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Auf den Spuren von Immanuel Kant

Mein ganzes Buch ist im Grunde genommen, ich nenne das die Definitivbestimmung des Friedens. Und es ist dann auch in der Folge genauso wie Kant strukturiert: Kant hat Zusätze geschrieben zum "Ewigen Frieden" und hat Anhänge geschrieben. Ich habe auch zwei Zusätze und habe auch einige Anhänge in diesem Buch geschrieben, ist also in der Struktur völlig dem Kant folgend, aber es ist keine Kant-Interpretation und keine Kant-Exegese mit keiner einzelnen Zeile.

Von Steffen Graefe |
    Dieter Senghaas, ein Veteran der westdeutschen Friedensforschung, stellt so sein jüngstes Werk vor.

    Im Unterschied zu Jürgen Habermas, der in einer vor kurzem erschienenen Essaysammlung das Problem des Weltfriedens im Hinblick auf eine mögliche Spaltung des Westens nach dem Irakkrieg untersucht und sich dabei vornehmlich mit der Frage beschäftigt, wie und ob man heute - 200 Jahre nach Kant - "politische Macht normativ zähmen" könnte, hält es der Bremer Friedensforscher Dieter Senghaas zunächst einmal für notwendig, die weltpolitische Konstellation von Erster bis Vierter Welt gründlich zu analysieren. Die Menschenrechtsdeklarationen der Vereinten Nationen von 1948 und spätere ähnliche Verlautbarungen hätten zwar einen historisch unvergleichbaren weltweiten Konsens über grundlegende Werte geschaffen, allerdings sei der Vollzug dieser Rechtsnomen noch weitgehend den souveränen Staaten anvertraut und könne nicht weltweit eingeklagt werden. Selbst wenn ein Internationaler Gerichtshof solche Normen später einmal wird durchsetzen können, sei damit alleine noch keine internationale Friedensordnung gewährleistet. Diese müsse sich am europäischen Modell orientieren, denn in Europa sei ein hoher Grad an internationaler Vernetzung von symmetrischen Interdependenzen entstanden, die ein für jede internationale Friedensordnung beispielhaftes Gleichgewicht etabliert habe. Jenseits der aktuellen transatlantischen Konflikte, so Senghaas, wirke innerhalb der sogenannten Ersten Welt - Europa, Nordamerika und Japan - das Gleichgewicht eines kriegerische Konflikte ausschaltenden zivilisatorischen Hexagon. Mit diesem Modell beschreibt Senghaas sechs in sich verflochtene Rahmenbedingungen für einen zwischenstaatlichen Frieden, der auch auf andere Staaten ausstrahlen könne.

    Dazu zählt er das staatliche Gewaltmonopol, einklagbare rechtsstaatliche Verfahren, eine Affektkontrolle der gesellschaftlichen Gruppen, Partizipationsrechte der Bürger, anhaltende Bemühungen um soziale Gerechtigkeit und die Schaffung eines "öffentlichen Raums für die Artikulation von Identitäten und den Ausgleich von unterschiedlichen Interessen", also eine nur durch intensive Bildungsprozesse zu etablierende "Kultur konstruktiver Konfliktverarbeitung".

    Ein Weltfriede - so Senghaas - könne nur durch eine Übertragung dieses Modells auf andere Weltregionen erreicht werden - durch Schaffung ähnlicher zwischenstaatlicher Verflechtungen weltweit ohne hierarchisches oder asymmetrisches Gefälle.

    Als ich begonnen hatte zu studieren in den sechziger Jahren, sagte man: Die Differenz liegt zwischen den fortgeschrittenen und den rückständigsten Ländern bei 1:30. Heute liegt das bei 1:70, es gibt jetzt Daten: 1:90, d.h. die Kluft wächst.

    Senghaas unterscheidet in der Welt vier große Blöcke. Da ist zunächst, wie erwähnt, die so genannte Erste Welt. Die zweite Welt - Ostasien - habe zur Ersten industriellen Welt aufgeschlossen und eine nahezu vergleichbare politische Stabilität erreicht. Der ökonomische Aufschwung habe dort zu entsprechenden kulturellen Veränderungen und auch zu Demokratisierungsprozessen geführt, die Bedingungen für eine stabile innere Friedensordnung seien. Senghaas nennt als Beispiele Japan und Taiwan und bewertet auch den Demokratisierungsprozess in China optimistisch. Zur Dritten Welt zählt Senghaas Länder, die in ihren Gesellschaften tiefe Brüche aufweisen wie Indien oder Brasilien oder der gesamte Arabische Raum. Dieser Teil der Welt zeichne sich durch eine Spaltung zwischen westlich orientierten ökonomischen und kulturellen Eliten auf der einen und den ökonomisch unterentwickelten Massen auf der anderen Seite aus. Jenseits dieser gespaltenen Länder sieht der Friedensforscher Regionen, deren Probleme noch wesentlich bedrohlicher sind.

    Die vierte Welt, das ist eine Welt, die in sich völlig zerbricht, wo wir die einfachsten Rahmenbedingungen der Zivilisation - nämlich staatliche Gebilde mit einem Gewaltmonopol mit innerer Sicherheit - nicht mehr haben..., wie wir das in Somalia, im Kongo, in Liberia und an vielen anderen Stellen beobachten, ...wo die Kriegsherren, die sich wechselseitig bekämpfen, das Sagen haben, also ähnlich wie bei uns im Dreißigjährigen Krieg. Und die sich ernähren durch interessanterweise - man nennt das die "Schattenglobalisierung" - d.h. durch Diamanten, Edelhölzer, durch Geiselnahme und alle möglichen Dinge, ...wie die Kriegsherren im Dreißigjährigen Krieg...

    In seinem Buch lotet Senghaas die Bedingungen aus für eine mögliche künftige Friedensordnung zwischen diesen vier Teilbereichen der Welt. Der Terrorismus habe gezeigt, dass auch die den Weltmarkt beherrrschenden OECD-Staaten im hohen Grade durch politische Instabilität in den anderen Teilen der Welt gefährdet sind. Es müsse also im Interesse auch der Ersten Welt sein, durch überstaatliche Rahmengesetze den unterentwickelten Regionen der Welt eine Möglichkeit zur nachholenden ökonomische Entwicklung zu bieten.

    Prinzipiell besteht kein Anlass zu Pessimismus, denn es hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt in den letzten 250 Jahren, dass es die Möglichkeit gibt, aus dieser Zerklüftung, aus diesem Gefälle, das es in der Welt gibt, herauszukommen durch eigene Anstrengungen. Faktisch ist es natürlich so, dass die Eliten in der Dritten Welt glauben, indem sie sich unmittelbar anschließen an unsere Welt, dass sie dadurch am leichtesten den Anschluss auch schaffen. Das ist der Irrtum. Nun sagt man: Ostasien hat es auch geschafft. Ostasien hat aber einen Trick gehabt, und das ist auch der Trick, den die europäischen Länder früher gegenüber England gehabt haben. Sie haben auf einer Dimension, nämlich auf der Dimension des Exports, haben sie versucht, Waren abzusetzen günstig auf unseren Märkten, die sie kostengünstig, aber mit hoher Qualität produziert haben. Aber auf der anderen Seite waren sie ganz protektionistisch nach Innen, hatten die Idee: Wir müssen das, was wir international erwirtschaften, nutzen, nicht um immer dasselbe zu exportieren, dann sind sie nämlich Monokulturen, sondern um unsere eigene Basis in jedweder Hinsicht zu diversifizieren, also aufzufächern. Und das ist ihnen gelungen, das ist ihnen aber nur deshalb gelungen, weil es eine staatliche Politik gegeben hat, eine Industriepolitik, die genau dieses Ziel ... angestrebt hat. Also man integriert sich zum Teil, aber man dissoziiert sich in anderer Hinsicht, um zu diversifizieren, um in einer dritten Phase dann breit integriert zu sein.

    Das ist schön gesagt und optimistisch gedacht. Aber wie angesichts nahezu schrankenloser neoliberalistischer Globalisierung heute solche Diversifizierungsstrategien realisiert werden können, das vermag auch Dieter Senghaas nicht zu sagen.

    Dieter Senghaas: Zum irdischen Frieden
    Edition Suhrkamp Frankfurt 2004, 301 Seiten, 11 Euro