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Auf der Jagd nach den vergessenen Büchern

In elf Kapiteln führt der Harvard-Professor Stehpen Greenblatt durch die Biografien und Seelenzustände der wichtigsten Humanisten der italienischen Renaissance. Er schickt den Bücherjäger Poggio Bracciolini in die Bibliotheken der Klöster und erläutert, wie die Welt moderner wurde.

Von Paul Stänner | 09.07.2012
    Im Winter 1417 reitet Poggio Bracciolini durch die bewaldeten Täler und Höhen Süddeutschlands seinem fernen Ziel entgegen, einem Kloster, von dem es heißt, es beherberge ein geheimes Lager alter Handschriften.

    Stephen Greenblatt stellt sich vor, dass unter den vielen Reisenden seiner Zeit sein Protagonist Poggio Bracciolini eine seltsame Gestalt war. Er hatte keine ordentlichen Geschäfte zu führen, reiste in eigenem Auftrag und suchte Bücher, die längst verschollen waren. 190 Seiten später, nach einem Rückblick in das 14. Jahrhundert, das von Petrarca illuminiert wurde, erfahren wir endlich, was Bracciolini vermutlich in der Fuldaer Klosterbibliothek fand: Es war das Gedicht De Rerum Naturae von Lukrez. So schildert es Greenblatt in seinem Buch "Die Wende". Der deutsche Untertitel greift zu kurz, wenn er ankündigt, Harvard-Professor Stephen Greenblatt beschreibe: "Wie die Renaissance begann". Im amerikanischen Original wird Greenblatts These genauer umrissen: "Wie die Welt modern wurde", das zu erklären ist die Absicht dieses Buches. In elf Kapiteln führt uns Greenblatt durch die Biografien und Seelenzustände der wichtigsten Humanisten der italienischen Renaissance. Er schildert die Bibliotheken der Klöster, er erläutert bis hinunter zum Bücherwurm, der die Einbände zerfraß, den Aufbau mittelalterlicher Bücher und zeigt die Machtstrukturen des Vatikan auf, vor dem sich jeder Gedanke und jede Idee verantworten musste: eine tour d’horizon durch einhundert Jahre Geistesgeschichte. Die amerikanische literarische Gemeinde hat seinen Autor immerhin mit dem National Book Award und dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Die zentrale Figur des Buches, Poggio Bracciolini, wurde 1380 geboren und kam gewissermaßen aus dem Nichts. Intelligent und ehrgeizig machte er Karriere und diente als apostolischer Sekretär mehreren Päpsten, die in bunter Folge entweder starben oder abgesetzt wurden – die Zeiten waren aufgewühlt. In seinen letzten Lebensjahren war er unter den Medici Leiter der Kanzlei von Florenz, 1459 verstarb er. 1417 ist er in einer Klosterbibliothek in Fulda. Und der Moment, in dem der Bücherjäger einen alten, missachteten Folianten in die Hand nimmt und sofort den Auftrag gibt, ihn abzuschreiben, verändert die Geschichte. Um diesen Moment geht es Greenblatt:

    So ist hier zu erzählen, wie die Welt plötzlich um ein Geringes aus der Bahn gestoßen wurde, ein zufälliger Ruck, der einen folgenreichen Richtungswechsel auslöste.

    Stephen Greenblatt, Professor für englische Literatur mit einer über Jahrzehnte verlaufenden Forschungs- und Publikationsgeschichte, ist nicht unumstritten. Seine Shakespearebiografie traf 2004 auf zum Teil harsche Kritik, weil Greenblatt als führenden Theoretiker des "New Historicism" es sich sehr leicht gemacht habe, zwischen literarischen und historischen Fakten hin- und herzuspringen und so eine biografische Erzählung zu stricken, die zwar faktenarm und wenig glaubwürdig, aber immer gut erzählt war. Gelegentlich konnte Greenblatt auch in seinem neuen Band der Versuchung nicht widerstehen, romanhaft zu extrapolieren, wenn für eine bestimmte Szene die Fakten nicht vorlagen. Dann fühlen wir uns plötzlich an Umberto Ecos "Der Name der Rose" erinnert und den hatten wir schon gelesen. Zum Glück verliert sich diese Neigung in der zweiten Hälfte des Buches über den Bücherjäger Poggio Bracciolini.

    Poggio schrieb seine Briefe sehr überlegt. Doch seine Bibliomanie, die wieder und wieder zum Ausdruck kommt, scheint spontan notiert, aufrichtig und authentisch. Sie war der Schlüssel zu einem Gefühl, das er mit einem Wort umreißt, das für einen päpstlichen Bürokraten ungewöhnlich scheint: Freiheit.

    In Fulda findet Bracciolini das Gedicht Re Reraum Naturae, von den Dingen der Natur, des römischen Schriftstellers Lukrez, der im Gefolge des genießerischen Epikur lehrt, dass die Welt aus kleinsten, unteilbaren Elementen besteht, den Atomen, die sich immer wieder neu zusammensetzen. Somit gibt kein Leben nach dem Tod. Die Furcht vor der Hölle ist nur eine Frucht der Dummheit. Lukrez' Gedicht war ein zutiefst unchristlicher Text und gerade deshalb so faszinierend, weil er zurückführte in eine Welt, in der freier und lebensbejahender gedacht wurde als unter der Herrschaft der katholischen Kirche. Man konnte in jenen Tagen schnell und grausam sterben, wenn man falsch dachte. Dennoch war dieses Denken so attraktiv, dass Bracciolini viel Zeit und viel Geld aufbrachte, um aus den Tiefen der Bibliotheken die heidnischen glanzvollen lateinischen Texte aufzustöbern und zu kopieren, um sie in den Zirkeln der Humanisten kreisen zu lassen. Und wie sich zeigte: Einmal in der Welt, war der Geist nicht wieder in die Flasche zurückzudrängen.

    Selbst in Spanien, wo die Inquisition besonders wachsam war, wurde Lukrez' Gedicht gelesen, in gedruckten Ausgaben aus Italien und Frankreich, die über die Grenze gebracht wurden, in Handschriften, die heimlich von Hand zu Hand gingen.

    Greenblatt folgt der Wirkung dieses Gedichts durch die Jahrhunderte, weist seine Spuren ausführlich bei Michel de Montaigne nach, untersucht, die Thomas Morus damit umging und welchen Einfluss es auf Isaac Newton hatte, aber auch auf Thomas Jefferson. Thomas Jefferson war ein eifriger Leser des antiken Autors Lukrez und seines Gedichts. Der belesene Thomas Jefferson war aber auch einer der Autoren der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Stephen Greenblatt schreibt, Jefferson habe diesem Dokument eine lukrezianische Wende gegeben:

    Eine Wendung nämlich zu einer Herrschaftsform, deren Ziel nicht nur die Sicherung von Leib und Leben seiner Bürger war, sondern die auch deren "Streben nach Glückseligkeit" sichern sollte.

    Greenblatt hat ein faszinierendes Geschehen geschildert – allein aus den Irrungen und Wirrungen und Strapazen, die der verbissene Bücherjäger Bracciolini auf sich genommen hat, könnte man eine 25-teilige Fernsehserie drehen. Aber es geht um mehr. Es geht Stephen Greenblatt darum zu zeigen, in welchem Moment der intellektuelle Mainstream nur ein wenig aus der Bahn gezogen und so das Denken zu einer Produktivkraft wurde, die die Welt erst modern machte. Natürlich war es nicht allein Lukrez' Gedicht, dessen Wiederentdeckung diese Entwicklung beförderte, aber an diesem Einzelschicksal kann er die Geburt einer neuen Zeit schildern. Manchmal käme man auch mit weniger "Eco" in seinen romanhaften Passagen aus, aber alles in allem haben wir es hier mit einer sehr gut lesbaren, spannenden und gut erklärenden Erzählung aus einer der wichtigsten Perioden der europäischen Geistesgeschichte zu tun. Eigentlich könnte man Greenblatt auch auf dieser Seite des Atlantiks einen Preis verleihen.

    Stephen Greenblatt: Die Wende: Wie die Renaissance begann
    Aus dem Englischen von Klaus Binder
    Siedler Verlag; 352 Seiten, 24,99 Euro
    ISBN: 978-3-886-80848-9