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Auf der Suche nach dem großen Glück

Inspiriert von seiner Arbeit als Drehbuchautor lässt Stefan Knösel in seiner spannenden Kriminalgeschichte alle Akteure gleichwertig zur Sprache kommen. Der ständige Wechsel der Erzählperspektive wirkt zunächst sprunghaft, fesselt den Leser jedoch bis zum großen Showdown.

Von Ina Nefzer |
    Ein Roman wie ein Drehbuch.
    Erste Einstellung, Prolog, kursiv: Sie kommt gerade aus der Dusche, als der Lebensgefährte ihrer Mutter plötzlich vor ihr steht, die Badezimmertür abschließt und sagt "Ich liebe dich!"

    Szenenwechsel 1. Kapitel: "22. Dezember, 15:43 Uhr" - eine Zeitangabe, auf die Sekunde genau: Simon joggt durch ein Waldstück am Rande der Autobahn, da fällt ihm ein Fahrzeug vor die Füße. Wie in Zeitlupe sieht er es durch die Luft fliegen und in einen Baum krachen. Am Steuer ein schwer verletzter Mann, im Kofferraum ein Mädchen und: eine Tasche voll Geld, viel Geld. Sabrina, das Mädchen, überredet ihn, die Tasche mitzunehmen. Als Pfand behält sie ein Foto, Namen und Adresse. "Über die Belohnung reden wir beim nächsten Mal", sagt sie. Szenenwechsel:

    Afrim brachte den Streifenwagen etwa einen Kilometer hinter dem Parkplatz auf der Standspur zum Stehen - schneller hatte er es nicht geschafft, bei den Schneeverhältnissen und dem Lkw-Verkehr auf der rechten Spur. Er konnte es immer noch nicht glauben. Der Typ musste komplett wahnsinnig sein! Afrim war bis auf eine Wagenlänge an ihn herangekommen, mit Blaulicht und heulender Sirene - und dann bricht der Typ in voller Fahrt auf einmal nach rechts aus. Sollten die Kollegen ihn von den Bäumen kratzen. Die ersten waren schon im Anmarsch, bestimmt acht Wagen mit schreienden Sirenen. Andere würden noch folgen nach der Meldung über den Geldtransport. Er hatte seinen Job erledigt. Hatte über Funk durchgegeben, wo der Parkplatz war - jetzt brauchte er erst mal eine Zigarette, bevor er in seinem Adrenalin ertrank.

    Alle zwei, drei, manchmal vier Seiten eine neue Perspektive, so wird ein Erzählstrang vom nächsten abgelöst. In Stefan Knösels zweitem Roman "Jackpot" kommt - so kann man sagen - wirklich jeder persönlich zu Wort, der in der Geschichte eine Rolle spielt. Und das sind nicht wenige:
    Da ist Afrim, der als junger Polizist in einen Fall gerät, der viel zu groß für ihn ist und Katrin Menschick, seine egoistische, fiese Chefin - wahrlich ein originelles Ermittler-Duo. Dann Sabrina, das Mädchen, hinter der alle her sind, und zwei Brüder - Chris und Phil, deren Vater nach dem Tod der Mutter den Boden unter den Füßen verloren hat. Zudem die Mitglieder einer Jugendbande, die zum Teil aus Hartz-IV-, zum Teil aus Migrantenfamilien stammen. Und nicht zuletzt der vierzigjährige Fahrer des Unfallwagens: Kriebl, der mit Sabrina und dem Geld gern ein neues Leben anfangen würde.

    Sie alle sind - vordergründig - auf der Suche nach dem Millionengewinn, dem Jackpot. Ein solches Kriminalgeschehen multiperspektivisch zu konstruieren, dazu inspirierte Stefan Knösel seine Arbeit als Drehbuchautor:

    "Ich hab mir mit "Jackpot" vorgenommen, ein ganz spannendes Buch zu schreiben. Das man am besten nicht mehr aus Hand legen kann. Es ist - man könnte sagen - geschrieben wie ein sehr ausführliches Drehbuch mit verschiedenen Off-Stimmen, weil ich eben auch in die Charaktere, in deren Gedanken hineingehe. Aber es sind eben auch keine episch langen Geschichten, sie spielen beide in einem sehr kurzen Zeitraum - ja, es ist wie ein Film, der sich im Kopf abspielt!"

    Tatsächlich geben die kurzen, schnell hintereinander geschnittenen Erzählstränge der Handlung etwas Sprunghaftes und Atemloses, das den Leser bis zum spannungsgeladenen Showdown fesseln dürfte. Vorausgesetzt, er lässt sich auf die ständigen, kaum gekennzeichneten Perspektivwechsel ein und denkt mit! Üblicherweise wird ein Kriminalgeschehen - ob in Film oder Literatur - aus nur einer Perspektive entwickelt, meist der des Ermittlers, manchmal auch der des Täters. Doch statt auf diese Weise den einen, den sogenannten roten Handlungsfaden zu enthüllen, legt Knösel viele Fäden aus, darunter auch falsche Fährten. Weder die Buchfiguren noch die Leser wissen oft und manchmal auch über lange Strecken, wer hier eigentlich die Wahrheit sagt, wem man trauen kann, wer echt ist und wer lügt? Denn bei der Jagd auf die Millionen geht es genau genommen bei allen Beteiligten um die Suche nach der Wahrheit - nur auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlichsten Gründen! Das gilt selbst für den Autor:

    "Also, auch ich befinde mich da auf diesem schmalen Grad zwischen Wahrheit und Lüge in meiner Beziehung zum Leser natürlich. Diese ganze Geschichte, wo jetzt das Geld ist, diese ganzen Wege, die die Charaktere gehen, Fluchtwege und so weiter. Das funktioniert nur dort, wo die Geschichte auch spielt, in diesem nördlichen Teil von München. Das ist auch alles realistisch in dem Zeitrahmen zu machen und abzugehen."

    So sorgfältig "Jackpot" recherchiert und als verzwickte Story konstruiert ist: Eindeutige, klare Botschaften gibt es so wenig wie die Guten oder den Bösen. Alle Figuren sind mehr oder weniger verstrickt und befinden sich - im besten Fall - in einem Entwicklungsprozess. So wird unversehens aus diesem Krimi ein Adoleszenzroman. Hier wie dort sind die Protagonisten auf der Suche danach, was wahr und echt ist, nach Menschen, denen man vertrauen kann, nach dem richtigen Weg zum Glück: dem wahren Jackpot. Und der bedeutet für jeden etwas anders. Nun wird klar, warum der Autor die multiperspektivische Darstellungsform wählte: Lassen doch die unterschiedlichen Ansichten tief blicken. Man erfährt so - oft mehr indirekt, als direkt - vieles über die ganz persönlichen Motive der Figuren und ihre individuellen biografischen Hintergründe. Dadurch gewinnt die Handlung an psychologischer Tiefe und an Horizont. Spielt doch das Ganze an einem Ort, der zumindest für Münchner Verhältnisse, als sozialer Brennpunkt gelten kann: im Hasenbergl.

    Differenziert erzählt Knösel von Jugendlichen und ihren Familien, die dort - manchmal auch nur für eine gewisse Zeit - leben, weil sie in der Klemme stecken, das Schicksal es nicht gut mit ihnen gemeint hat. Wie bei Chris und Phil:

    "Was die Eltern der Brüder angeht: Da hast du eine Traumfamilie und dann passiert ein Unfall, aus dem heiteren Himmel passiert irgendwas. Und mit einem Schlag kann alles vorbei sein. Es war mir einfach wichtig, dass die Jungs, die Brüder da zusammenhalten. Dass die in der Geschichte quasi rausfinden, lernen oder wie auch immer: Das Wichtigste sind sie bzw. der andere und dann kommt erst mal eine Tasche voll Geld, Schulnoten oder whatever. Darum ging’s mir da."

    Das Einzige, was an diesem Roman kritisch gesehen werden muss, sind sein Cover und der Untertitel "Wer träumt, verliert". Beiden sollte man, um beim Wahrheit- oder Lüge-Spiel des Romans zu bleiben, nicht über den Weg trauen. Besonders das Mädchen, das auf dem Foto dem Leser motzig entgegenblickt, hat so gar nichts vom Sex-Appeal und nassforschen Charme der Sabrina im Buch. Mehr Sein als Schein - dies Schicksal könnte "Jackpot" bei einer neuen Auflage leicht erspart werden!

    Stefan Knösel: Jackpot. Wer träumt, verliert. Roman, Beltz & Gelberg 2012, 13,95 Euro.