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Auf den Spuren von Nils Holgersson

Die "Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson", der Kinderbuch-Klassiker von Selma Lagerlöf, führt durch ganz Schweden: in die Wälder des Landes, in denen Wölfe hausen, und die Kupfer-Minien von Falun, die den Aufschwung Schwedens begründeten. Heute sind die Minen zum Museum geworden und wer sich auf die Spuren Nils Holgerssons begibt, entdeckt jenseits des gemütlichen, naturromantischen Klischees ein neues Land.

Mit Reportagen von Marc-Christoph Wagner, Moderation: Bettina Nutz |
    Eine Literaturwissenschaftlerin über einen Klassiker der Weltliteratur und seine Wirkung auf das traditionelle schwedische Selbstverständnis:

    "Am Beginn des Buches ist Nils Holgersson ein fürchterlich bösartiger Mensch. Am Ende der Geschichte wird er in dem Moment wieder zum Menschen, in dem er sein Leben für die Gans Martin opfern möchte, da hat er seinen Reifetest bestanden. Die Solidarität ist ein zentraler Punkt - für Selma Lagerlöf und Nils Holgersson und auch für die schwedische Gesellschaft."

    Und eine Schriftstellerin über die Brüche in Schwedens moderner Gesellschaft:

    "Die ältere Generation hat in erster Linie in kollektiven Bahnen gedacht. Meine Generation aber denkt zunächst an sich selbst und wie man selbst vorankommt. Das Gemeinschaftliche geht verloren, im Guten wie im Schlechten. Vielleicht führt das zu einer neuen Dynamik, aber viele Menschen werden daran zugrunde gehen."

    Auf den Spuren von Nils Holgersson: Schweden zwischen Volksheim und Globalisierung. Eine Sendung von Marc-Christoph Wagner. Am Mikrofon begrüßt Sie Bettina Nutz.

    Wie wird man zu einem Menschen?
    Schweden im Jahr 2007: Schweden, das nach über sechs Jahrzehnten Sozialdemokratie von den Konservativen regiert wird. Sie haben inzwischen die Verantwortung für das gemeinsame "Volksheim" übernommen. Das berühmte schwedische Modell. Die Metapher für den ökonomisch starken Wohlfahrtsstaat. Er gehört zu Schweden wie Ikea und Knäckebrot. Wie die Schären und Nils Holgersson. Die Segnungen des "Volksheims", die konsequente soziale Absicherung, sie wird nach und nach gelockert. Man will renovieren ohne allerdings das Gebäude zum Einsturz kommen zu lassen. Eine große Herausforderung.

    Schwedens Weg ins 21. Jahrhundert scheint inzwischen so ungewiss wie die unfreiwillige Reise des kleinen Nils auf dem Rücken von Wildgänsen. Ein Klassiker, der in dieser Zeit hochaktuelle Züge trägt.


    Die erste Spur führt nach Marbacka, im Südwesten Schwedens. Dort steht ein Haus, das selbst bei Regenwetter aussieht wie die vornehme Version des Volksheimes. Ein repräsentativer Landsitz, einst der Ort, an dem die erste Literaturnobelpreisträgerin lebte und schrieb: Selma Lagerlöf. Eine Auftragsarbeit, ein Lesebuch für Schulkinder, brachte ihr unerwartet Weltruhm ein. Vor einhundert Jahren erschienen die letzten Kapitel über die Abenteuer des Däumlings Nils Holgersson auf dem weiten Streifzug durch sein Land - auch ein Wegweiser in Richtung schwedische Identität.

    Aus dem kleinen ist ein großer Herrenhof geworden. Das kleine rote Holzhaus, das Selma Lagerlöf in ihrer Kindheit bewohnte, ist einem großen, weiß verputzten Gebäude aus Stein gewichen. Ein idealer Ort, um zu schreiben, hier in der prächtigen Natur und Einsamkeit Värmlands, die durch den Regen noch hervorgehoben wird.

    Was ihr Marbacka bedeutete, hat Selma Lagerlöf immer wieder beschrieben, ja ihre Erinnerungen hat sie nach diesem Gut benannt. Mit dem Geld, das sie aus dem Verkauf eines anderen Buches, nämlich der "Wunderbaren Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen" erhielt, konnte sie sich ihren Traum erfüllen, und den Ort ihrer Kindheit zurückkaufen, der gut zwei Jahrzehnte zuvor aufgrund der Misswirtschaft ihres alkoholabhängigen Vaters verkauft werden musste. Am Ende der Reise des kleinen Nils Holgersson findet somit auch Selma Lagerlöf zu sich selbst zurück:
    "Es ist eine Bauerngesellschaft, die sie im Nils Holgersson beschreibt, ein Schweden auf dem Weg in die Industrialisierung. Neben dem Leben auf dem Land beschreibt sie auch die dunklen Seiten der Gegenwart: die Bergwerke, Tuberkulose, Armut. Alles in allem aber sollte der Nils Holgersson ein positives Bild Schwedens vermitteln, denn just zu dieser Zeit emigrierten viele Schweden und man brauchte die Menschen im Land. Und eben deshalb wollte man bereits den Kindern ein wenig Vaterlandsliebe mitgeben. Sie sollten das Land nicht nur kennen, sondern lieben lernen."

    Marina Andersson sucht nach dem richtigen Schlüssel für die Eingangstür. Die 32-Jährige wohnt in einem der Nebengebäude. Das Jahr über führt sie die vielen Schulklassen, die Marbacka besuchen, durch das Haus.

    Marina Andersson führt in die Bibliothek im ersten Stock. In 40 Sprachen ist der Nils Holgersson übersetzt, Selma Lagerlöfs weltweit bekanntestes Werk. Marina Andersson muss schmunzeln. Niemand außerhalb Schwedens wird sich für das Buch interessieren, habe Selma Lagerlöf einst in einem Brief geschrieben, doch sei der Nils Holgersson eben weit mehr als ein Buch über Land und Leute, als ein Zeitporträt Schwedens, fügt Andersson hinzu:

    "Am Beginn des Buches ist Nils Holgersson ein fürchterlich bösartiger Mensch. Er quält die Tiere, er ärgert seine Eltern und denkt an niemand anderen als sich selbst. Auf der Reise durch Schweden lernt er, für andere Verantwortung zu übernehmen. Er opfert sich auf, um anderen zu helfen, ja, bringt sich selbst in Gefahr. Am Ende der Geschichte wird er in dem Moment wieder zum Menschen, als er sein Leben für die Gans Martin opfern möchte, da hat er seinen Reifetest bestanden. Die Solidarität ist ein zentraler Punkt, für Selma Lagerlöf und Nils Holgersson und auch für die schwedische Gesellschaft."

    Selma Lagerlöf in einer Aufnahme von 1937:

    "Es war einmal ein Junge. Er war ungefähr vierzehn Jahre alt, groß und gut gewachsen und flachshaarig. Viel nütze war er nicht, am liebsten schlief oder aß er und sein größtes Vergnügen war, etwas anzustellen.

    Es war an einem Sonntagmorgen und die Eltern machten sich fertig, in die Kirche zu gehen. Der Junge saß in Hemdsärmeln auf dem Tischrande und dachte, wie günstig das sei, dass Vater und Mutter fortgingen und er ein paar Stunden lang tun könne, was ihm beliebe. ’Jetzt kann ich Vaters Flinte herunternehmen und schießen, ohne dass es mir jemand verbietet’, sagte er zu sich.

    Aber es war fast, als habe der Vater die Gedanken seines Sohnes erraten, denn als er schon auf der Schwelle stand, um hinauszugehen, hielt er inne und wendete sich zu ihm. ’Da du nicht mit der Mutter und mir in die Kirche gehen willst’, sagte er, ’so sollst du wenigstens daheim die Predigt lesen. Willst du mit das versprechen?’ - ’Ja’, antwortete der Junge, ’das kann ich schon’. Aber er dachte natürlich, er werde gewiss nicht mehr lesen als ihm behagte."

    Die Kraft des gemeinsamen Singens
    "Nils Holgersson" ist mehr als ein Kinderbuch, als ein pädagogisches Werk über Land und Leute. Der Roman trägt alle Züge der klassischen Tragödie, vor allem der Katharsis, der Läuterung des Helden. Er muss erst schmerzliche Bewährungsproben überstehen, bis er wieder Mensch werden darf. Selma Lagerlöf hat diese Wandlung mit dem rasanten Umbruch Schwedens zu Beginn des 20. Jahrhunderts illustriert. Es ist das erste Land in Europa, das in so atemberaubendem Tempo vom armen Agrarstaat zur modernen Industrienation aufsteigt. Mit Licht- und Schattenseiten, die die Schriftstellerin in der Geschichte zum Thema macht. Bevölkerungsexplosion, Armut, Hunger, Resignation. Nils stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Aus einer bäuerlichen, gottesfürchtigen Familie. Kinder wie Nils haben einen weiten Weg zur Schule, Stunde um Stunde zu Fuß.

    In jener Zeit der rasanten Veränderungen, in der sich viele Schweden ohnmächtig fühlen, entsteht in der Mitte der Gesellschaft eine besondere Art von Opposition gegen die Verhältnisse: die sogenannten "Volksbewegungen". Sie sind häufig religiös geprägt.

    Diese Volksbewegungen haben Impulse gegeben für die spätere, sozial dominierte Politik Schwedens. In ihr sind aber auch die Traditionen bewahrt, die bis heute zum "Samhälle", zum Zusammenhalten in der schwedischen Gesellschaft gehören.

    Freiheit des Denkens, Bildung, Kreativität, Gemeinsinn, der vor allem Ausdruck in der Musik findet. Ein Besuch in einer der bekanntesten Schulen des Landes, im Adolf-Frederik-Musikgymnasium in Stockholm.


    Bo Johansson ist auf dem Weg zum Unterricht: Musik in einer siebten Klasse. Eine Herausforderung der besonderen Art, sagt er lächelnd, denn die Schüler seien zwar im gleichen Alter, in Sachen Reife aber bis zu zehn Jahren auseinander.

    "Ich bin seit 35 Jahren an dieser Schule und das hört sich ja ein wenig fantasielos an, seinen Arbeitsplatz ein leblang nicht einmal gewechselt zu haben. Um ehrlich zu sein: Ab und an habe ich mit dem Gedanken gespielt, habe mich nach anderen Stellungen umgesehen, musste aber immer wieder erkennen, dass ich zu den selten privilegierten Menschen gehöre, die einfach keinen besseren Arbeitsplatz finden können - und das nach 35 Jahren sagen zu können, ist ja tatsächlich ein Privileg."

    Die Adolf-Frederik Schule ist bekannt für die guten Leistungen ihrer Schüler, für ihre Pädagogik, die Disziplin und Kreativität miteinander verbindet. Im Zentrum steht die musische Erziehung. Jede Klasse ist ein eigener Chor.

    Hier und da bleibt Bo stehen, wechselt ein paar Worte mit Schülern oder Kollegen. Aus jedem Gespräch strahlt eine Intimität, als ob er jeden hier schon immer gekannt habe.

    "Jeden Morgen freue ich mich auf meine Schüler, auf ihre Dynamik und Lebendigkeit, denn tatsächlich befinden sie sich doch in der schönsten Phase des Lebens. Das Leben zwischen zehn und fünfzehn ist fantastisch. Wenn man erwachsen wird, dann ist der Alltag etwas grauer, ein Tag ähnelt dem anderen. Hier aber ist kein Tag, ja, keine Stunde wie die andere. Und inmitten dieser Dynamik zu leben, das ist ebenso lehrreich wie fantastisch."

    Bo Johansson setzt sich ans Klavier und bittet die Schüler aufzustehen. Der stoppelbärtige Mann in Jeans, offenem Hemd und hellbrauner Weste verfügt über eine spielerische Autorität - eine Energie, die sich auf die Schüler überträgt. Alle Augen sind auf ihn gerichtet, er ist das Kraftzentrum dieses Raumes.

    "Das hier machen wir, um die Stimmbänder zu lockern. Nun verstehe ich nicht so viel von Gymnastik, doch habe ich begriffen, dass man sich ein wenig lockern und aufwärmen muss, bevor man Weitsprung übt oder fantastische Verrenkungen auf dem Balken macht. Kurzum: Das hier ist unser musikalisches Aufwärmen. Das war doch schön gesagt."

    Bo Johansson möchte einige Frühlingslieder einstudieren. Ein großer Teil des schwedischen Liedgutes ist an die Jahreszeiten gebunden, erzählt er. Vor allem Frühling und Sommer, die Walpurgisnacht und das Mittsommerfest sind wiederkehrende Motive:

    "Das Frühjahr und der Sommer sind voller Erwartungen und Freude. Die Bäume beginnen zu blühen, ja die ganze Natur, und hier an der Schule wissen wir, dass, wenn es so weit ist, bald das wunderbarste passiert, nämlich dass die Sommerferien beginnen und die Schüler ihre Lehrer zwei Monate lang nicht sehen müssen. Auch darin liegt viel Freude. An dieser Schule mit ihrer starken musikalischen Tradition aber können wir uns nicht in die Sommerferien verabschieden, ohne dieses Lied hier zu singen: Den Sommerpsalm. So singt man an der Adolf Frederik Schule und dann wissen alle, dass die Sommerferien beginnen. Dieses Lied also ist mit unzähligen Erwartungen und wunderbaren Erlebnissen verbunden."

    Die Schüler schmunzeln, in der hintersten Reihe tuscheln drei Mädchen miteinander, ein Junge unterstreicht eine Note in seinem Heft. Jede von Bos Erzählungen wird von seiner lebendigen Körper- und Minensprache, von einem verschmitzten Lächeln untermalt.

    "Es heißt, in Schweden leben neun Millionen Menschen, stimmt das? Und 600.000 Menschen in allen Altersgruppen singen mindestens einmal die Woche in einem Chor. Das gibt es nicht noch einmal in der Welt, die Schweden sind ganz einfach ein singendes Volk. Ich selbst glaube, ein Teil der Erklärung für dieses Phänomen ist, dass es in Schweden so viele Vereine und Vereinigungen gibt, denn es ist doch so, dass alle Arten von Gemeinschaft, egal, ob kirchlich oder profan, auf einem gemeinsamen Liedschatz basieren.

    Die Mitglieder der Nygtighedsrörelsen vor einhundert Jahren, das waren die religiös motivierten Abstinenzler, fühlten eine starke Verbundenheit, wenn sie miteinander sangen, die Freikirchen haben eine wunderbare musikalische Tradition und was wären die politischen Parteien, ja, was wäre die Sozialdemokratie ohne ihre Internationale? Im gemeinsamen Singen liegt eine unerhörte Kraft, ja, eine gefährliche Kraft, möchte ich sagen."

    Rücksichtslose Schweden?
    Das Leben als erfolgreiche Schriftstellerin, das war Selma Lagerlöfs zweite Karriere. Bevor sie aber zu Weltruhm gelangte, arbeitete sie als Lehrerin. Sie ließ ihr geografisches Märchen an all den Orten spielen, die sie gut kannte. Und die sie erfindungsreich mit Geschichten für Kinder ausstatten konnte. Das ländliche Schonen im Süden, den Westen mit ihrem Geburtshaus in Marbacka, die Wälder von Rättvik und die unzähligen Seen im Herzen des Landes wie auch die Zentren des Eisen- und Kupfer-Abbaus rund um Falun. Das einsame Norrland im Norden wie auch die Inseln vor der Küste rund um Schweden. Ihre Heimat von oben, aus der Luft zu betrachten, das allerdings blieb ihrer Fantasie und ihrem Helden vorbehalten:

    "Nachdem sich der Junge an diese Art des Reisens gewöhnt hatte, so dass er wieder an etwas anderes denken konnte, als daran, wie er sich auf dem Gänserücken festhalten solle, bemerkte er, dass viele Vogelscharen durch die Lüfte dahinflogen, die alle dem Norden zustrebten. Es war ein Schreien und Schnattern von Schar zu Schar. Noch nie war er so schnell vorwärts gekommen, und schnell und wild zu reiten, das war von jeher sein Vergnügen gewesen. Und er hätte natürlich nie gedacht, dass es da droben in der Luft so erfrischend sein könnte und dass da so ein guter Erd- und Harzgeruch heraufdränge. Und er hatte sich auch noch nie vorgestellt, wie das wäre, wenn man hoch in der Luft dahinflöge. Da war ja gerade, als flöge man weit weg von seinem Kummer und seinen Sorgen und von allen Widerwärtigkeiten, die man sich denken konnte."

    "Widerwärtigkeiten" gibt es zahlreiche auf der Erde. In der Geschichte sind die Verhältnisse dabei auf den Kopf gestellt. Was Nils Holgersson von oben beobachtet sind Menschen mit niederen Instinkten: ein Abbild seiner selbst. Dafür haben die Tiere die moralische Instanz eingenommen.

    Sie sind die Gejagten, die Benachteiligten, die Wildgänse mit den "Füßen wie Landstreicher". Einzige Ausnahme: der Fuchs Smirre, Inbegriff des einsamen, rücksichtslosen Jägers. Er verkörpert den finsteren Gegenspieler des Jungen und seiner Gefährten.

    In der schwedischen Wirklichkeit gibt es Parallelen: zum Beispiel im Streit um die Wölfe. Eine Diskussion, die hoch im Norden beinahe so heftig geführt wird, wie hierzulande der Streit um die Arbeitsmarktreformen.

    Wölfe, sie sind die Gejagten und werden von Umweltaktivisten in Schutz genommen, denn als hätte die Jägerlobby nun den Bösewicht Smirre im Kopf, dringt sie auf ein neues Gesetz. Es soll endlich den vorbeugenden Abschuss von Wölfen erlauben, die ja eigentlich unter strengem Naturschutz stehen. Der Streit um das Lebensrecht der Wölfe belegt, dass Mensch und Tier auch in Schweden längst nicht mehr im Einklang miteinander leben.


    Der Pfad durch das Unterholz ist schmal, Kit Larsen aber kennt sich aus. Fast jede Minute ihrer Freizeit verbringt die 51-Jährige hier im Wald: ein willkommener Kontrast zu ihrem Job im familieneigenen Reklamebüro, das sie zusammen mit ihrem Bruder von den Eltern übernommen hat.

    "Das liegt tief in der Seele. Ohne den Wald verlieren wir Schweden einen Teil von uns selbst. Natur bedeutet für uns Ruhe und Rekreation. Ich meine, wir leben ein so stressiges Dasein, da braucht man die Stille und hier draußen kann man die Stille hören. Nicht wahr?"

    Kit Larsen geht voran: Jeans, T-Shirt, rote Jacke, weiße Turnschuhe, offenes Haar und ungeschminkt. Immer wieder bleibt sie stehen, untersucht den Stamm eines Baumes nach Fellhaaren oder tastet mit ihren Fingern im Moos. Mit der Stille im Wald nämlich ist es so eine Sache. Kit Larsen sucht nach Wolfsspuren. 500 Meter in diese Richtung, zeigt sie mit ihrem rechten Arm, ist eine Höhle, in der sich eine Bärenfamilie eingenistet hat. Und dennoch zieht Kit wie immer unbewaffnet durch den Wald.

    "Ich denke, man muss weder vor den Wölfen, noch den Bären Angst haben. Sie wissen genau, dass wir hier sind, und es gibt keinen Grund für sie, uns anzugreifen. Im Grunde sind sie scheue Tiere. Hätten wir einen Hund dabei, das wäre etwas anderes, den betrachten sie als direkten Konkurrenten. Aber bei uns Menschen ist ein Angriff nahezu ausgeschlossen. Im Wald habe ich noch nie eine brenzlige Situation erlebt. Ich habe größere Angst, wenn ich in einer Großstadt alleine die Strasse entlang gehe. Da ist das Risiko größer, als hier im Wald zusammen mit Wölfen und Bären. Wir können uns ganz und gar sicher fühlen."

    Kit ist unverheiratet, Kinder hat sie keine. In den letzten Jahren sind die Wölfe und andere wilde Tiere immer mehr zu ihrer Familie geworden. Kit engagiert sich im schwedischen Naturschutzbund und im Verein für den Schutz der Raubtiere:
    "Wir fordern von den Entwicklungsländern, der Regenwald müsse geschont und der bengalische Tiger geschützt werden. Dass wir selbst etwas mit der biologischen Vielfalt auf Erden zu tun haben, das aber erkennen die Wenigsten. Unserer eigener Wald, zumindest der ursprüngliche Mischwald, ist heute ganz verschwunden. Und auch die Wölfe wollen viele nicht als natürlichen Teil unserer Fauna akzeptieren, sondern in den Zoo oder nach Alaska verbannen."

    Kit setzt sich auf einen umgefallenen Baumstamm. In ihrem Rucksack hat sie ein Käsebrot und eine Thermoskanne mit Kaffee. Jahrzehntelang, erzählt sie, war der Wolf in dieser Gegend ausgestorben. Nun aber gibt es wieder einen kleinen Stamm, wahrscheinlich Abkömmlinge eines finnischen Einwanderers. Sie selbst geht mit anderen im Verein oft in den Wald. Sie untersuchen das Verhalten der Tiere und dokumentieren ihren Aktionsradius. Im Winter ist dies sehr viel einfacher als im Sommer, denn im Schnee lassen sich die Spuren leichter finden. Doch nicht jedermann teilt Kits Leidenschaft für die Wölfe:

    "Eine der Ursachen ist, dass die Jäger mit den Wölfen um die gleiche Beute konkurrieren. Eine Wolfsfamilie von sechs, sieben Mitgliedern frisst etwa einhundert Elche pro Jahr. Das hört sich nach viel an, aber wenn man das mit den hunderttausenden von Elchen pro Jahr vergleicht, die die Jäger erlegen, dann ist das ja nur ein kleiner Prozentsatz. Wenn man den Wolf hier zu einem Problem macht, dann hat man keine Probleme, ja dann hat man Wohlfahrtsprobleme. Dann geht es einem wirklich zu gut."

    Der Sozialstaat als Museum
    Es gibt kaum einen Ort, den Selma Lagerlöf so gut gekannt hat wie Falun, im Herzen Schwedens. Einst das Zentrum des schwedischen Aufstiegs. Die Region hat das Land mit seinen Bodenschätzen reich gemacht: auch ein kreativer Ort, denn dort hat die Schriftstellerin die Geschichte von Nils Holgersson niedergeschrieben.

    "Bataki, der Rabe, wusste in ganz Schweden keinen Ort, wo es ihm so gut gefiel wie in Falun. Sobald im Frühjahr die Erde wieder ein wenig hervorschimmerte, begab er sich dahin und hielt sich dann mehrere Wochen lang in der Nähe der alten Bergwerkstadt auf.

    Die Stadt Falun, die in der Talsenkung rechts und links vom Flusse liegt, sieht aus, als habe sie sich ganz der Beschaffenheit des Bodens angepasst, auf dem sie steht. Auf der grünen Seite des Tales sind alle die Gebäude, die ein stattliches oder hübsches Aussehen haben. Auf der schwarzen Seite dagegen gibt es straßauf, straßab nichts als rot angestrichene einstöckige Häuser, lange traurige Holzschuppen und grosse plumpe Fabrikgebäude. Und auf der anderen Seite dieser Gassen, mitten in der grossen Steinwüste, liegen die Faluner Gruben mit ihren Kränen, Winden und Pumpwerken, mit altmodischen Gebäuden, die schief auf dem untergrabenen Erdreich stehen, mit hohen schwarzen Schlackenbergen und langen Reihen von Schmelzöfen ringsumher.

    Der Rabe Bataki liebte alles, was geheimnisvoll war, alles, was ihm Gelegenheit zum Grübeln gab und ihm zum Nachdenken anregte, und dazu fand er auf der schwarzen Seite reichlich Gelegenheit. So machte es ihm zum Beispiel ein großes Vergnügen zu ergründen, warum diese alte rote Holzstadt nicht auch abgebrannt sei wie alle anderen roten Holzhäuser in diesem Lande. Ebenso hatte er sich gefragt, wie lange wohl die windschiefen Häuser am Rande der Gruben noch stehenbleiben könnten. Er hatte über den grossen Schacht, jene ungeheure Öffnung im Boden mitten auf dem Grubenfeld, ernstlich nachgedacht und war auch bis auf den Grund hinein geflogen, um zu untersuchen, wie dieser unermesslich große leere Raum entstanden sei und in erster Linie hätte er gerne gewusst, wie es ganz drunten in der Erde aussieht, wo das Kupfererz seit so vielen hundert Jahren herausgebrochen wurde und wo die Erde so untergraben und so voller Gänge war wie ein Ameisenhaufen."

    Falun hat Symbolcharakter für die Entwicklung Schwedens, für Höhen und Tiefen in der schwedischen Ökonomie.

    So wie die Eisen- und Kupferminen den Aufschwung brachten, so musste die letzte Grube dicht machen, als das Land in der tiefsten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit steckte. Das war am Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Schweden im schmerzhaften Wandel: Diese jüngere Vergangenheit kann man heute in Falun besichtigen.


    Es geht hinab in die Tiefe. Mit seinem Helm, seinem wasserabweisenden Umhang, der Taschenlampe in der einen, den Papieren in der anderen Hand sieht Sven Olsson aus wie ein Schichtleiter auf dem Weg zur Inspektion. Doch diese Zeiten sind seit Jahren vorbei. Heute ist die ehemalige Kupfermine Weltkulturerbe und Olsson ihr musealer Verwalter:
    "Im 16. und 17. Jahrhundert war die gesamte schwedische Wirtschaft von diesem Bergwerk abhängig. Ohne diese Grube wäre Schweden nie zu einer Großmacht geworden. Der König und die Königin kamen regelmäßig hierher nach Falun und bezeichneten den Kupferberg als Schwedens Schatzkammer. Andere hatten da eine andere Meinung. Carl Linné zum Beispiel, der die Mine 1734 besuchte und diese als die Hölle selbst bezeichnete."

    55 Meter unter der Erde erstreckt sich ein Labyrinth an Gängen und Schächten. Überall tropft es, hier und dort läuft Wasser an den schwarzen Wänden herunter, im Schein der Lampe glitzern Kristalle.

    "Das ist das Rückgrad des schwedischen Sozialstaates, dass wir diese Bodenschätze wie Eisen und andere Edelmetalle besitzen und natürlich den Wald. Mit der Landwirtschaft hätten wir es zu nichts gebracht."

    Sven Olsson geht entschlossenen Schrittes voran, ab und an muss er sich bücken, weil ein Schacht zu niedrig ist. Ruhig und doch engagiert, voller Anekdoten und vielleicht auch ein wenig stolz zeigt er diese seine Mine, die meterhohen Stützkonstruktionen aus Holz, die alten Arbeitsgeräte, die tiefen Schluchten.

    In ganz Europa habe man den Namen Falun einst gekannt. Bis zu 1200 Menschen, sagt Olsson, haben in der Mine gearbeitet, zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche; gut zehn Prozent der Minenarbeiter verloren ihr Leben. Und dennoch, fügt der heute 60-Jährige hinzu, während er die Decke des Schachtes ableuchtet, war privilegiert, wer hier eine Anstellung fand:

    "Diese Grube war für ihre Zeit sehr modern. Kinder und Frauen durften hier nicht arbeiten. Und obwohl dies ein gefährlicher Arbeitsplatz war, waren die Jobs begehrt. Der Lohn war vergleichsweise hoch, man genoss ein hohes Ansehen und war für die Frauen eine gute Partie.

    Die Arbeiter bekamen gute Wohnungen, wenn jemand starb, erhielt die Witwe eine Pension. Wer sich verletzte, wurde finanziell unterstützt. 200 Jahre bevor sich der Rest Europas industrialisierte, hatte man hier bereits ein modernes System, um die Arbeiter zu schützen. Sicherlich war dies alles nicht ohne Hintergedanken. Je besser man die Arbeiter schützte, desto effektiver arbeiteten sie und umso größer war der Gewinn.

    Andernorts, etwa in England, mag es mehr Arbeitskräfte gegeben haben, so dass man auf den Einzelnen nicht so viel Rücksicht nehmen musste. Hier im dünn besiedelten Norden aber musste man sich um jeden Einzelnen bemühen."

    Sven Olsson kennt die Geschichte der Mine aus dem Effeff. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so heißt es, wuchs in ganz Falun kein Baum. Manchmal habe man vor Rauch und Dämpfen die eigene Hand vor Augen nicht mehr gesehen. Noch heute ist der See der Stadt derart vergiftet, das selbst an den heißesten Sommertagen niemand in ihm badet. Die Spuren der Vergangenheit, sagt Olsson, sind allgegenwärtig. Ebenso wie die Zeichen der Zeit. Auf eine Art sei es symbolisch, dass die einstige Schatzkammer des Reiches heute ein Museum sei:
    "Schweden ist ja noch immer eine große Industrienation, doch vieles ist im Wandel. Schweden ist Teil der globalisierten Welt. Viele Firmen sind Teil von multinationalen Unternehmen, einige sind ins Ausland abgewandert, andere ausländische siedeln sich hier an. Das Industriezeitalter aber, aus dem das moderne Schweden entstand, das ist vorbei."
    Schweden als Paradies für Mörder
    Wie es wohl wäre, wenn Selma Lagerlöf heute lebte und heute den Auftrag für ein Lesebuch über Land und Leute bekäme? Was wären ihre Themen? Müsste sie ganz andere Geschichten erzählen?

    Einhundert Jahre sind immerhin seit dem Erscheinen des "Nils Holgersson" vergangen. Schweden steht wieder vor einem gewaltigen Umbruch. Wie andere Gesellschaften auch, muss sich das Land zum Beginn des 21. Jahrhunderts neuen Herausforderungen stellen: Globalisierung, Zuwanderung, Reform des Sozialstaates.

    Lagerlöf würde darüber hinaus vielleicht den Umweltschutz, die Atompolitik oder Pisa aufgreifen. Alles in allem aber bleibt der Kern des Entwicklungsromans zeitlos: zu beschreiben, was den Menschen zum Menschen macht. Und was ihn zerstört.

    Schweden hat viel von seiner Überschaubarkeit verloren, von seiner Homogenität, von seinem sicheren sozialen Netz. Solche Auflösungstendenzen in der Gesellschaft geben ausreichend Material für ein ganz anderes Literaturgenre: schwedische Kriminalromane. Thriller mit sozialkritischem Hintergrund gehören inzwischen zu einem weiteren Exportschlager aus dem Norden. Camilla Läckberg, eine der jungen Nachwuchs-Autorinnen, interessiert sich für die gescheiterten Existenzen. Und sie siedelt ihre Fälle gerne in der schwedischen Provinz an, denn auch die ist keine Idylle mehr.


    Ein mondänes Viertel: Feinkostgeschäfte neben Boutiquen mit der neuesten Mode, Botschaften neben Galerien, minimalistische Einrichtungsläden neben Espresso-Bars in kühlem Design. Im Stockholmer Norrhalm-Bezirk läßt es sich leben - gut, und sicher auch teuer.

    Camilla Läckberg unterscheidet sich kaum von den anderen Besuchern des Cafés. Mit großer Handtasche neben und einem Laptop vor sich sitzt die attraktive 32-Jährige mit den langen braunen Haaren auf dem Sofa in der Ecke. Die Ärmel ihres roten Wollpullovers hat sie über ihre Hände gezogen, um sich nicht an dem heißen Glas zu verbrennen. Während ihre Augen über den Bildschirm schweifen, atmet sie den Duft ihres Cafe Latte ein. Camilla wohnt nur ein paar Straßen entfernt. Hier im Café Mocco aber schreibt sie ihre Krimis: Krimis, die wiederum an einem ganz anderen Ort, fernab der Hauptstadt spielen:

    "In einem Schreibkurs wurde mir einmal gesagt, man soll über das Milieu schreiben, das man am besten kennt, und das ist nun einmal, wo man aufgewachsen ist. Egal, wo man später lebt, so trägt man den Ort seiner Kindheit in sich herum. Man kennt die Geografie, weiß wie es riecht, worüber die Leute sprechen, ja man weiß, wie sie denken. Und so war Fjällbacka für mich eine natürliche Wahl. Und dann denke ich, dass kleine Orte interessanter sind als die Großstadt. Alles, was in der Großstadt vorhanden ist, alle menschlichen Eigenschaften gibt es auch in kleinen Gemeinden, nur sind sie hier noch sehr viel konzentrierter. Es ist wichtig, wie man sich nach außen hin gibt, was die Nachbarn denken, ja, man ist auf eine ganz andere Weise voneinander abhängig."

    Camilla erzählt über ihre Jugend. Das raue Milieu der Westküste, wo man einst vor allem von der Fischerei lebte und man nie wusste, ob man vom Meer zurückkehren würde. Wo der Pietismus das Leben bestimmte, man hart arbeitete und sich weltliche Vergnügen wie Singen und Tanzen versagte, aber auch von einer beschützten Kindheit: Mit Freunden baden und mit den Eltern fischen gehen und den Fang gleich über einem offenen Feuer grillen:
    "Genau das, was ich als einengend empfinde, ist auch das positive an einem Ort wie Fjällbacka, nämlich dass alle sich kennen und sich umeinander kümmern. In Fjällbacka wäre es unmöglich, dass jemand drei Monate lang tot in seiner Wohnung liegt. Schon nach drei Tagen würden die Nachbarn sagen, es ist lange her, dass wir ihn gesehen haben, warum hat er seine Zeitung nicht geholt, er hat doch nicht gesagt, dass er verreisen wolle. Wir müssen schauen, ob etwas passiert ist. An einem Ort wie Fjällbacka ist man niemals einsam. Selbst diejenigen, die man als Außenseiter und Randexistenzen betrachtet, gehören zur Gemeinschaft dazu."

    Camilla Läckberg gestikuliert zurückhaltend, während sie spricht, ihre braunen Augen aber leuchten und verraten einen Menschen, der seinen Weg gefunden hat. Schon als Kind hat Camilla viel gelesen, auch Selma Lagerlöf, deren Sprache sie fasziniert.

    Später dann vor allem die schwedischen Krimi-Klassiker: Maj Sjöwall, Per Wahlöö, Maria Lang. Nach ihrem Marketing-Studium arbeitete die verheiratete Mutter zweier Kinder in der freien Wirtschaft, bis sie ihren Traum vom Schreiben eines Tages verwirklichte.

    "Was mich in einer Kriminalgeschichte interessiert, ist die menschliche Psychologie, nicht so sehr die großen gesellschaftlichen Fragen. Was treibt einen Menschen dazu, einen Mord zu begehen. Ein jeder kann zum Mörder werden, nur haben wir unterschiedliche Grenzen und eben diese Grenzen zu untersuchen, das ist es, was mich beim Schreiben interessiert. Ich möchte dem Leser vermitteln, warum eine Person einen Mord begangen hat. Das heißt nicht, dass ich mit dem Mörder sympathisiere, aber ich möchte ihn und sein Motiv verstehen. Das ist die Herausforderung."

    Camilla nimmt einen Schluck aus ihrem Glas, einen Moment lang verweilt ihr Blick in der Leere des Raumes. Natürlich lassen sich Gesellschaft und Individuum nicht gänzlich trennen, sagt sie dann.

    "Was sehr viele Spannungen erzeugt, ist die Tatsache, dass wir Schweden so rigide sind und alles kontrollieren wollen. Alles muss in diesem Land seine Ordnung haben, aber eben das erweist sich immer wieder als eine Illusion und eben dieser Bruch, das ist es, was einen Krimiverfasser wie mich interessiert. Wann und wodurch verlieren wir Menschen unsere Kontrolle, und eben hier ist die schwedische Gesellschaft mit ihren geordneten Strukturen ein so dankbarer Hintergrund."

    Doch auch diese geordneten Strukturen sind nicht mehr, was sie einmal waren. Gerade im Ausland wird Schweden idealisiert und als eine Art Glanzbild betrachtet, sagt Camilla. Die Schweden selbst aber entdeckten immer mehr Risse in der Oberfläche ihres Landes:

    "Die ältere Generation hat in erster Linie in kollektiven Bahnen gedacht: Die Gruppe, die Gemeinschaft zählte und man selbst stand hinter ihr zurück. Meine Generation aber denkt zunächst an sich selbst und wie man selbst vorankommt. Es geht darum, auf eigenen Beinen zu stehen und sich selbst zu versorgen. Das Gemeinschaftliche geht verloren - im Guten wie Schlechten. Vielleicht führt das zu einer neuen Dynamik, aber viele Menschen werden daran zugrunde gehen."

    Abschied vom liberalen Schweden
    Zurück zum Ausgangspunkt der Spurensuche. Zurück in den Süden Schwedens, diesmal in Landskrona. Dort war Selma Lagerlöf als Lehrerin tätig. Dort hat sie sich an ihr erstes Buch gewagt: "Gösta Berling". Es ist ein Roman, der immer wieder die Angst vor dem Verlust des Heimes, ja, der Heimat thematisiert. In Landskrona, der Kleinstadt am Öresund, haben sich solche Sorgen inzwischen politisch artikuliert.

    Landskrona hat einen hohen Ausländeranteil und es kämpft mit großen wirtschaftlichen Problemen. Offenbar Umstände, die die Wähler in die Arme der rechten Schwedendemokraten getrieben haben. Den Sprung in den Reichstag hat die Partei zwar nicht geschafft, dafür ist sie nun aber in der Hälfte aller schwedischen Kommunen vertreten. Den größten Erfolg hatte sie in Landskrona. Auch in Schweden herrscht Angst vor der neuen Zeit.

    Wären dort nicht die schwedischen Fahnen an dem einen oder anderen Balkon, man könnte sich in einem beliebigen Wohnviertel einer beliebigen skandinavischen Kleinstadt wähnen: die zwei- und dreistöckigen Mietshäuser aus hellem Backstein, das Einkaufszentrum inmitten der Siedlung, die obligatorische Wurstbude auf dem Vorplatz. Eine sozialdemokratische Hochburg, so hat es den Anschein, ein Volksheim en miniature, in dem jeder jeden kennt und dies seit Generationen.

    Mit der sozialdemokratischen Dominanz aber ist es in Landskrona-Sandvangen so eine Sache. Jeder dritte Einwohner hat hier im September für die Schwedendemokraten gestimmt, berichtet Stefan Ulsson ein wenig stolz, auch wenn sich die Wenigsten, auf die Wahl angesprochen, zu ihrer Stimmenabgabe bekennen.

    Noch immer, räumt der neu gewählte Kommunalpolitiker Ulsson ein, wird seine Partei als nicht stubenrein betrachtet, um es milde auszudrücken:
    "Die anderen Parteien bezeichnen unser Programm als rassistisch, weil wir den Zuzug von Ausländern begrenzen wollen. Aber deshalb ist man doch kein Rassist, ich würde sagen: man ist Realist. Unsere großzügige Ausländerpolitik kostet uns Schweden jedes Jahr zwischen 200 und 300 Milliarden Kronen. Wenn man davon nur die Hälfe verwenden würde, dann könnte man 150 Milliarden in die Krankenhäuser, die Schulen und die Altenbetreuung investieren."

    Stefan Ulssons Leben war nie leicht gewesen. Als 16-Jähriger bricht er die Schule ab, schlägt sich jahrelang durch mit Gelegenheitsjobs, wird LKW-Fahrer. Später arbeitet er als Altenpfleger: Der beste Job, den er je gehabt habe, sagt er. Vor sechs Jahren macht ihm sein Rücken ein Strich durch die Rechnung. Seither ist er krankgeschrieben, lebt von 1100 Euro brutto im Monat, die Hälfte seines früheren Gehalts. Seine Ehe ist inzwischen in die Brüche gegangen, die drei Kinder leben bei der Mutter.

    "Auch die neue bürgerliche Regierung möchte ausländische Arbeitskraft anwerben. Ich begreife das nicht, im Moment haben wir zwischen 300.000 und 400.000 Arbeitslose. Es muss doch möglich sein, diese Menschen umzuschulen und ihnen eine Arbeit zu geben. In den fünfziger und sechziger Jahren mögen wir Gastarbeiter gebraucht haben, aber die waren ja auch anders: Sie kamen, passten sich an und arbeiteten. Heute brauchen wir keine neuen Ausländer."

    Während des Gespräches redet Stefan Ulsson oft von der Vergangenheit: als die Werft in Landskrona noch 3000 Menschen beschäftigte, darunter seinen Vater, als die Sozialdemokraten sich noch der Alltagsprobleme der Menschen annahmen, als Schweden noch eine homogene Gesellschaft, ein neutrales, unabhängiges Land war:

    "Wir sind gegen die EU. Sie will einfach zu viel bestimmen und regulieren, wie ein Vormund. Ich hätte es besser gefunden, wenn wir unsere Selbständigkeit behalten und mit unseren nordischen Nachbarländern kooperiert hätten. Nehmen Sie die Norweger. Gut, die haben ihr Öl, aber wir Schweden hätten auch auf eigenen Füßen stehen können."

    Stefan Ulsson spaziert gemächlich durch die Straßen des Viertels, durch diese, seine Hochburg. Mit seinen Gesten wirbt er für sich und seine Ansichten. Er möchte ernst genommen, möchte akzeptiert werden. Seine Partei sieht er auf einem guten Weg. Die Meinungsumfragen würden immer besser, viele Sozialdemokraten teilten deren Standpunkte, wenn auch hinter vorgehaltener Hand.

    In den kommenden Jahren will er sich ganz den Problemen in Landskrona widmen, 2010 mit den Schwedendemokraten in den Reichstag einziehen. Globalisierung hin oder her, Schweden soll wieder werden wie es einmal war.

    "’Wenn Du etwas Gutes gelernt hast, Däumling, dann bist du vielleicht jetzt nicht mehr der Ansicht, dass die Menschen allein auf der Welt herrschen sollten’, sagte die Anführerin feierlich. ’Bedenke, ihr habt ein großes Land für euch, und deshalb könntet ihr uns recht gut ein paar Schären und einige sumpfige Seen und Moore sowie einige öde Felsen und abgelegene Wälder überlassen, wo wir armen Tiere in Frieden leben können. Solange ich lebe, bin ich nun beständig verfolgt und gejagt worden. Es wäre eine Wohltat, wenn sich für solche Geschöpfe, wie wir es sind, auch irgendwo eine richtige Freistatt fände.’"

    Das waren "Gesichter Europas": "Auf den Spuren von Nils Holgersson. Schweden zwischen Volksheim und Globalisierung" - eine Sendung von Marc-Christoph Wagner. Auszüge aus "Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen" wurden von Marietta Bürger gesprochen. Die Musik hat Babette Michel ausgesucht. Die Redaktion hatte Thilo Kössler. Und im Namen des gesamten Teams verabschiedet sich Bettina Nutz.