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Auf der Suche nach dem Alltäglichen

Sich mit dem Alltäglichen befassen und das Alltagsleben vor der eigenen Haustür beobachten, das ist die Aufgabe der Volkskunde. Alltag, das klingt für viele nach Langeweile, doch Volkskunde kann aktuell, praktisch und politisch sein. Sie kann das Brisante im Banalen finden.

Von Matthias Hennies | 14.09.2006
    Es ist 6 Uhr 40. Der Wecker an meinem Handy klingelt. Besser gesagt, der Wecker an meinen Handy klingelt zum ersten Mal.

    8 Uhr 44. Die roten Zahlen des Radioweckers schimmern drohend durch das abgedunkelte Zimmer. Die leise Musik aus dem Radio lässt mich langsam erwachen.

    Mein Tag beginnt wie immer kurz vor 6 Uhr. Es ist ein ganz normaler Freitag. Ich wecke die Kinder und bereite in der Küche das Frühstück vor, auch das Fressen für unsere Katze.

    7 Uhr. Aufstehen, Morgentoilette, Morgengymnastik, Duschen. Füttern der drei wegen Vogelgrippe eingesperrten Hühner.


    "Das macht die Attraktivität des Faches für Studierende aus: die finden genau das spannend, dass hier man sich mit Dingen beschäftigen kann, die auf den ersten Blick eher trivial und banal erscheinen und wo man auf einmal sagt, hoppla, da steckt ja viel viel mehr dahinter. "

    Was ist das für ein Fach, das sich mit dem Alltäglichen befasst, das beobachtet, wann die Leute aufstehen und was sie als erstes tun? Ruth-E. Mohrmann ist Professorin für Volkskunde. Sie erforscht das Alltagsleben ihres eigenen Volkes - während die Kollegen aus dem Nachbarfach Völkerkunde hinaus zu fremden Völkern ziehen.

    "Das wird ja immer gern auch als Unterscheidungsmerkmal zwischen Volks- und Völkerkunde herangezogen, dass wir das Fremde im Eigenen sehen wollen, während die Ethnologie das Eigene im Fremden sehen will. "

    An der Universität Münster, wo Professor Mohrmann lehrt, heißt Volkskunde jetzt mit zweitem Namen "Europäische Ethnologie": Das klingt moderner, zeigt aber auch, dass die geographischen Grenzen des Forschungsgebiets nicht mehr so streng gezogen werden. Inzwischen arbeiten Volkskundler auch mal im Ausland - doch im Mittelpunkt steht noch immer das Alltagsleben vor der eigenen Haustür.


    7 Uhr 45. Tägliche Medikamenten-Einnahme, wegen Herz-Lungen-Erkrankung und Morbus Bechterew. Frühstück: Eine Scheibe Graubrot mit Quittenkonfitüre, eine große Tasse Kaffee, halb Kaffee, halb H-Milch.

    Kaffee kochen und eine erste Zigarette rauchen, natürlich draußen, wegen der Kinder, im Bademantel auf der Terrasse.


    Alltag in Westfalen am 18. November 2005. Für diesen Tag hatte die Volkskundliche Kommission des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe einen Aufruf veröffentlicht: Alle Bürger der Region waren aufgefordert, ihren Tagesablauf zu beschreiben - und mehr als 5000 haben den Wissenschaftlern tatsächlich Texte und E-Mails geschickt.

    Sinn der Sache: eine Materialsammlung aus erster Hand über die Lebensweise, das Lebensgefühl Anfang des 21. Jahrhunderts zusammenzustellen. Das Konvolut liefert vor allem Stoff für die Volkskundler der Zukunft: Mit zeitlichem Abstand werden sie die Charakteristika der Zeit erkennen. Vorerst geht es darum, die Zuschriften in einheitlicher, anonymisierter Form zu dokumentieren. Doch während die Forscher sie lesen und eine Auswahl für eine Veröffentlichung treffen, machen sie sich schon ein erstes Bild:

    "Man kann nicht sagen, dass es so etwas gibt wie das Lebensgefühl der Westfalen und Lipper am Anfang des 21. Jahrhunderts. Es ist vielmehr so, dass das Ganze auseinander bricht, es gibt eben Leute, die sagen, ich bin mit meiner Lebenssituation momentan völlig zufrieden und auch dieser 18.November war wirklich ein sehr schöner Tag. Es gibt aber auch die Leute, die mit der Situation gar nicht zufrieden sind. "

    Auffällig findet Lutz Vollmer: Die sich wohlfühlen, sind vor allem Ältere. Unzufrieden sind jüngere Leute: Zum Beispiel weil sie Probleme mit der Arbeit haben oder weil sich ihre Freunde bis über die Grenzen Westfalens hinaus zerstreut haben.

    Die Umfrage wirft aber eine grundsätzliche Frage auf: Wie viel an den Aufzeichnungen ist überhaupt wahr? Was wurde geschönt, worüber geschwiegen, was hinzugedichtet? Ähnlich wie bei Interviews mit Zeitzeugen, der Oral History, stellt sich ein methodisches Problem: Dr. Vollmer und seine Kollegen können nur selten überprüfen, wie ehrlich die Autoren waren.

    "Es gibt also Leute, die Geschichten erfinden, insbesondere etwa Schüler, die sich so nicht zugetragen haben können. Im Extremfall hat uns jemand einen Mord geschildert, der offensichtlich nicht stattgefunden hat. Trotz allem sind dies Dinge, die in der Vorstellungswelt des Schreibers existieren. Und das ist genau, was uns interessiert: In welcher Vorstellungswelt lebt eigentlich der Schreiber? Und das drückt er nämlich auch aus. "

    Schon früher haben Volkskundler versucht, durch Schreib-Aufrufe an die breite Bevölkerung das alltägliche Lebensgefühl festzuhalten: In den Niederlanden und in Skandinavien, in Westfalen selbst vor allem in den fünfziger Jahren. Damals bat man Mitbürger, ihre Erinnerungen an den Beginn des 20. Jahrhunderts aufzuschreiben.

    Auch der Vergleich mit diesem Material bietet sich an, um herauszuarbeiten, was für das heutige Leben in Westfalen typisch ist. Noch steht eine fundierte wissenschaftliche Untersuchung aus, doch manche Unterschiede springen sofort ins Auge: der veränderte Umgang mit Zeit zum Beispiel.

    "Dass man wirklich Zeit hatte und die Möglichkeit, Bücher zu lesen oder fernzusehen und sich weiterzubilden, einfach mal etwas für sich zu tun - das ist ein Aspekt, der in der Zeit um 1900 einfach gar keine Rolle spielte. Der wird auch in den heutigen Berichten sehr häufig thematisiert, dass jemand sagt, ich habe jetzt das Bedürfnis, etwas nur für mich zu tun. Und allein diesen Wunsch, aber auch die entsprechenden Tätigkeiten gab es früher auf keinen Fall. "

    0 Uhr 37. Die roten Zahlen des Radioweckers begleiten meine Gedanken noch eine geraume Zeit, dann falle ich in einen unruhigen Schlaf.

    Also geht es langsam erst nach M. und dann nach Hause. Da kommen wir um 1 Uhr 15 an. Tja, das also war er, mein 18. November 2005.


    Wer das Alltagsleben dokumentieren und analysieren will, muss sich nicht nur auf die philologische Untersuchung von Texten verstehen. Soziologische Fragen liegen auf der Hand, historische, psychologische und so weiter. Die Volkskunde braucht methodisches Handwerkszeug aus vielen Disziplinen - und Professor Mohrmann ist stolz, dass ihr Fach tatsächlich Nachwuchs aus vielen Nachbar-Disziplinen anzieht:

    "Bei uns wechseln relativ viele Studierende von der Kunstgeschichte, Soziologie und Geschichte, weil die sagen: "Bei Ihnen ist das viel spannender, bei Ihnen kommt man viel dichter an den Menschen heran, und dort werden uns Fragen beantwortet, die wir uns in den anderen Disziplinen auch stellen, die aber nicht beantwortet werden.""

    Der Stoff geht über schriftliche Aufzeichnungen weit hinaus: Untersucht werden Kulturtechniken vom Schuheflechten bis zu Tischmanieren, soziale Trends von der Esoterikwelle bis zur neuen Geselligkeit. Die Volkskunde versteht sich als eine umfassende Wissenschaft vom Zusammenleben der Menschen.

    "Wir wollen mehr über die Menschen erfahren und insofern ist eben die Kleidung, in denen Menschen auftreten, das Interieur, mit dem sie sich in ihren Wohnungen umgeben, ist die Art, wie sie Geräte benutzen, mit welchen Manieren sie miteinander umgehen, etwas, was sehr viel über die Menschen aussagt und was gegebenenfalls nicht nur über die Gesellschaft uns Aufschlüsse gibt, sondern auch über den jeweiligen Zeitgeist. "

    Schützenfest 2006 in Neuss am Rhein, angeblich das größte Stadt-Schützenfest der Welt: ein Thema für die Volkskunde und ein verblüffendes Beispiel für den Zeitgeist - auch wenn Volkskundler das Thema zuerst aus historischer Perspektive erschließen.

    "Das ist jetzt eine der Kompanien gewesen. Die sammeln sich jetzt an verschiedenen Punkten und ziehen dann zum Marktplatz, wo der Zug gleich starten wird. Das waren die Scheibenschützen. Die tragen die älteste Tradition des Schützenwesens in Neuss weiter, die schon auf 1415 wirklich sich datieren lässt. "

    Die Gründungsurkunde der "Sankt Sebastianus-Bruderschaft" vom 1.November 1415 zeigt Britta Spies in einer Vitrine des Rheinischen Schützenmuseums Neuss. Damals schlossen sich die Bürger zusammen, um eine effektive Verteidigung für ihre Stadt zu organisieren, erklärt die Volkskundlerin, die das Museum leitet. Doch nach der Erfindung der Kanonen verloren die Bürger-Soldaten mit den Armbrüsten und Steinschlossflinten ihre Bedeutung.

    Die Schützenvereine heutiger Form, als Stätten des Schießsports und der Geselligkeit, bildeten sich Anfang des 19. Jahrhunderts. In Neuss wurde der Schützenverein 1823 wieder-gegründet: Zu dieser Zeit entstanden allenthalben Harmonie-, Sing- und Turnvereine, in Köln wurde im selben Jahr der Stadtkarneval begründet.

    Mit diesen Zusammenschlüssen meldeten die Bürger ihre politischen Ansprüche an - gegen die Herrschaft des Adels, die nach der Niederlage Napoleons gerade wieder restauriert worden war. Sie traten demonstrativ in einheitlicher Kleidung auf: Da ihnen die reale Macht verweigert wurde, trugen Schützen - ähnlich wie Karnevalisten - auf ihren Paraden fiktive, leicht parodistische Militär-Uniformen.

    "Da natürlich auch Geschlossenheit zu demonstrieren, in einer Stadt auch zu zeigen, wir sind die tragende Schicht und die Teilhabe an der Macht einzufordern, ich denke, das ist schon eine gute Strategie gewesen. Und vor allen Dingen, man hat es öffentlich tun können, es war keine Sache, die auf den Saal beschränkt war, sondern man ist öffentlich über Plätze und Straßen paradiert. "

    Die Veränderungen im Schützenwesen dokumentiert Dr. Spies in ihrem Museum. Es ist eine lebendige Ausstellung, denn die Königskette wird jedes Jahr aus der Vitrine entnommen, damit man sie dem neuen Schützenkönig umhängen kann. Orden aus rund zweihundert Jahren geben Auskunft über die persönlichen Biografien der Schützenkönige - zugleich spiegeln sie, wie sich die künstlerische Entwicklung in der alltäglichen Gebrauchskunst niedergeschlagen hat.

    Die traditionellen grauen Jacken der Scheibenschützen und die grünen der Jäger hängen im letzten Raum. Heute geht der Trend zu phantasievollerer Kleidung: Neugegründete Schützenzüge entschieden sich zum Beispiel für die Uniformen der Husaren oder die Kostüme mittelalterlicher Landknechte.

    In der Hochburg Neuss ist das Schützenwesen keine aussterbende Tradition: Junge Leute schließen sich zum Beispiel nach ihrem Schulabschluss zu einer Schützenkompanie zusammen. Der Spaß an der Verkleidung und der Wunsch nach Geselligkeit spiegeln offenkundig den Geist der Zeit:

    Sich mit dem Alltäglichen befassen und das Alltagsleben vor der eigenen Haustür beobachten, das ist die Aufgabe der Volkskunde. Alltag, das klingt für viele nach Langeweile, doch Volkskunde kann aktuell, praktisch und politisch sein. Sie kann das Brisante im Banalen finden.

    "Und vielleicht ist es auch das - wir haben ja gerade die WM hinter uns - dass wir wieder in einer Zeit leben, wo man das Bedürfnis hat, Gemeinschaftserlebnisse zu haben und auch Emotionen zu teilen. Und wir Deutsche haben uns durch unsere Geschichte ja lange dagegen gesträubt, so etwas wieder zuzulassen. Und ich denke, hier ist eine Möglichkeit, das man das machen kann und mit einem guten Gefühl machen kann."

    Ob es um die Quittenmarmelade beim Frühstück oder um die Gestaltung von Schützenorden geht, Volkskunde unterschiedet sich von vielen Nachbarfächern, weil sie sich dem Banalen verschrieben hat und nicht der Hochkultur. Auf dem Gebiet der Erzählforschung zum Beispiel betrachten die Wissenschaftler weniger die Weltliteratur als vielmehr die schmuddeligen Witze und boshaften Geschichten, die in der Kneipe erzählt oder durchs Internet verschickt werden.

    "Wir haben nie Berührungsängste."

    Diese Form der Alltagskultur kann auch hochpolitische, brisante Züge bekommen. Ein Kollege von Ruth Mohrmann untersucht das Bild des Islam in den Niederlanden, wie es sich in Witzen niederschlägt - und in diesem satirischen Lied:


    Wir werden bedroht von den Moslems,
    ja, wir haben Angst vor dem Islam.
    Wir werden bedroht von den Moslems,
    ihr Priester heißt Imam.


    Drei Kabarettisten entlarven durch die parodistische Zuspitzung ein klischeehaftes Bild von Moslems, das sich in den Niederlanden verbreitet hat - vor allem seit der Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh die Konflikte zwischen Einwanderern und alteingesessenen Bewohnern ans Licht brachte. Zugleich reflektiert das Lied die Angst vor weiteren Anschlägen.

    Ängste und Vorurteile gegenüber Moslems spiegeln sich auch in den Witzen, die Theo Meder vom Meertens-Institut, Amsterdam, untersucht. Er hört sie allerdings nicht in der Straßenbahn oder in der Kneipe, sondern er bekommt sie per E-Mail oder findet sie im Internet: Es sind Bilderwitze, eine Art Collagen, die am Computer aus Fotos und Reklamebildern zusammengebastelt werden, meist mithilfe des Programms Photoshop.

    "Dies ist eine Karte der Niederlande und darüber steht "Willkommen in Hollandistan". Es zeigt die niederländische Fahne, aber ein Halbmond und ein Stern sind als islamische Symbole hinzugefügt worden. Alle Ortsnamen hat man islamisiert: Amsterdam heißt jetzt Imam-sterdam, Koevorden wird Couscousvorden genannt, das ist ganz witzig, aber viele Namen verbinden den Islam mit Gewalt wie Bier-Osterhout, das heißt Pi-L-O, und Anti-America und Hijack undsoweiter. ".

    Ein anderes Beispiel zeigt Osama Bin Laden verkleidet als Nikolaus mit roter Mütze und weißem Bart, dazu den Text "Ich bin untergetaucht". Weitere Collagen stilisieren den Provokateur Van Gogh zum Freiheitskämpfer: Man montierte sein Bild in ein bekanntes schwarz-rotes Guevara-Poster. Oder auf einem Zigaretten-Päckchen - van Gogh war ein starker Raucher - wurde der Warnhinweis zu der Zeile verändert "Redefreiheit kann tödlich sein."

    Sind das harmlose Scherze oder ist es gezielte Stimmungsmache? Immer wieder variieren die Collagen das Thema, gewalttätige Moslems könnten das Land dominieren. Reflektieren sie eine Grundstimmung in den Niederlanden?

    Ähnlich wie bei mündlich verbreiteten Witzen lassen sich die Urheber nicht mehr ermitteln. Dr. Meder konnte nur beobachten, dass der Trend mit Beispielen aus den USA begann. Inzwischen haben aber die niederländischen Bilderwitze deutlich zugenommen. Der Forscher betrachtet sie als neue Form von Alltagskunst. Ihre gesellschaftliche Funktion ist mit der herkömmlicher Witze vergleichbar:

    "Wenn etwas Schlimmes passiert ist, ein Desaster oder ein terroristischer Anschlag, braucht man Witze, um die Spannung loszuwerden und die Ängste zu kanalisieren. Es ist eine spezielle Art, mit ernsten Problemen fertig zu werden. "

    Umfragen bestätigen jedoch, dass über ein Drittel der Niederländer Moslems grundsätzlich negativ gegenübersteht. Zugleich erklärt der überwiegende Teil der Befragten, dass sie noch nie einen Moslem persönlich kennengelernt haben. Daher erinnert Meder daran, dass Witze auch eine andere Funktion bekommen können: Wenn sie ein Vorurteil nur oft genug wiederholen, werden sie zu politischer Propaganda.

    "Witze können auch eine untergründige Botschaft transportieren, die hängenbleibt. Wenn man sich etwa im 19. und zu Anfang des 20.Jahrhunderts die Rolle der Juden in Märchen, Sagen und Witzen ansieht, dann sind sie nicht gerade beliebt - man kann daran schon fast ablesen, was kommen wird. ".

    Anti-moslemische Bilderwitze sind ein Trend in der vielfältigen, dynamischen Welt des Internets. Wie groß ihre gesellschaftliche Bedeutung ist, ob sie eine gefährliche Stimmung unter alteingesessenen Niederländern wiedergeben, müssen weitere Forschungen noch klären.

    Doch das Beispiel aus Amsterdam zeigt: Volkskunde kann aktuell, praktisch und politisch sein. Sie kann das Brisante im Banalen finden.