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Auf der Plattform unseres Bewusstseins

Was ein Hirnforscher und ein Buddhist gemeinsam haben, erfahren Sie in dem Interview-Band "Hirnforschung und Meditation" von Wolf Singer und Matthieu Richard. Wie verändern Meditationspraktiken Funktionen unseres Gehirns? Welches Potential steckt in einem dauerhaften mentalen Training? Und wie treibt das Wissen darum die aktuellen Erkenntnisse der Hirnforschung voran? Annette Brüggemann hat das Buch gelesen und mit Wolf Singer gesprochen.

Von Annette Brüggemann | 26.06.2008
    Es wiegt knapp drei Pfund, hat die Form einer übergroßen Walnuss und die Konsistenz eines weichen Eies: unser menschliches Gehirn. Trotzdem verbirgt sich darin der wohl komplizierteste Mechanismus im ganzen Universum. Hundert Milliarden Nervenzellen funken da herum mit bis zu einer halben Trillion Verbindungen. Ungefähr so viel, lautet ein bekannter Vergleich, wie die Anzahl der Blätter im Amazonas-Regenwald. Bis vor etwa 120 Jahren war das Innenleben des Gehirns nahezu unbekannt, heute versucht man jeden Winkel im Magnetresonanztomographen zu durchleuchten.

    Wolf Singer ist ein bekannter Name, wenn es um die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung weltweit geht. Vor allem in den letzten Jahren hat er für Diskussionsstoff gesorgt mit seinen Thesen zum freien Willen. Den hält er für eine Illusion. Für Wolf Singer gibt es keine Kommandozentrale im Gehirn. Vielmehr sei unser wichtigstes Organ ein sich selbst organisierendes System: hochkomplex und nicht-linear. Was von dem vielen Gewussten, das unser Gehirn gespeichert hat, ins Bewusstsein komme, hänge von vielen unbewussten Motiven ab. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat ihn dafür scharf kritisiert.

    Für Habermas ist ein Handelnder dann frei, wenn er das wolle, was er als Ergebnis seiner Überlegung für richtig halte. Das, konterte Wolf Singer, habe er niemals abgesprochen. Freisein sei eben ein gutes Gefühl und die Annäherung von Natur- und Geisteswissenschaft deshalb so wichtig, weil es auch um verbale Korrekturen ginge.

    Das lässt sich in dem Band "Hirnforschung und Meditation" der neuen edition unseld gut beobachten. Darin führen Wolf Singer und Matthieu Ricard, ein buddhistischer Mönch und Molekularbiologe, einen fruchtbaren Dialog. Gerade die Fremdheit ihrer beider Positionen war es, die Wolf Singer fasziniert hat:

    "Natürlich ist eine Unterhaltung zwischen einem praktizierenden Mönch und einem Naturwissenschaftler interessant, weil die beiden Schulen ganz unterschiedliche Strategien zur Erkenntnisgewinnung anwenden. Wir im Westen mit unserem aufgeklärten Wissenschaftssystem, wir wenden unsere Aufmerksamkeit nach außen auf die berührbare Welt und versuchen, die Gesetzmäßigkeiten, die dort herrschen analytisch zu erfassen. Und dem gegenüber steht nun wirklich kontrastreich der Versuch, den asiatische Kulturen eingeschlagen haben und für die der Buddhismus paradigmatisch steht: durch das Lenken von Aufmerksamkeit nach innen zu ergründen, wie es sich mit der Verfasstheit der Welt und auch des Menschen verhält."
    Kennengelernt haben sich Wolf Singer und Matthieu Ricard auf einem Symposion im Andenken an den chilenischen Hirnforscher Francisco Varela. Bereits in den 80er Jahren hatte er sich intensiv um Gespräche mit buddhistischen Mönchen und dem Dalai Lama bemüht und die sogenannten Mind-and-Life-Konferenzen ins Leben gerufen - Begegnungen zwischen Wissenschaftlern verschiedener Forschungsgebiete und Nationalitäten.

    Matthieu Ricard war bei diesen Treffen als Übersetzer des Dalai Lama dabei. Zudem hat er in der westlichen Welt eine ganz solide wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen. Er hat in Paris im Labor eines Nobelpreisträgers als Molekularbiologe "Hardcore-Science" betrieben, bis er etwa 30 Jahre alt war - sehr erfolgreich, er hat sehr viel publiziert und dann auf einer Urlaubsreise nach Burma die Bekanntschaft eines Rinpoche, eines tibetischen Lamas, gemacht. Von der Ausstrahlung dieses Menschen war er so fasziniert, dass er gefragt hat, ob er wiederkommen dürfe und aus diesem Wiederkommen wurde schließlich ein dauernder Aufenthalt in Burma, Nepal und Tibet. Dort hat er zunächst als Schüler, dann als Meister meditative Praktiken angewandt und ist heute ein anerkannter buddhistischer Mönch.

    Für Matthieu Ricard ist der Buddhismus eine "kontemplative Wissenschaft" - eine Wissenschaft des Geistes mit einer Tradition von 2.500 Jahren. So kommt es, dass Singer und Ricard zwar ein unterschiedliches Vokabular benutzen, aber dieselben Vorgänge meinen.

    Spricht Matthieu Ricard von einem Zustand höchster Wachsamkeit in der Meditation, so erläutert Wolf Singer, was genau dann gehirnphysiologisch passiert. Bei Messungen im Magnetresonanztomographen hat Wolf Singer vor 15 Jahren ein auffälliges Signal entdeckt. Hochsynchrone Schwingungen im 40 bis 50 Hertz-Bereich, die sogenannten Gamma-Wellen. Im Vergleich haben Alpha-Wellen, die wir mit einem Zustand angenehmer Entspanntheit verbinden, nur eine Frequenz von 10 Hertz. Wer also meditierenden Mönchen bei der Arbeit zusieht, stellt fest:
    "Die sind hellwach und müssen sich sehr stark konzentrieren. Und der Ausdruck dieses Zustandes sind diese hochfrequenten oszillatorischen Wellen, die Sie auch bilden, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf irgendetwas draußen lenken. Nur treten die dann in den Arealen auf, die Sie brauchen, um Sinnessignale zu verarbeiten. Oder, wenn Sie etwas Motorisches vorhaben, dann synchronisieren Sie ihre motorischen Areale. Nicht so diese Mönche. Die synchronisieren in der Hierarchie der Verarbeitung relativ hoch stehende Areale untereinander. Was darauf hinweist, dass die ihre Aufmerksamkeit nutzen, die Ressourcen, die sie haben, um innere Zustände in den Fokus der Aufmerksamkeit zu nehmen. "
    Was nun Wolf Singer besonders interessiert, ist, inwiefern sich das Gehirn langfristig durch die Meditation verändert. Denn wie in einem Trainingscamp werden bestimmte Gehirnregionen und auch - funktionen dabei trainiert.

    Wie steht es also um den freien Willen des Menschen? Ein weites Feld, sagt Wolf Singer, im Gespräch mit Matthieu Ricard und schlägt vor, in einem nächsten Buch darauf zurück zu kommen. Fest steht, dass auch die Buddhisten das "Ich" und dessen Willensfreiheit für eine Illusion halten. Auf der Plattform des Bewusstseins finden für Ricard alle Vorgänge statt und dessen Zustand habe Auswirkungen auf unser In-der-Welt-Sein.

    Das Beispiel der sogenannten Savants, der Wissenden, hat uns gezeigt, dass die Speicherkapazität unseres Gehirns nahezu unendlich ist. Sie können unfassbare Gedächtnisleistungen vollbringen. Der Engländer Daniel Tammet zum Beispiel kann die Zahl Pi bis auf 22.514 Stellen hinter dem Komma genau aufsagen. Nur ist das emotionale Leben der Savants autistisch verkümmert.

    Dennoch zeigt das Beispiel eindrucksvoll, dass unsere Gehirne zu Leistungen fähig sind, die weit über das hinausgehen, was wir uns vorstellen können. Und vielleicht gilt dasselbe für Leistungen, die mit intensivem mentalem Training erzielbar sind. Im Sinne des Buddhismus wären das: Aufmerksamkeit, Altruismus, emotionale Ausgeglichenheit und Glück. Wird der Buddhismus also zu unserer neuen Wunderdroge oder warum ist das Interesse an ihm im Westen so sehr gewachsen?

    "Da gibt's vielleicht zwei Erklärungen. Das Eine ist die allgemeine Orientierungslosigkeit, die sich hier breit macht, durch den Verfall der großen verbindlichen Religionen. Da gibt es einen Auswuchs an Esoterismus. Und der andere Grund ist die Suche nach anderen Religionen, die der Kritik vielleicht Stand halten. Und dann ist wahrscheinlich das eigentliche Faszinosum, die Hoffnung aus der Hektik fliehen zu können, die sich hier aufgrund der Technologien entwickelt hat, die eigentlich erfunden worden sind, um Zeit zu sparen."
    Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren unser Bild vom Menschen herausgefordert. Der Dialog mit dem Buddhismus verhindert, uns als kalte Bioautomaten zu begreifen - getrieben von unseren Genen und elektronischen Impulsen. In ihm kommen eine Liebe zum Menschsein und soziale Werte zum Tragen.

    Und da erscheinen auch Wolf Singers Thesen in einem neuen Licht. Nämlich durchaus vereinbar mit der spirituellen und kreativen Dimension des Buddhismus. Das hoffnungsfrohe gemeinsame Fazit: Unser komplexes neuronales Netzwerk hat zwar genetische und durch Erfahrungen geprägte Informationen gespeichert, ist aber wandelbar wie die Strömungen in einem Flußbett.

    Der edition unseld ist es mit diesem Buch gelungen, ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden: eine aktuelle Debatte zwischen Natur- und Geisteswissenschaften transparent zu machen. "Hirnforschung und Meditation" ist keine verquarzte Fachsimpelei, sondern ein Blick in die Praxis. Das Match, was hier gespielt wird - Mönch trifft Hirnforscher - lässt einen schmunzeln und gebannt auf den Rängen sitzen. Da wächst die Spannung auf eine Fortsetzung.

    "Hirnforschung und Mediation. Ein Dialog" von Wolf Singer und Matthieu Ricard ist als vierter Band in der neuen edition unseld erschienen. ISBN: 978-3-518-26004-3