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Auf der Suche nach den verlorenen Schriftzeichen

Archäologie. - Keilschrifttafeln gehören zu den ältesten Dokumenten der Zivilisation. Damit sie übersetzt werden können, müssen Altertumswissenschaftler die Keilabdrücke zunächst auf Papier bringen, um dann mit den Schriftzeichen weiter arbeiten zu können. Das braucht erstens viel Zeit und zweitens sind solche Tafeln nicht immer zu 100 Prozent lesbar. Ein Computerprogramm unterstützt die Forscher jetzt.

Von Martina Preiner | 26.11.2010
    "Gilgamesch, seit dem Tage, an dem er geboren wurde, ist sein Name herrlich.
    Zwei Drittel an ihm sind Gott, ein Drittel nur Mensch.
    Das Bild seines Leibes hat ihm die Mach…"
    "Lücke…"
    "Sie bereitete seine Gestalt…"
    "Lücke"
    "...ist prächtig"
    "Zeile fehlt"
    "Zeile fehlt"
    "In den Hürden von Uruk geht er einher,
    Wilde Kraft setzt er ein gleich dem Wildstier, erhabenen Schrittes!"


    Das Gilgamesch-Epos über den einstigen König der sumerischen Stadt Uruk. Die ursprüngliche sumerische Fassung wurde vor über 4000 Jahren mit einem Schreibgriffel in Lehmblöcke gedrückt. Wenn Licht darauf fiel, konnten diese dreidimensionalen Schriftzeichen gelesen werden. Im Laufe der Zeit verwitterten die Tontafeln. Die Griffeleindrücke wurden flacher und flacher. Das menschliche Auge kann die Schriftzeichen heute nur noch sehr schwer oder gar nicht erkennen – das führt zu Textlücken. Hubert Mara, Informatiker am Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen der Universität Heidelberg hat einen Weg gefunden, wie man den verwitterten Schriftzeichen ihre Bedeutung entlocken kann.

    "Durch Krümmungen. Also im Prinzip misst der Computer für jeden Punkt der Oberfläche, wie stark konkav oder konvex die Oberfläche ist. Und die Schriftzeichen haben einen bestimmten Wertebereich, bei dem man sagen kann, welche Punkte an der Oberfläche zu einem Zeichen gehören, und welche nicht."

    Um die Stärke der Krümmungen messen zu können, braucht man lediglich einen 3D-Scan der Lehmtafel – eine Praktik, die schon vor einigen Jahren Einzug in die Archäologie gehalten hat. Ein einzelner Keilabdruck sieht ein bisschen so aus wie ein umgedrehtes, spitzwinkliges Dreieck. Diese Form kann Hubert Maras Programm anhand von vier Punkten als Schriftzeichen identifizieren. So unterscheidet es die Keilabdrücke von anderen, zufälligen Kuhlen in der Schrifttafel. Dann macht der Computer etwas, das bisher mühsam per Hand getan werden musste: Er überträgt den Keilschrifttext auf Papier – auf mathematischem Wege. Mara:

    "Jeder Keil hat eine Umrisslinie, die ein Krümmung besitzt. Darauf kann man dann eine Kurvendiskussion machen wie man sie aus der Mittelschule kennt. Man versucht dann Extrempunkte, also die Eckpunkte des Keiles zu finden und auch den tiefsten Punkt in dem Zeichen. Und wenn man diese Punkte dann nach bestimmten Vorschriften verbindet, bekommt man die Schriftzeichen, die auch ein Zeichner machen würde."

    Die Papierausgabe der Schrifttafel benötigen Historiker für die Übersetzung. Somit spürt das Programm nicht nur verlorene Schriftzeichen auf, sondern erleichtert Archäologen und Assyriologen die Arbeit. Ersetzen soll es sie nicht. Mara:

    "Mit dieser Methode machen wir auf jeden Fall niemanden arbeitslos. Wir erleichtern nur die Arbeit der Kollegen, die diese Texte übersetzen."

    In manchen Fällen beschafft das Programm Altertumsforschern sogar Arbeit. Mit einem Kollegen will Mara zum Beispiel sämtliche Lehmtafeln und Kunstobjekte im Vorderasiatischen Museum Berlin scannen und dann in eine zweidimensionale Form bringen. Da das Museum kurz vor dem Umbau steht, werden die Exponate bald für Jahrzehnte in unübersichtlichen Lagern verschwinden. Bei der Archivierungsaktion müssen sich die Informatiker nicht nur auf Keilschriftartefakte beschränken. Das Programm funktioniert auch bei 3D-Scans von anderen Schriften.

    "Wir haben das auch versucht am jüdischen Friedhof in Worms. Das ist einer der ältesten jüdischen Friedhöfe. Da war eine verwitterte Inschrift, in etwa aus dem 12. Jahrhundert, kaum noch lesbar. Mit diesem Verfahren konnte man ungefähr 25 Prozent der Zeichen wieder sichtbar machen."

    Die Auswertung der Oberflächen ist dabei so genau, dass auf Lehmtafeln selbst so feine Strukturen wie Fingerabdrücke ausfindig gemacht werden können. Die Form der Fingerabdrücke kann dann wiederum Aufschlüsse über den Keilschreiber geben. Kein Wunder also, dass man das Programm in Anlehnung an den großen sumerischen Herrscher Gilgamesch benannt hat – GigaMesh.