenn er plötzlich merkte, da gibt es ein Problem, trabte er ganz alleine los, fand den Ort, wo die Lawine niedergegangen war, und kam zurück, um die Mönche zu holen. Und dann waren die Hunde in der Lage zu erspüren, wo genau ein Mensch unter dem Schnee begraben lag."

    Von Martigny aus haben Pilger ein paar Stunden Fußmarsch vor sich – es geht hoch nach Bourg St. Pierre. Der kleine Ort, auf über 1600 Metern gelegen und eingehüllt in eine Schneedecke, ist die letzte Station vor dem Col du Grand Saint Bernard. In Bourg St. Pierre übernachtete Erzbischof Sigeric im Jahre 990. Acht Jahrhunderte später überquerte der französische Kaiser Napoleon im Mai 1800 den Pass mit 40.000 Mann für seinen zweiten Italienfeldzug. Heute lockt vor dem verschneiten Dorfeingang die Tankstelle Le Bivouac de Napoleon mit dem letzten Sonderangebot Lindt-Schokolade vor dem Grenzübergang nach Italien.

    Unter der Woche kommt nur noch ein halbes Dutzend Gläubige zur Messe in die Kirche von Bourg St Pierre, die dem heiligen Petrus geweiht ist. Gemeindepriester Alphonse Berthouzoz hat seinen schwarzen Talar und sein fellbesetztes Birett gegen das prächtige violette Messgewand der Fastenzeit eingetauscht.

    Der Pilgerschlaf im rustikalen Bett, bewacht von Bildern der Maria der Unbefleckten Empfängnis und der karmelitischen Mystikerin Thérèse von Liseux, ist sehr geruhsam. Und am Morgen winkt ein gemütliches Frühstück.

    Der Priester empfiehlt, einen großen Löffel Honig in den Kaffee zu rühren, und nimmt den riesigen Kirchenschlüssel vom Haken, um die Heizung in seiner Kirche anzuwerfen. Alphonse Berthouzoz trat 1943 mit 21 Jahren oben auf dem Sankt-Bernhard-Pass in den Orden ein. Heute ist er 84 und schwerhörig. Doch den Pass, fast 2500 Meter hoch gelegen, besucht der rüstige Kirchenmann jeden Winter.

    "26 Jahre habe ich auf dem Großen Sankt Bernhard verbracht, 26 Jahre im Hospiz. Da oben fährt man acht Monate lang Ski. Manchmal schon ab Oktober, aber auf jeden Fall von November bis Juni, Juli. Ich erinnere mich an ein Jahr, da bin ich elf Monate lang Ski gefahren."

    Ein jüngerer Glaubensbruder vom Hospiz kommt aus dem Tal hoch, um seine Post abholen. Chorherr Yvon Kull, ein Mann mit ruhiger Ausstrahlung, trägt ein dunkelblaues Sweatshirt statt das beige Mönchsgewand der Augustiner. Oben auf dem Pass wartet seine Lawinenhündin Justy auf ihn, ein Golden Retriever. Von ferne ist alle 20 Minuten ein bedrohliches dumpfes Geräusch zu hören: immer wieder gehen irgendwo Lawinen ab. Nach über 20 Jahren auf dem Pass zollt Yvon Kull dem Berg Respekt.

    "Es ist jetzt auf den Tag genau 15 Jahre her, dass dort oben eine Lawine abging, unter der sieben Menschen starben. Eine Gruppe von 13 Leuten war auf einem kleinen Weg über dem Hospiz unterwegs, als eine mächtige Lawine sie verschüttete. Der 13. hat es zurück zum Hospiz geschafft und konnte Alarm auslösen. Wir sind also auf Skiern hochgestiegen, zwei andere Kanoniker und ich, mit meinem ersten Lawinenhund, einem belgischen Schäferhund. Wir kamen hin und sahen zwei junge Leute, deren Kopf aus dem Schnee ragte. Sie waren am Leben, wie auch einer unserer Mitbrüder, der bei ihnen war. Von den zehn anderen sah man nichts; wir mussten sie suchen und freischaufeln. Wir fanden drei andere, die im Schnee begraben waren, aber lebten. Doch als wir höher stiegen und der Schnee tiefer wurde, fanden wir die Toten, einen nach dem anderen, sieben insgesamt. Das war schon tragisch."


    "Immer noch die Po-Ebene, die Straße ist zum Verzweifeln flach, die Hitze erdrückend. Reisfelder, Reisfelder, Reisfelder… - wo wächst denn hier bitte die Pasta?

    In Orio Litta mache ich Station und werde sehr freundlich von einem Mitglied des Verbandes Via Francigena aufgenommen. Er ist auch Radfahrer, und so driftet unsere Konversation weniger zu großen Gedanken kultureller oder spiritueller Natur, sondern zur Tour de France! …

    26. Juli

    Ich treffe zwei spanische Pilger, die von Paris aus losgewandert sind in Richtung in Rom. Wir unterhalten uns ein bisschen im Schatten, halb auf spanisch, halb auf italienisch. Beide sind dürr wie Bohnenstangen. Sie wandert in einem langen Kleid mit langen Ärmeln, er in einem schwarzen Anzug mit römischem Kragen. Es sind vierzig Grad im Schatten."

    Die Poebene in Norditalien ist bestimmt nicht die landschaftlich reizvollste Etappe auf der Via Francigena – Industrieanlagen, Fabriken, Firmengelände. Dazwischen die endlosen Nutzflächen der italienischen Agrarindustrie. Bei einem Tagespensum von 20 bis 30 Kilometern werden den Pilgern, die hier zu Fuß unterwegs sind, viel Geduld und Ausdauer abverlangt.

    Doch selbst in dieser fußgängerfeindlichen Asphaltlandschaft gibt es noch Möglichkeiten, in die 2000-jährige Geschichte dieses Pilgerweges einzutauchen - in der kleinen Abteikirche von San Albino zum Beispiel. Sie zählt zwar nicht zu den großen Kunstschätzen am Rand des Frankenweges. Aber sie vermittelt Einblicke in den jahrhundertealten Volksglauben, der zur Via Francigena gehört wie all die Kirchen, Klöster, Kathedralen. Rechts und links der Pilgerstraßen war immer Platz für Mythen und Legenden. In San Albino zum Beispiel sind Amico und Ameglio begraben, zwei unzertrennliche Freunde, die als Soldaten Karls des Großen 773 in der Schlacht gegen die Langobarden getötet wurden. Getrennt aufgebahrt sollten sie auch getrennt bestattet werden. Doch daraus wurde nichts: Zur Beerdigung lagen die beiden Toten auf wundersame Weise wieder dicht an dicht in San Albino – und gingen als "Wunder der Liebe" in die Pilgergeschichte ein.



    Amico und Ameglio – im Tode vereint
    Mythen und Legenden am Rande der Pilgerstraße


    Südlich von Mailand verläuft die Via Francigena zwischen den weiten Reisfeldern der Lomellina, flankiert von Pappeln und Weiden. Links und rechts des Weges setzen Saatkrähen zum Sturzflug auf die Reisfelder an. Nach 18 Kilometern auf der Landstraße bis Mortara ist der schiefe rote Ziegelturm der Abteikirche San Albino ein höchst willkommener Anblick. San Albino liegt etwas außerhalb Mortaras, nahe der Autobahn und einem Industriegebiet. Zwei Ratten kreuzen den Weg. Vielleicht sind sie ja Glücksbringer.

    Gemeindepriester Don Agostino Nunzio kehrt gerade von einer Hochzeit zurück. Don Nunzio und sein Küster Tino gelten als besonders gastfreundlich. Der Küster bezieht gleich ein Klappbett, bietet einen Wäscheständer zum Trocknen der Wechselwäsche an und einen Käsetoast in seiner Apartments-Küche.

    Nebenan in der Kirche birgt ein kleiner Holzsarg, hinter einem Gitter in die Wand eingelassen, die Gebeine der Volksheiligen Amico und Ameglio aus dem Jahre 773. Keinesfalls handele es sich hier nur um eine fromme Legende, meint Gemeindepriester Don Nunzio. Die Knochen seien mittels der Radiokarbon-Methode datiert worden. Die sterblichen Überreste der Soldaten Karls des Großen, die auch der Tod nicht trennen konnte, begründeten den Ruhm von San Albino.

    "So begannen also die Pilgerfahrten auf dieser Straße, der Via Francisc”, wie sie damals noch genannt wurde, von Canterbury nach Rom. Heute nennen wir sie Via Francigena. Vor allem Pilger aus Frankreich, aber auch aus anderen europäischen Ländern machten gern in diesem Kloster Station und hielten Andacht an den Gebeinen von Amico und Ameglio. Die beiden waren zu Volksheiligen geworden. Hier in San Albino fanden die Pilger aber immer auch die Pflege, die sie brauchten. Einer war vielleicht verletzt, ein anderer war krank, wieder ein anderer brauchte einfach nur Ruhe. Die Mönche kümmerten sich um sie. Und wer an den auf der Reise erlittenen Verletzungen oder Krankheiten starb, wurde hinter der Kirche begraben, auf dem gleichen Friedhof wie die Mönche."


    Im Mittelalter war eine Pilgerfahrt ziemlich gefährlich, und so machten auch alle Pilger vor der Abreise ihr Testament. Heute sind die Augustinermönche von San Albino nicht mehr da. Doch immer noch reiben sich heutige Pilger dankbar die spezielle Kampfersalbe des Küsters von San Albino auf das schmerzende Knie und beten unter den schönen Fresken für Erlösung vom Martyrium der langen Asphaltstraße. Hier finden sich die großen Pilgerheiligen: Antonius von Padua und natürlich San Giacopo, Jakobus. Unterhalb ihrer Fresken zeigt Don Nunzio auf eingeritzte Zeichen in der Wand.
    "Hier auf dieser alten Ziegelwand aus der Zeit um die Jahrtausendwende finden wir Signaturen mit Datum. Die Pilger, die hier Halt machten, ritzten mit einem Nagel oder was sie eben dabei hatten, ihren Namen und das Jahr ihrer Pilgerreise in den Stein. Hier haben wir das Jahr 1300, hier das Jahr 1235. Und da ganz oben ist unsere älteste Inschrift aus dem Jahre 1100."

    Don Nunzio, auch er so ein sympathischer Kirchenmann mit väterlichem Habitus, wie man sie entlang des Frankenweges öfter findet, unterhält sich gern mit den Pilgern. Diese erzählen ihm von ihrem Weg und von den Gründen, sich auf diese beschwerliche Reise zu machen.

    "Viele machen den Weg als Gelübde. Ich hatte einen jungen spanischen Polizisten hier, der hatte erst den Jakobsweg gemacht und sich dann in die Francigena eingeklinkt. Sein jüngerer Bruder war nach Jahren der Drogenabhängigkeit von der Sucht losgekommen. Um Gott für die Rettung seines Bruders zu danken, begab sich der junge Mann auf diesen langen Pilgerweg."

    Der italienische Pilgerweg führt weiter durch die Emilia Romagna in die Toskana. Hier geben Tafeln an Hauswänden und verfallenden Kapellen den Pilgern immer noch Hinweise auf das Ablassversprechen der Vergangenheit. Unter einem Marienbild an einer Hauswand ist zu lesen, dass es für fünf Ave Maria 40 Tage Ablass, indulgenza, gab. Die Stadtmauer von Lucca steht im Guinness-Buch der Rekorde, weil sie über vier Kilometer lang ist. Doch schon Mitte des 12. Jahrhunderts übte die Stadt einen besonderen Reiz auf Pilger aus. So vermerkt der isländische Abt Nikulaus Munkathvera in seinem Pilgertagebuch die Existenz einer Schenke in Lucca, gegründet vom dänischen König. Hier werde Personen nordischer Sprache so viel Wein ausgeschenkt, wie sie nur trinken könnten.

    Im kleinen Städtchen Altopascio, knapp 20 Kilometer weiter südlich, ist Markttag. Vom Kapitell des Doms blickt ein Relief des heiligen Jakobus mit weit aufgerissenen Augen auf das Gewühl hinunter. Auf einer Bank im Seitenschiff von Sant’ Iacopo ruht sich die englische Malerin Jannina Veit Teuten einen Moment aus. Der Glockenturm, erzählt sie, bot früheren Pilgergenerationen einen wichtigen Orientierungspunkt.

    "Weil Altopascio mitten in einem Sumpfgebiet lag, konnte man sich nach Anbruch der Dunkelheit leicht verirren. Der Glockenturm der Stadt war für die Zeit sehr hoch. Er war weit über das Marschland zu sehen. Das ist auch heute noch so, auch wenn jetzt hier ganz nah die Autobahn vorbeiführt. Und die Glocke La Smarrita für die Verirrten, läutet jeden Abend bei Anbruch der Dämmerung, so dass Leute den Weg in die Stadt finden können, indem sie dem Läuten nachgehen."

    Seit über 35 Jahren schon lebt Jannina Veit Teuten in der Toskana. Die Via Francigena ist ihre Leidenschaft. Für eine Wanderausstellung im Heiligen Jahr 2000 stellte sie über 100 Aquarelle entlang der Via Francigena aus. Eine der Stationen der Ausstellungen war Altopascio.

    "In dem Hospiz von Altopascio bekamen Pilger jetons, kleine Märkchen aus Metall, für eine Mahlzeit mit Wein und Fleisch oder mit Brot und Wasser, je nach sozialem Status. Die Pilger blieben normalerweise nur eine Nacht. Doch wenn sie krank waren – und nach dem langen Marsch von den Hügeln hinab, durch die Wälder und Sümpfe kam das oft vor – durften sie drei Nächte bleiben. Die Ordensbrüder gaben den Pilgern frisches Brot und sauberes Trinkwasser. In den meisten Fällen reichte das aus, um sie in dieser kurzen Zeit wieder auf die Beine zu stellen. Das sagt natürlich einiges über die Nahrung, die die Pilger anderswo bekommen hatten, bevor sie hier ankamen."


    Die alten christlichen Pilgerwege werden wiederentdeckt – Pilgerreisen haben auch im 21. Jahrhundert Zukunft: Das biblische Jerusalem gilt immer noch als die Pilgerstätte mit der größten spirituellen Ausstrahlung. Eine magische Anziehungskraft hat aber auch wieder das spanische Santiago di Compostela – vielleicht, weil die Pilger diesen Weg erst vor 20 Jahren wieder für sich entdeckten, als die Spanier die Last der Franco-Diktatur abschüttelten. Bei der Via Francigena mussten die Europäische Union und italienische Tourismusbehörden ein bisschen nachhelfen, um den Weg wieder bekannt zu machen – als Pilgerweg, der schon den englischen Mönch Gildas im 6. Jahrhundert nach Rom geführt hatte.
    "Mögen meine Wege offen vor mir liegen
    Ob ich ersteige zerklüftete Bergeshöhen
    Oder hinabziehe in die hohlen Tiefen der Täler
    Oder mich schleppe über endlose Strassen im offenen Land
    Oder mich kämpfe durch das Dickicht dunkler Wälder:

    Möge ich immer schreiten
    Aufrecht und strahlend
    Hin zu den ersehnten Orten"


    Am Ende führen wieder alle Wege nach Rom: Petersplatz, Petersdom, Petrusgrab und Sitz des Papstes. Seit dem 12. Jahrhundert erwartet den Rom-Pilger ein ausführliches Besichtigungsprogramm – seither gibt es Reiseführer für all die Sehenswürdigkeiten, die ein Wallfahrer einfach gesehen haben muss: Sankt Peter, San Paolo, San Lorenzo, Santa Maria Maggiore, San Giovanni und alle Wunder Roms auf allen sieben Hügeln.

    In Rom ist zwar das Ziel dieser Pilgerreise erreicht – zu Ende ist sie aber genau genommen nicht. Denn Rom ist nur der halbe Weg. Jetzt geht es eigentlich wieder zurück – über Siena und Piacenza, über den Sankt Bernhardino, durch die Schweiz und Frankreich und über den Ärmelkanal zurück nach Canterbury. Aber das machen die Wenigsten.



    Im Pilgerbüro zu Rom
    Die Summe der Erfahrungen


    Ein Hauch von Volksfeststimmung weht über den Petersplatz. Nach der Generalaudienz Papst Benedikts vom Balkon des Petersdoms reden Menschen aller Sprachen und Nationen durcheinander. Ein Franziskanermönch mit umgehängtem Laptop schlängelt sich zwischen Berninis Säulengängen hindurch. Drei Nonnen in königsblauem Habit und langen Schleiern witzeln zwischen eisschleckenden Römern in raffiniert geschnittenen Mänteln. Tourgruppen aus aller Welt – Amerikaner mit gelben Baseballkappen, Italiener mit leuchtend orangefarbenen Schals – folgen den hochgehaltenen Schirmen und Fähnchen ihrer Reiseleiter.

    Im Pilgerbüro des Vatikan hinter der Porta del Perugino ist vom hektischen Touristentrubel nichts mehr zu spüren. Hier empfängt Priester Don Bruno Vercesi die Frankenwegspilger aus aller Herren Länder. Wer vorweisen kann, zumindest die 130 Kilometer von Acquapendente zu Fuß zurückgelegt zu haben, erhält von dem freundlichen norditalienischen Priester mit dem drahtig aufspringenden schwarzen Haar das Pilgerzertifikat mit Stempel. Besonders ein Pilger aus Danzig ist Don Bruno in Erinnerung geblieben. Er hatte eine leitende Stellung bei einer europäischen Bank aufgegeben, um auf der Via Francigena nach Rom zu wandern.

    "Der Pilgerweg dieses Mannes war sehr hart. Er war dem hohen Schnee der Alpen ausgesetzt, dann der fürchterlichen Hitze der Po-Ebene. Doch dieser Pilger bewältigte seinen Weg mit großem Engagement. Einmal, so erzählte er mir, hielt er an. Es war Abend und er hatte noch keinen Ort gefunden, wo er um Unterkunft hätte bitten können. So fing er also an, am Straßenrand sein Zelt aufzustellen. Der Himmel wurde rabenschwarz, es braute sich ein Sturm zusammen. Leute fuhren vorbei und sahen ihn da mit seinem Zelt. Sie luden ihn ein, mit ihnen nach Hause zu kommen und dort zu übernachten. Der Pilger antwortete: 'Schönen Dank, aber ich bin zu Fuß unterwegs; ich schlafe gern hier.' Die Leute insistierten: 'Komm, wir bringen Dich auch am nächsten Tag wieder hier raus, dann kannst du deinen Weg fortsetzen.' Aber er lehnte ab: 'Nein, vielen Dank, aber dies ist mein Weg.'"

    Heute gönnen sich die Pilger der Neuzeit am Ende ihrer Reise oft noch ein paar Tage Erholung und Sightseeing. Als Sigeric, Erzbischof von Canterbury, im Jahre 990 die Stadt erreicht, besucht er in zwei Tagen sage und schreibe 23 Kirchen. 20 von ihnen sind heute noch zu besichtigen. Zwischendurch holt sich Sigeric noch bei Papst Johannes XV. in der Basilika San Giovanni in Laterano sein pallium ab. Das Schulterband aus der Wolle päpstlich gesegneter Lämmer, Zeichen des Bandes zwischen Papst und Erzbischöfen, war ja der Grund für die lange Reise gewesen. Und schon am übernächsten Tag, so ist es überliefert, macht sich Sigeric wieder auf den Rückweg nach Canterbury.

    Nach einem ersten Willkommen führt Don Bruno die Pilger hinunter in die vatikanischen Grotten – vorbei an den Marmorstatuen der Apostel aus der originalen Basilika, die Kaiser Konstantin errichten ließ, um die Grabstätte Petri zu schützen. In der Klementinischen Kapelle bittet Don Bruno, auf einer der dunklen Holzbänke Platz zu nehmen, das prächtige Sternengewölbe im Blick. Seit zehn Jahren begrüßt Don Bruno Vercesi jetzt schon Pilger im Vatikan. In dieser Zeit hat auch er selbst viel gelernt, sagt er.

    "Ich habe gelernt, dass Wallfahrt so etwas wie der Spiegel des Lebens ist, nicht wahr? So etwas wie die Synthese unserer Existenz. Der Pilgerweg bringt uns auf den Weg zu einem Ziel, das wir selbst noch nicht so gut erkennen, das aber auf dem Weg heranreift. Wie das Leben auch konfrontiert er uns mit Schwierigkeiten, aber auch mit Trost, mit Zurückweisung, aber auch mit unerwartetem Willkommen. Der Pilgerweg lässt uns erfahren, dass wir nicht allein sind in diesem Leben."