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Auf der Suche nach Europas Seele

Der niederländische Publizist Geert Mak hat eine Reise durch Europa unternommen und im Ergebnis eine grandiose Erzählung vorgelegt. Das Fazit seines fast 1000 Seiten schweren Werkes "In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert" klingt ernüchternd: Obwohl sich die Europäer ihrer Gemeinsamkeiten deutlicher bewusst seien und enger miteinander im Kontakt stünden als je zuvor, hätten sie im Frühjahr 1914 kulturell eher eine Einheit dargestellt als heute, 90 Jahre später.

Von Adam Krzeminski |
    Geert Mak unternahm seine Reise durch das 20. Jahrhundert in einem Minibus. Ein Laptop gehörte zum Gepäck, 15 Kilo Bücher und die "Encyclopaedia Britannica" auf CD-Rom. Auf der Route standen im Januar 1999 die Metropolen der Belle Époque: die Weltstadt par excellence – Paris, das damalige reale Machtzentrum London, der Parvenü Berlin und auch das zukunftsabgewandte Wien. Im Februar bereist er dann die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges, Ypern und Verdun und spricht mit dem Prinz von Preußen über seinen Großonkel Wilhelm II. Im März folgt er der ominösen Reise Lenins vom Frühjahr 1917 im plombierten Waggon quer durch Deutschland und dann über Skandinavien nach Petrograd; Lenin war damals die Geheimwaffe des deutschen Generalstabes, der den Kriegsgegner Russland präziser zermürbte als die "Dicke Berta" Paris. Im April besichtigt Mak die beiden deutschen Revolutionen der Zwischenkriegszeit – die rote und die braune - und im Mai den spanischen Bürgerkrieg.

    Und so geht es weiter, das ganze Jahr lang: Im Sommer der Zweite Weltkrieg, zuerst im Westen, dann der Vernichtungskrieg im Osten. Im Herbst die Nachkriegszeit und im Winter die Selbstbefreiung Ostmitteleuropas vom Kommunismus und das Desaster auf dem Balkan, mit der – was Geert Mak besonders zerknirscht - blamablen Rolle der holländischen UNO-Soldaten bei Srebrenica. Das Jahrhundert endet in Europa scheinbar so, wie es anfing: mit der Vision einer versöhnenden Interdependenz und mit einem Krieg. Allerdings nicht ganz. Fünf Jahre später – schreibt Geert Mak 2005 im Epilog - sei Europa schon wieder schillernd anders. Der Krieg im Kosovo sei so gut wie vergessen, dafür gebe es einen im Irak. Die Terroranschläge in Madrid und London, aber auch die Ermordung von Theo van Gogh in Amsterdam zeigten, dass Europa keineswegs die Sonnenseite der Geschichte erreicht habe. Die Ostmitteleuropäer seien in der EU, dafür aber sei die Verfassung ausgerechnet an Kerneuropäern – den Franzosen und Holländern – gescheitert.

    "Ich hätte diesen Bericht gerne mit einem glücklichen Ende abgeschlossen, diese Geschichte, die von Walther Rathenau, Harry Kessler, Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Jean Monnet erzählt, und auch von Juri Klejiner, Hans Krijt, Anna Bikont, Vitor Alves, Zelimir, der Familie Winkler und anderen. Aber so weit sind wir noch lange nicht."

    Obwohl sich die Europäer ihrer Gemeinsamkeiten deutlicher bewusst seien und enger miteinander im Kontakt stünden als je zuvor, hätten sie im Frühjahr 1914 kulturell eher eine Einheit dargestellt als heute, 90 Jahre später, befindet Geert Mak am Ende seiner großen Erzählung. Trotz der neuen Medien und der Freizügigkeit, trotz der Katastrophe der beiden Welt- und eines Kalten Krieges nähmen sie nur oberflächlich Notiz voneinander. Die Europäische Union sei als Wirtschaftsgemeinschaft ein großes Stück vorangekommen. Sie sei aber zum Scheitern verurteilt, wenn "nicht rasch ein gemeinsamer kultureller, politischer und vor allem demokratischer Raum" entstehe. Europa brauche die Verzahnung unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Erinnerungen und die einfache Empathie:

    "Wir haben einander noch ziemlich viel zu erzählen und zu erklären, und damit stehen wir noch ganz am Anfang."

    Geert Mak präsentiert sich als Politologe und Historiker, doch er ist vor allem ein gestandener Reporter und glänzender Essayist. Sein Europa ist keine Kopfgeburt, er konstruiert es nicht allein aus Büchern und Denkschriften, sondern mit – ja, das kann man ruhig sagen – mit der Seele, mit Sachkenntnis und mit Herz und Gefühl. Geert Mak kann hervorragend beobachten, und er versteht es, seine Befunde mit großer sprachlicher Kraft auszudrücken, wie etwa die ständige europäische Ungleichzeitigkeit:

    "Auf den Fähren in Istanbul herrscht das Jahr 1948, in Lissabon 1956. An der Gare de Lyon in Paris fühlt man sich wie im Jahr 2020; und in Budapest haben junge Männer die Gesichter unserer Väter."

    Nachdenkliches – wie der Vergleich der Generäle de Gaulle und Franco – geht Hand in Hand mit frivolen Pointierungen, etwa wenn Geert Mak Barcelona mit einer "schlampigen Frau mit wundervollen Augen" vergleicht. In Wien kann er sich nicht vorstellen,

    "dass diese Stadt sich noch fortpflanzt, dass man hier noch miteinander ins Bett geht, dass unter all diesen Hüten und vernünftigen Kostümen noch Körper stecken."

    In Warschau sieht er eine Stadt der Gedenksteine,

    "vielleicht, weil es nichts anderes mehr gibt."

    Solche Sätze sprühen in Geert Maks Buch wie Funken. Maks Europa wird selten beim Namen genannt, wir müssen es selbst aus den geschilderten Mosaiksteinchen zusammensetzen. Es ist ständig vom Vergessen bedroht und taucht dennoch wie ein unverwüstlicher Wiedergänger immer wieder auf, mal in den bruchstückhaften Überlieferungen eines ungarischen Bauernburschen, den die Alliierten irgendwo in Deutschland im Kriegsgefangenenlager festhielten, mal im kollektiven Gedächtnis ganzer sozialer Schichten, die die Revolution enteignete oder – umgekehrt – an die Fleischtöpfe brachte, oder aber ethnischer Gruppen, die über Generationen verfolgt oder – umgekehrt – privilegiert waren, und schließlich ganzer Nationen, die wie ein Schwindsüchtiger die glorreichen Mythen ihrer Geschichte inhalieren oder - umgekehrt – sich an den Verbrechen ihrer Vorfahren reiben müssen.

    Maks Europa ist wie der zerbrochene Spiegel in Andersens "Schneekönigin", dessen Splitter im Auge eines Jungen seine Seele gefrieren lässt. Nur Mitgefühl, Empathie, die Wahrnehmung ferner Katastrophen und fremder wie eigener Leiden können uns von dieser eisigen Starre erlösen und unseren gemeinsamen europäischen Teufelskreis durchbrechen. Die Narben der Splitter wird man nicht los, aber mit ihnen könnte man leben.

    Geert Mak hat bei seiner Reise durch Zeit und Raum klare Marschrouten gesteckt: Es ist die Topographie der Selbstzerstörung Europas im 20. Jahrhundert durch zwei Weltkriege und zwei Totalitarismen sowie des Triumphs der Demokratie in der letzten Dekade. Bei näherem Beschau erweist sich letzterer allerdings nur als ein bedingter Triumph, handelt es sich doch eher um eine melancholische Aufhebung als um eine Überwindung der grausamen Geschichte. Die Splitter tun weh. Natürlich lässt sich der Schmerz durch örtliche Betäubung lindern. Dann nimmt man das Ungeheuere wahr - und fährt weiter. Nichts wie weg hier, auch die Fahrt heilt. So ist Geert Maks "In Europa" auch eine vorzügliche "road novel", das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles.

    Die Aborigines, die mit dem Minibus besuchten Teileuropäer, greifen trotzdem gierig nach dem Spiegel des opulenten Buches, um sich darin zu beschauen, doch hier und da erkennen sie sich nur fragmentarisch oder gar recht verzerrt wieder. Das gilt besonders für den ostmitteleuropäischen Aspekt der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert, zu dem Geert Mak keinen passenden Schlüssel fand. Dass ihm einige grobe sachliche Schnitzer unterlaufen sind, etwa wenn er Wilna bereits in der Zwischenkriegszeit der Republik Litauen statt Polen zuschlägt, ist ärgerlich, denn es beweist einmal mehr, dass es von den Niederlanden nach Litauen nach wie vor viel weiter ist als nach Lissabon, Kreta oder St. Petersburg. Geert Mak mögen diese Vorwürfe kalt lassen. Er kann erwidern, er habe keine Geschichte Europas geschrieben, sondern eine literarische Reportage, in der er seine eigenen Akzente gesetzt und Europa durch seine Brille gesehen habe. Und das sei legitim. Ist es auch, doch Europa ist ein überaus schwerer Brocken, sowohl für Historiker wie auch für Reporter.

    Ryszard Kapuściński – der polnische Reporter, der in den Fußstapfen Herodots schon Afrika und Russland, den Iran und Lateinamerika beschrieben hat, meinte einmal, dass Europa für jeden Reporter eine riesige Falle sei. Hier – wo jedes Kaff in zahllosen Archiven riesige Dokumentationen besitzt, wo Liebe und Hass in Hunderten von Sprachen und Dialekten zum Ausdruck gebracht werden und wo jeder jedem über den Zaun in die Suppe schaut – dem Faktischen tatsächlich gerecht zu werden, sei eine schiere Unmöglichkeit. Aus einem ähnlichen Befund zog allerdings Norman Davies, ein Walliser Historiker, einen umgekehrten Schluss: Als er seinen großen Wurf "Europe. A History" begann – so erzählt er –, habe er auf einem riesigen Tisch Hunderte von Zettel ausgebreitet, auf denen alle von der herkömmlichen Geschichtsschreibung vergessenen oder unterschlagenen Ethnien, Gruppen und Minderheiten standen, von den Ruthenen über die Weißrussen, Katalanen und Korsen bis zu den Sinti oder Pruzzen. Sie alle wollte er angemessen berücksichtigen. Die europäische Geschichte, so sein Credo, dürfe nicht länger allein die der fünf Groß- und einer Hand voll Mittelmächte sein.

    Geert Mak hat ähnliches versucht, doch sein Europa des 20. Jahrhunderts bleibt letztendlich recht traditionell das der großen Metropolen, der großen Mächte, der großen revolutionären Stürme, kurzum: der unheilvollen Meteoreinschläge, die europaweit Wellen schlugen und in den entlegensten Dörfern Anatoliens, Kretas, oder des Baskenlands ebenso Erdbeben nach sich zogen wie in den Megastädten Europas. Doch die Eigenleben der Regionen jenseits des "europäischen Bürgerkrieges", jenseits auch des Niedergangs der europäischen Groß- und Kolonialmächte sowie des Zerfalls der multiethnischen Staaten, vom Osmanischen und Habsburgischen Reich bis hin zur Sowjetunion und zu Jugoslawien bleiben unterbelichtet.

    Das Buch beginnt und endet mit einer Stippvisite in einem ungarischen Dorf. 1999 freuten sich die Leute in Vásárosbéc auf den EU-Beitritt. Fünf Jahre später sind sie nüchterner; die Dorfkneipe gibt es nicht mehr, dafür aber ein nagelneues Kulturhaus, gefördert mit EU-Mitteln; sie dürfen ihre Schweine nicht mehr zu Hause schlachten, das aber spiele keine Rolle, weil die Jungen sowieso in die weite Welt abhauen. Europa habe durchaus eine Seele, scheint Geert Mak seinen Lesern sagen zu wollen, diese Seele sei aber zu sehr zersplittert, um in der EU wirklich heimisch zu werden. Aus niederländischer Perspektive mag das verständlich sein, aber die Niederlande gehören heute eher zum "weichen Kern", während die Menschen an den "harten Rändern" Europas – in Irland, Spanien, aber eben auch in Ostmitteleuropa – zuversichtlich sind, ihre europäische Chance zu bekommen. Aber das gehört schon zur Geschichte des gerade angebrochenen Jahrhunderts.

    Geert Mak: In Europa – Eine Reise durch das 20. Jahrhundert.
    Siedler Verlag, München 2005
    944 Seiten
    49,90 Euro