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Auf der Suche nach den Tätern

Deutschland nach Kriegsende: Was sollte mit einem Land geschehen, dessen Bürger zwölf Jahre unter einer Diktatur gelebt hatten, von dem der grauenvollste Krieg aller Zeiten ausgegangen war? Diesen Fragen geht FrederickTaylor in seinem Buch "Zwischen Krieg und Frieden" nach. Aus der Sicht der Besatzer und der Besetzten erzählt er die historischen Ereignisse der Jahre 1944 bis 1946.

Von Otto Langels | 19.09.2011
    Frederick Taylor leitet seine Darstellung mit einer Episode aus dem März 1945 ein: Im besetzten Aachen ermordete eine kleine Werwolf-Truppe den von den Alliierten eingesetzten Bürgermeister. Den Nationalsozialisten galt er als Verräter und Kollaborateur. Was als Fanal gedacht war, blieb jedoch ein Einzelfall. Die "Werwolf"-Gruppen traten als Untergrund-Organisation kaum in Erscheinung. Dennoch befürchteten die Alliierten eine Zeitlang, dass sie in den eroberten Gebieten von fanatisierten Hitlerjungen aus dem Hinterhalt angegriffen werden würden. Die Aachener Episode illustriert die Schwierigkeiten, vor denen die Alliierten bei ihrem Vormarsch standen: Wie sollten sie einem Volk begegnen, das offensichtlich kriegsmüde und desillusioniert war, aber – so Frederick Taylor – nicht gegen das Hitler-Regime aufbegehrte und unberechenbar schien.

    "Der bizarrste Aspekt des deutschen Abstiegs in die Hölle war die Tatsache, dass so viele bis zum Ende weiterkämpften und für den vermeintlichen Sieg arbeiteten. Dies lag zum einen daran, dass die Deutschen, anders als im Ersten Weltkrieg, nicht hungerten – damit sie es nicht taten, mussten allerdings viele in den besetzten Ländern hungern. Zum anderen war das nationalsozialistische Deutschland gegen Kriegsende ein wesentlich rigider und rücksichtsloser regiertes Land als das Kaiserreich."

    Der "totale Krieg", zu dem das NS-Regime aufgerufen hatte, der Kampf bis zum bitteren Ende, provozierte undifferenzierte Reaktionen der Alliierten. Stalin hatte bereits 1943 - möglicherweise scherzhaft - vorgeschlagen, 50.000 führende Nazis summarisch hinzurichten. Churchill wollte hohe NS-Führer und Kriegsverbrecher standrechtlich erschießen lassen. Die Rufe nach einer erbarmungslosen Bestrafung nahmen zu, als englische Zeitungen 1945 die ersten Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern veröffentlichten.

    "Die meistgelesene konservative Zeitung, der Daily Express, zeigte am 1. Mai in einer Freiluftausstellung auf dem Trafalgar Square unter dem Titel 'Sehen heißt glauben' Fotos von Konzentrationslagern. 'Nachdem ich die Ausstellung gesehen habe', sagte ein Besucher, 'meine ich, dass wir alle Deutschen erschießen sollten. Es gibt nicht einen einzigen Guten unter ihnen.'"

    Die Alliierten entschieden sich bekanntlich anders und stellten die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg vor ein internationales Militärtribunal. Aber sollte ein ganzes Volk auf die Anklagebank? Sollten die Deutschen 1945 noch härter bestraft werden als nach dem Ersten Weltkrieg? Der Versailler Vertrag hatte ja gezeigt, dass eine als ungerecht und unerträglich empfundene Bürde in eine braune Diktatur münden konnte.

    "Entzug und Entbehrung – das waren die Signale, mit denen die Alliierten den Deutschen sagten: Ihr seid unvorstellbar schlecht, und wir sind gut. Ihr werdet eine unabsehbare Zeit damit verbringen, zu leiden, Befehlen zu gehorchen und euch zu läutern. Umgekehrt entgegnete die deutsche Bevölkerung: 'Ihr habt während des ganzen Krieges von Freiheit gesprochen, aber jetzt bringt ihr uns nur Einschränkungen und absichtlich herbeigeführtes Leid.' Wollt ihr uns noch mehr leiden lassen, als wir es bereits tun? Ja, der Krieg war schlimm. Aber wir sind nicht nur das Volk von Hitler und Himmler, sondern auch dasjenige von Beethoven und Goethe."

    Die Alliierten entschieden sich für drastische, aber letztlich erfolgreiche Maßnahmen: Sie übernahmen die absolute Kontrolle, entmilitarisierten das Land und führten politische Säuberungen durch. Bekanntlich führten sie nicht alle Maßnahmen konsequent zu Ende. Insbesondere die Entnazifizierung verkam rasch zu einer Farce.

    "Die häufig gutsituierten Nationalsozialisten konnten sich gerissene Rechtsanwälte leisten, die mit den ungeübten und häufig schlecht ausgebildeten Mitgliedern der Spruchkammern leichtes Spiel hatten. Es regnete förmlich "Persilscheine", wie die entlastenden Entnazifizierungsscheine im Volksmund genannt wurden. Die in weiten Kreisen verhassten Spruchkammern erwiesen sich als derart nachsichtig, dass sie scherzhaft "Mitläuferfabriken" genannt wurden."

    Im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen wurden zum Beispiel von 12 Millionen Einwohnern nur 90 in die beiden höchsten Kategorien der Hauptbeschuldigten und schuldig Belasteten eingestuft. Demokratisch, stabil und produktiv wurde der Westen Deutschlands dennoch, vor allem, weil die USA mit dem Marshallplan den – so Taylor – "wohl berühmtesten Plan der modernen Geschichte" vorlegten und damit die "Reinkarnation Deutschlands" zu einem friedlichen und wohlhabenden Land ermöglichten. Frederick Taylors Augenmerk gilt der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Mitunter erlaubt er sich aber auch kritische Anmerkungen zur Gegenwart.

    "Wer hätte vor über 60 Jahren gedacht, dass zwei dieser Westmächte im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wiederum vormals souveräne Staaten militärisch besetzt halten würden? Und wer hätte vorausgesagt, dass diese Besatzungen nach den lehrreichen Erfahrungen von 1945 so holprig, ungeschickt und grausam problematisch sein würden?"

    Bemerkenswert ist Frederick Taylors Darstellung, weil er die dramatischen Jahre bis 1944 aus der Perspektive der Alliierten und der Deutschen schildert. Taylor ist ein großer Geschichtenerzähler. Er liefert in seinem Buch keine neuen Erkenntnisse, aber viele kleine Begebenheiten bündelt er zu einer lesenswerten Gesamtgeschichte. Er beschreibt das Entsetzen der alliierten Soldaten beim Anblick überlebender KZ-Häftlinge, den Hunger der Bevölkerung in den zerbombten Städten, die Massenvergewaltigungen von deutschen Frauen durch Rotarmisten. Der Autor entwirft ein vielschichtiges Bild, doch er verliert nicht den Blick für die großen Zeitfragen wie die Demokratisierung Deutschlands, den Ausbruch des Kalten Krieges oder die Probleme der Entnazifizierung.

    "Haben die Deutschen Hitler ausgetrieben? Vielleicht sollten sie selbst die Antwort darauf geben."

    Mit dieser vagen Aussage entlässt Frederick Taylor den Leser. Die Bemerkung findet sich am Ende eines knappen Epilogs über die historische Entwicklung Deutschlands bis in die Gegenwart. Auf die kursorischen Ausführungen zu einem halben Jahrhundert Nachkriegsgeschichte hätte Taylor vielleicht besser verzichten sollen, aber sie schmälern nicht den Gesamteindruck eines gut geschriebenen und anregenden Buches.

    Frederick Taylor: "Zwischen Krieg und Frieden. Die Besetzung und Entnazifizierung Deutschlands". Berlin Verlag, 544 Seiten, 28 Euro
    ISBN 978-3-827-01011-7