Wer von dem Fernsehturm auf die 17-Millionen Stadt hinunter schaut, der mag dies glauben. Während des vergangenen Jahrzehnts sind hier mehr als 4.000 Hochhäuser entstanden. Immer höher, schneller und moderner, lautet die Devise, die die ostchinesische Hafenstadt antreibt. Chinas Führer berauschen sich an den Superlativen, denen Shanghai nachjagt: das höchste Gebäude, die wichtigste Börse und die erste Formel 1-Strecke des Landes. Schon bald wird Shanghai um einen weiteren Superlativ reicher sein: die erste kommerziell genutzte Transrapidverbindung der Welt nämlich. Bis die Stadt in sieben Jahren die Weltausstellung ausrichtet, habe Shanghai noch viel vor, sagt Bürgermeister Han Zheng.
Im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik und insbesondere seit der Rede von Deng Xiaoping 1992 hat Shanghai sich rasant entwickelt. Heute ist Shanghai bereit für eine weitere Entwicklungsrunde. Langfristig soll Shanghai ein internationales Wirtschafts-, Finanz, Handels- und Transportzentrum werden. Um dies zu erreichen, werden wir uns noch stärker als bisher an internationalen Vorbildern orientieren. Bis 2020, so hoffen wir, wird Shanghai sein Ziel erreicht haben.
Shanghai spiegelt Chinas Streben nach Größe, nach Internationalität, aber auch nach Reichtum wider wie keine andere Stadt. Und sie setzt alles daran, den großen Rivalen Hongkong einzuholen. Seit China im Dezember 2001 der Welthandelsorganisation/WTO beigetreten ist, stehen die Karten dafür nicht schlecht. Als Drehscheibe für das Exportgeschäft beginnt Shanghai bereits, der ehemaligen Kronkolonie den Rang abzulaufen.
In weniger als einem Jahrzehnt hat die Stadt sich vom grauen "Entlein des Sozialismus" zur strahlenden Schönheit des Kapitalismus entwickelt. Im Großraum Shanghai werden 40 Prozent des chinesischen Bruttosozialproduktes erwirtschaftet. Nirgendwo sonst wird soviel ausländisches Kapital investiert. Knapp 30.000 ausländische Unternehmen sind mittlerweile in der Stadt vertreten. Immer mehr internationale Konzerne verlegen ihren Asiensitz nach Shanghai. Xu Kuangdi, der ehemalige Bürgermeister, hat maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen. Mit seiner liberalen Haltung beeindruckte er viele Investoren.
Seit der Zeit als ich 1992 das Amt des Bürgermeisters übernahm und Deng Xiaoping seine große Rede hielt, hat China sich komplett verändert. Das Land hat in dieser Zeit den Übergang von einer Planwirtschaft zu einer sozialistischen Marktwirtschaft vollzogen. Früher wurden 80% aller Entscheidungen von der Regierung getroffen. Und sie hat auch alle Preise bestimmt – egal ob es sich um eine Schachtel Streichhölzer handelte oder einen VW-Santana. Als ich 2001 abtrat, hat die Regierung dagegen nur noch drei Prozent aller Entscheidungen überwacht, die übrigen 97% aber werden vom Markt getroffen.
Shanghai ist das Schaufenster der chinesischen Reformpolitik. Wer das erste Mal hierher kommt, der denkt: China hat es geschafft. Gläserne Wolkenkratzerfassaden, ein hochmoderner Flughafen, internationale Restaurants und Geschäftsstraßen wie in New York oder Paris. Diese Glitzerwelt lässt nur allzu leicht vergessen, dass die Volksrepublik noch auf Jahre hinaus ein Entwicklungsland bleiben wird. Shanghai sei nicht China, betont Zhu Xueqin, einer der führenden Intellektuellen des Landes.
Shanghai, Hongkong, Tokio oder New York unterscheiden sich auf den ersten Blick nicht mehr. Aber sobald man sich 200 km von Shanghai Richtung Westen begibt, sieht man ein ganz anderes China. - Ein China, das 10 bis 15 Jahre hinter der Ostküstenregion hinterher hinkt. /
Auf einem Marktplatz in der alten Kaiserstadt Xi’an, 1.300 km nordwestlich von Shanghai, drängen sich Hunderte von Bauern und Arbeitlosen.
Es ist im wahren Sinne des Wortes ein Arbeitsmarkt, der nicht weit von der historischen Stadtmauer entstanden ist. Jeden Tag kommen Alt und Jung hierher, um für 10 bis 15 Yuan, umgerechnet ein bis anderthalb Euro pro Tag, ihre Arbeitskraft anzubieten. Mit einer Säge oder eine Farbrolle in der Hand versuchen sie, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wer seine Wohnung oder sein Büro renovieren will, kann hier leicht eine günstige Hilfskraft finden.
Der 37jährige Shen Xiaoqiang hat ein Schild mit den Zeichen "Mugong" vor sich, "Holzarbeiten". Er hat zwar nie eine Tischlerlehre gemacht, denn eigentlich ist er Bauer und pflanzt anderthalb Autostunden von Xi’an entfernt Weizen und Mais an. Doch um seine Familie über den Winter zu bringen, muss er zusätzliche Arbeit annehmen.
Als Bauer verdiene ich nur ungefähr 1.000 Yuan im Jahr. Daher komme ich oft hierher. Aber hier werde ich auch nicht gut bezahlt. In Peking ist es besser, da konnte ich um die 700 Yuan pro Monat verdienen. (...) Ich habe eine große Familie: Meine Eltern sind zu alt, um sich selbst zu versorgen. Deshalb müssen meine Frau und ich sie unterstützen. Das Leben wird immer härter, denn es wird schwieriger, sein Geld zu verdienen. Ich kann ja nichts richtig, deshalb ist es besonders schwer für mich.
Shen Xiaoqiang kann weder lesen noch schreiben. Außer auf der Suche nach Arbeit, hat er sein Heimatdorf Lintong nie verlassen. Seinem Sohn soll es mal besser gehen. Deshalb schickt er den 12jährigen auf die Mittelschule, obwohl er und seine Frau es sich eigentlich nicht leisten können. 220 Yuan, umgerechnet 23 Euro Schulgebühren müssen sie jedes Jahr bezahlen, ein Fünftel ihres Jahreseinkommens. Viele ihrer Nachbarn, die nicht wie Shen zwischendurch in der Stadt arbeiten, können das nicht bezahlen. Sie lassen die Kinder daher zu Hause.
Der 50jährige Zhang Xue’an ist einer von Shens Nachbarn. Er wohnt an der selben buckeligen Lehmstrasse in einem kargen Backsteinhaus mit Strohdach. Seine beiden Söhne sind inzwischen erwachsen und arbeiten in Peking auf Baustellen. Als Bauer könne man ja heutzutage nicht mehr überleben, sagt Zhang.
Wer kann heute noch Geld mit Weizen- oder Maisanbau verdienen? Man investiert eigentlich nur, aber macht keinen Gewinn. Es kostet viel Geld, das Saatgut, den Dünger und das Gießwasser zu bezahlen. Aber es lohnt sich nicht. Dennoch arbeiten wir noch immer auf den Feldern. Alle machen das so, denn wenn wir die Felder brach liegen lassen würden, dann würden die Leute über uns lachen. Aber seien wir ehrlich: Wenn wir nicht zusätzlich woanders arbeiten würden, dann könnten wir nicht überleben.
Bauer Zhang klagt über die zahlreichen Abgaben, die von den lokalen Behörden eingetrieben werden. Neben Steuern müssten er und seine Nachbarn auch noch für den Bau von Eisenbahn- und Straßenverbindungen zahlen.
Die Behörden treiben diese Abgaben ohne jede Genehmigung von oben ein. Aber wir sind nicht bereit zu zahlen. Diese Sonderabgaben sind ja höher als die eigentliche Grundsteuer, teilweise doppelt oder dreimal so hoch. Einige Bauern verschließen einfach die Tür, wenn die Behördenvertreter kommen. Was bleibt ihnen anderes übrig, sie haben das Geld nicht.
Die Arbeit auf dem Land und die tägliche Sorge ums Überleben haben die Menschen in Lintong gezeichnet. Sie werden schneller alt als die Städter in Xi‘an. Mit seinen schlechten Zähnen, der gegerbten, faltigen Haut sieht der 37jährige Shen aus wie 50. Der 50jährige Zhang wiederum wirkt wie ein alter Mann.
Unser Leben ist sicherlich besser als früher. Wir haben jetzt bessere Kleidung, und auch das Essen ist vielseitiger. Aber wir fühlen ständig den Druck. Tag und Nacht muss ich daran denken, wie ich meine Familie versorgen kann. Für alles braucht man heutzutage Geld. Deshalb müssen viele Bauern Kredite aufnehmen.
Eine Reise in den Westteil des Landes gleicht einem Sprung in die Vergangenheit. Die Menschen hier wissen nicht, was Globalisierung heißt. Sie profitieren nicht von Chinas boomender Exportwirtschaft. Der Ökonom Bai Yongxiu von der Nordost-Universität in Xi’an ist der Ansicht, dass die Lage der Bauern sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert habe.
Die Bauern haben zwar genug zu essen und werden nicht verhungern. Aber sie besitzen keinerlei Bargeld. Spätestens aber, wenn sie Kleidung oder Dünger kaufen wollen oder die Kinder in die Schule schicken wollen, merken sie, dass sie inzwischen in einer Marktwirtschaft leben. Dann brauchen sie Geld.
Die knapp 900 Mio. Chinesen auf dem Land gehören ebenso wie das städtische Proletariat zu den Reformverlierern. Ihre Einkommen stagnieren. Je weiter China sich in die Weltwirtschaft integriert, um so mehr Menschen verlieren ihre Arbeit. Die Tatsache, dass jeder Bauer nur ein kleines Stück Land bewirtschaften kann, das ihm nicht einmal gehört, ist eines der größten Entwicklungshindernisse, sagt Bai Yongxiu.
Um den Unterschied zwischen Stadt und Land zu verringern, muss auch auf dem Land die Marktwirtschaft beschleunigt werden. Solange jeder Bauer nur eine kleine Parzelle bewirtschaften kann, verhindert dies eine ertragreichere Massenproduktion.
Im einstigen Arbeiter- und Bauernstaat wächst die Wirtschaft – aber mit ihr auch die Ungleichheit – und das schneller als irgendwo sonst. Shanghais Bruttosozialprodukt pro Kopf ist siebeneinhalb mal so hoch wie das der nordwestchinesischen Provinz Shaanxi und zwölfmal so hoch wie das der Armutsprovinz Guizhou.
Während Shanghai weiter boomt, muss Shaanxi zunächst mit seinem sozialistischen Erbe fertig werden. Seit den 50er Jahren hatte die Zentralregierung Shaanxi als strategischen Brückenkopf nach Westchina gefördert und aus diesem Grund gezielt staatliche Textil- und Maschinenbau- und Rüstungsindustrie angesiedelt. Fast 90 Prozent aller Unternehmen in der Provinz waren staatlich, heute sind es noch 70 Prozent. Seit der damalige Ministerpräsident Zhu Rongji 1996 die Schließung maroder Unternehmen vorantrieb, ist die Zahl der Arbeitslosen in Shaanxi dramatisch angestiegen. Zahlreiche Textil- und Maschinenbaubetriebe wurden abgewickelt, und viele weitere werden folgen. Auf der Plenarsitzung im Oktober 2003 beschloss die Parteiführung, die Reform der Staatsbetriebe noch stärker zu beschleunigen.
Im vierten Stock der Wuxing Lu Nr. 5 herrscht reges Treiben. Man Xiaoling und andere Frauen suchen beim Frauenverband Xi’an ein wenig Trost.
Man Xiaoling war lange davon überzeugt, dass die Reformen nur Gutes bringen würden. Die Regale in den Geschäften sind immer voller geworden; man braucht keine Lebensmittelmarken mehr und auch nicht mehr lange anzustehen. Das Fernsehprogramm ist abwechslungsreicher geworden, und selbst Auslandsreisen sind seit einigen Jahren möglich. Alles in allem hat ihr Lebensstandard sich von Jahr zu Jahr verbessert. Doch dann, am 1. September 1998, erhielt sie plötzlich die Kündigung. Der Kollektivbetrieb in Xi’an, für den sie jahrelang Fernsehgeräte verpackt hatte, war bankrott und musste schließen.
Nachdem die Restriktionen für Privatunternehmen gelockert worden waren, betätigten sich immer mehr kleine Privatbetriebe in der Verpackungsindustrie. Sie unterboten unsere Preise – und so ging uns allmählich die Arbeit aus. Nach und nach wurden alle Mitarbeiter entlassen.
Damit hatte die damals 41jährige nicht gerechnet. Mehr als 18 Jahre hatte sie in dem Kollektivbetrieb gearbeitet. Kranken-, Gesundheits- und Altersversorgung garantierte ihr das Unternehmen. Mit einem Mal stand sie ohne all das da. 180 Yuan, umgerechnet 18 Euro im Monat, zahlte ihr die alte Arbeitseinheit noch.
Die Unsicherheit mache den Frauen am meisten zu schaffen, sagt Li Yuling vom Frauenverband. Als in Xi’an die Kündigungswelle begann, gründete der Verband 1996 ein Zentrum für Wiederbeschäftigung und Ausbildung.
Früher hatten die Frauen feste Jobs. Der Staat war für alles verantwortlich, und sie mussten sich um nichts Sorgen machen. Aber seitdem sie arbeitslos sind, stehen sie vor vielen Problemen. Z.B. die Frage, wie sie im Alter versorgt werden. Das Gefühl der Sicherheit kennen sie nicht mehr. (...) Ganz allmählich beginnen sie sich mit ihrer Situation abzufinden. Aber 1996, als wir das Zentrum gerade gegründet hatten, brachen die Frauen bei uns oft in Tränen aus. Sie fühlten sich so verloren und verunsichert angesichts der Veränderungen.
"Die Hälfte des Himmels tragen die Frauen", hatte Mao Zedong bei der Gründung der Volksrepublik in Aussicht gestellt. Doch wie in vielen anderen Ländern auch, sind die Frauen die ersten, die entlassen werden, wenn Betriebe sich von Mitarbeitern trennen müssen. Mindestens 120.000 Menschen verloren allein in der sechs Mio. Stadt Xi’an seit 1996 ihre Arbeit. Offiziellen Zahlen zufolge liegt die Arbeitslosigkeit bei 4,5%. Doch selbst Regierungsvertreter räumen inzwischen ein, dass die Zahlen sich zwischen 10 und 15 Prozent bewegen - Tendenz steigend. Auf dem Land sieht es noch dramatischer aus: Knapp die Hälfte aller Arbeitswilligen hat dort keine ausreichende Beschäftigung mehr.
In dieser Situation hat sich auch die Rolle des Frauenverbandes verändert: Vom Propagandainstrument wandelte die Parteiorganisation sich zum oft einzigen Ansprechpartner für Frauen in Not. Die neuen Aufgaben hätten den Funktionärinnen auch zu mehr Akzeptanz verholfen, sagt die Vorsitzende des Frauenverbandes der Provinz Shaanxi, Liu Lige.
Wir versuchen, insbesondere den Frauen über vierzig eine neue Arbeit zu vermitteln, in erster Linie Hausarbeit, die keine besonderen Vorkenntnisse erfordert. Wir trainieren die Frauen und vermitteln sie dann. Diese Kurse sind sehr beliebt unter arbeitslosen Frauen. Am Anfang haben sich viele dagegen gewehrt. Denn sie haben einst für große Unternehmen gearbeitet und waren stets der Meinung, dass Hausarbeit unter ihrem Niveau sei. Aber inzwischen denken sie anders.
Auch die ehemalige Staatsangestellte Man Xiaoling verdient ihr Geld inzwischen als Putzfrau. Sie gehört zu einer verlorenen Generation: Einst während der Kulturrevolution aufs Land verschickt, hat sie wichtige Jahre ihrer Schulbildung verloren. Nach ihrer Rückkehr fing sie in der staatlichen Fabrik an. Eine Ausbildung hat sie dort nie erhalten. Nun wird sie ein weiteres Mal bestraft. Doch wie viele andere ihrer Landsleute nimmt sie die Veränderungen schweigend hin. Sie empfindet es als ihren Fehler, dass sie den neuen Anforderungen nicht gewachsen ist. Es ist, wie es ist. "Ren tai duo le", sagt Man Xiaoling schulterzuckend. Es gibt einfach zu viele Menschen in China. Ihrem Sohn versucht sie klar zu machen, wie wichtig es ist, sich durchzusetzen.
Das Wichtigste ist es, die bestmögliche Ausbildung zu erhalten und dass man sich der Gesellschaft anpasst. Mein Sohn sollte seine Ferien nutzen, um Praktika zu machen und zu verstehen, wie die Gesellschaft funktioniert. Er muss lernen, wie schwierig es ist, eine Arbeit zu finden. Immer mehr Menschen werden durch Maschinen ersetzt. In Zukunft werden 10 Leute um einen Job kämpfen. Deshalb sollte er fleißig lernen. Wer über Wissen verfügt, der hat auch größere Chancen, einen guten Job zu finden.
Die Anbindung des wirtschaftlich rückständigen Westens an die boomende Ostküstenregion gehört zu den größten Herausforderungen des Landes. Seit 1999 versucht die chinesische Regierung, in einem beispiellosen Kraftakt Dreiviertel des Landes zu erschließen.
In Westchina leben immerhin 365 Mio. Menschen. Anders ausgedrückt: 90 Prozent der Ärmsten der Armen. Umgerechnet 100 Mrd. Euro sollen in den nächsten Jahren für Infrastruktur- und Umweltprojekte sowie den Umbau der Industrie in den 12 zumeist dünnbesiedelten Westprovinzen gepumpt werden. "Xibu da kaifa", die große Erschließung des Westens – heißt das Programm, das der ehemalige Staats- und Parteichef Jiang Zemin 1999 anregte. – Nicht zuletzt aus Angst vor sozialen Unruhen, sagt Yue Liang von der Planungsabteilung der Provinzregierung von Shaanxi.
Langfristig müssen wir natürlich die Probleme der Entlassenen und Bauern lösen. Denn unsere Regierung und auch die lokalen Behörden räumen der Stabilität bei allem, was sie tun, oberste Priorität ein. Ich will nicht leugnen, dass es schon mal zu Unruhen kommt, wenn wir z.B. Staatsbetriebe verkaufen und Arbeiter entlassen werden. Aber bisher ist die Regierung von Shaanxi gut mit diesen Situationen zurecht gekommen.
Während der Planungschef dies sagt, demonstrieren vor dem Gebäude der Provinzregierung wie so oft in den letzten Monaten entlassene Arbeiter. Der Shanghaier Historiker Zhu Xueqin ist davon überzeugt, dass in Zukunft nicht nur Arbeiter, sondern auch Bauern und Intellektuelle mehr Rechte fordern werden.
Heute, 25 Jahre nach Beginn der Reform- und Öffnungspolitik, haben die meisten Menschen ein Bewusstsein für ihre Rechte entwickelt – und das vor allem, weil sich Interessenunterschiede herausgebildet haben. Die Bauern wollen sich selbst organisieren in sogenannten Bauernvereinigungen, wie einst die Kommunisten sich zusammengetan haben. Nur mit der Macht einer Vereinigung können sie mit anderen Interessengruppen oder der Regierung verhandeln und ihre Rechte vertreten. Auch die Arbeiter brauchen eine eigene Gewerkschaft, um ihre Interessen zu vertreten. (...) Ich hoffe, dass die neue Führung die positiven Seiten dieser Forderungen erkennt, statt sie zu unterdrücken.
Bisher konzentrieren sich die meisten ausländischen Direktinvestitionen auf das Perlfluss-Delta rund um Hongkong, die südchinesische Provinz Guangdong, das Jangtse-Delta um Shanghai sowie die nordostchinesische Provinz Shandong und Peking. Nun sollen die Westprovinzen von den Sonderwirtschaftszonen lernen, die Mitte der achtziger Jahre mit Steuervergünstigungen, billigen Arbeitskräften und Infrastruktur um ausländische Investoren buhlten. Überall wird an Straßen, Eisenbahnverbindungen, Kanälen, Staudämmen, Pipelines und Stromleitungen gebaut. Zubringerautobahnen sollen auch in den abgelegensten Winkeln des Landes eine wirtschaftliche Entwicklung sicherstellen. Doch nur zögerlich lassen sich im Westteil des Landes Investoren nieder. Steuerliche Anreize und niedrige Löhne reichen nicht aus, um die schwierigen Rahmenbedingungen zu kompensieren.
Selbst offizielle Schätzungen gehen davon aus, dass es 30-50 Jahre dauern wird, bis das Entwicklungsniveau Westchinas an die boomende Ostküstenregion heranreichen wird. Die Provinzregierung von Shaanxi plant daher auf anderem Wege das Arbeitsmarktproblem zu lösen, sagt Yue Liang.
Unser nächster Schritt wird es sein, Arbeitskräfte zu exportieren. In den nächsten Jahren wollen wir eine Mio. Menschen ausbilden und dann in den entwickelten Osten des Landes schicken.
Schon heute sind knapp drei Mio. Arbeiter aus Shaanxi auf der Suche nach Arbeit im ganzen Land unterwegs. Sie sind es, die auf den Baustellen in Kanton, Peking und Shanghai mit ihren Händen glitzernde Hochhausfassaden schaffen.
Vor 25 Jahren legte Deng Xiaoping den Grundstein für die wohl spannendste Geschichte der Weltwirtschaft. Er warf ideologischen Ballast ab, indem er den Ausspruch prägte: "Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse!". Für den renommierten Historiker Zhu Xueqin war Deng Xiaopings Entscheidung, sich schrittweise von der Ideologie zu verabschieden, maßgeblich für das gesamte Reformprojekt.
Fragt nicht, ob es Sozialismus oder Kapitalismus ist", hat Deng Xiaoping gesagt. Sofern es die Produktionskräfte voranbringt, gilt es, die Reform- und Öffnungspolitik durchsetzen. Das war eine große Sache. (...) Dengs pragmatische Haltung befreite uns von einem Dilemma und hat uns mindestens einen Vorsprung von 10 Jahren beschert. Ohne sein mutiges Vorgehen hätten die späteren Reformschritte nie gemacht werden können.
Aus Sicht des Historikers waren die Bauern die entscheidende Gruppe, die neben der Parteiführung Chinas Reformen vorangetrieben hat.
Die Bauern haben die Volkskommunen aufgegeben und das Land wieder unter sich aufgeteilt. Ohne ihr mutiges Handeln hätten der Warenaustausch zwischen Stadt und Land und ein freier Markt nie eingeführt werden können. Insofern waren die Leute an der Spitze und die Bauern an der Basis die entscheidenden Reformkräfte. Aber die Menschen in den Städten haben am meisten von all dem profitiert.
Mitte der achtziger Jahre verschrieb die Führung dem Land eine konsequente Öffnung nach außen. In vielen Landesteilen wurden Sonderwirtschafts- und Exportzonen eingerichtet. Doch erst die Entscheidung für die sogenannte "sozialistische Marktwirtschaft" 1992 markierte den Durchbruch für das Reformprojekt. Deng Xiaoping rief seinen Landsleuten zu: "Es ist keine Schande, reich zu werden".
Zum 16. Parteitag der KP China im November 2002 kam der Kinofilm "CEO" heraus. Ein modernes Märchen, das den kometenhaften Aufstieg des Elektrogeräteherstellers Haier erzählt. Hauptperson ist der Fabrikdirektor Ling, – im wirklichen Leben heißt der Vorstandschef Zhang Ruimin.
Der Film zeigt, dass Chinesen in der Lage sind, ihre eigenen internationalen Markennamen zu etablieren. Darum geht es: dass man sehr wohl etwas bewegen kann – auch ohne großes Kapital und unter ungünstigen Bedingungen. Dieser Unternehmergeist steht im Vordergrund. (...) Und ich denke, dass dieser Geist besonders in China von großer Bedeutung ist. Denn wir liegen noch immer weit hinter anderen Ländern wie den USA, Japan oder Deutschland. Jetzt, wo wir Mitglied der Welthandelsorganisation sind, haben wir noch mehr mit den internationalen Multis zu kämpfen. Das chinesische Bruttoinlandsprodukt wächst zwar rasant, und China ist inzwischen das Produktionszentrum weltweit. Aber ohne unsere eigenen Marken, werden wir nie mehr erreichen können als die verlängerte Werkbank anderer Länder zu sein – ohne jede Wertschöpfung.
Der 55jährige Zhang hat das Unternehmen Haier innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten zu dem gemacht, was es heute ist: Ein riesiger Elektrokonzern mit Produktionsstätten in 13 Ländern. Haier ist mittlerweile der größte Kühlschrankproduzent weltweit. Daneben gehören Klimaanlagen, Waschmaschinen, Mobiltelefone und Unterhaltungselektronik zur Produktpalette.
Es sind Unternehmen wie Haier, Legend, Huawei oder TCL, die von Chinas Weg in die Marktwirtschaft profitiert haben. Umgekehrt haben sie dazu beigetragen, dass "Made in China" nicht länger nur ein Attribut für Billigprodukte ist.
25 Jahre nach Beginn der Reform- und Öffnungspolitik ist das Reich der Mitte der größte Produzent von Mountainbikes, Mikrowellen und Notebooks geworden. China stellt die meisten Mobiltelefone, Klimaanlagen, Schuhe, Kinderspielzeuge und Textilien her. Dank billiger Arbeitskräfte und immer besserer Qualitätsleistungen wird das Handelsvolumen dieses Jahr rund 800 Mrd. US$ erreichen. Andy Xie, Analyst bei Morgan Stanley in Hongkong, ist der Ansicht, dass Chinas Integration in die Weltwirtschaft gerade erst begonnen hat.
Noch ist Chinas Exportanteil sehr niedrig. Gleichzeitig steigt die Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Arbeiter. Diese Kombination bedeutet, dass der chinesische Handel noch einen langen Weg vor sich hat. Die Multis wissen das und verlagern immer mehr Produktionsstätten nach China, um von dieser Entwicklung zu profitieren. Diese drei Faktoren: das Kapital der Multis, die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeiter und die Investitionen der Regierung in die Infrastruktur - machen China als Exportbasis unschlagbar. In den nächsten 10 Jahren werden Chinas Exporte explodieren.
Noch hat das Riesenreich seine volle Kraft längst nicht entfaltet. Das Hinterland im Westen kann noch jahrzehntelang ausländische Investitionen aufsaugen, Nachschub für billige Arbeitskräfte liefern und konsumhungrige Verbraucher stellen. Dennoch mehren sich die Zweifel, wie nachhaltig das Wachstum eigentlich ist. Zwar sind die Auslandsinvestitionen und der Export wichtige Stützen des Wirtschaftswachstums. Tatsache aber ist: Nur weil die chinesische Regierung dieses Jahr die sechste Runde staatlich finanzierter Konjunkturbelebung einläutete, kann momentan ein vergleichsweise hohes Wirtschaftswachstum garantiert werden. Mancher fragt sich, wie lange die Regierung ein Konjunkturprogramm in diesem Umfang noch aufrecht erhalten kann. Der Hongkonger Analyst Andy Xie gibt sich zuversichtlich.
Ich denke, die finanzielle Situation der chinesischen Regierung ist nicht so schlecht. Sie kann die Staatsausgaben noch weitere 10 Jahre im bisherigen Umfang fortführen. Bis dahin werden sich hoffentlich die chinesische Exportwirtschaft ausreichend entwickelt und die Haushalte ein solches Maß an Wohlstand erreicht haben, dass sie beginnen zu konsumieren. Momentan muss die Regierung soviel Geld ausgeben, weil die privaten Haushalte sparen. Sie machen sich Sorgen über die Ausbildung ihrer Kinder und die fehlende Absicherung. Aber eines Tages werden sie so wohlhabend sein, dass sie sich ausreichend gewappnet fühlen, um auch mit Unsicherheiten umgehen zu können. Und dann werden sie beginnen, Geld auszugeben.
In dieser Situation versucht die Kommunistische Partei, sich wenigstens der Rückendeckung einer der neu entstandenen Interessengruppen zu versichern: die der Privatunternehmer. Sie werden nicht länger als Ausbeuter diffamiert, sondern als Heilsbringer in die Partei geholt. Auf dem 16. Parteitag im November 2002 ergänzten die Delegierten das Statut um einen entscheidenden Punkt: Sie ließen Unternehmer als Parteimitglieder zu.
Zheng Zhuohui ist einer von ihnen. Er hat in der südchinesischen Sonderwirtschaftszone Shenzhen sein Geld mit einer Maschinenfabrik und im Immobiliengeschäft verdient. Vor rund 20 Jahren hatte er mit seiner Frau angefangen. Heute ist sein Unternehmen rund 70 Mio. Euro wert. Zheng ist der Kommunistischen Partei beigetreten, weil er sie für die einzige Kraft hält, die etwas bewirken kann.
Ich glaube, dass die KPCh in der Lage ist, China zu einem starken und reichen Land zu machen. Nur so kann das Volk in Frieden leben und an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben. Allein die kommunistische Partei ist imstande, mehr als eine Milliarde Menschen zu regieren.
Umgekehrt ist es unmöglich, in China ein erfolgreicher Unternehmer zu werden, ohne auch politisch vernetzt zu sein, sagt Rupert Hoogewerf. Er hat im Oktober 2003 im Auftrag des Wirtschaftsmagazins Asiamoney die Liste der reichsten Chinesen zusammengestellt.
Von der größten Bedrohung für die Kommunistische Partei haben chinesische Privatunternehmer sich zur Gruppe der größten Fürsprecher entwickelt, weil sie eine stabile Wirtschaftumgebung wollen. (...) Der Immobilienunternehmer Guo Guangchang, die Nr. 13 auf der Liste, hat mal zu mir gesagt: Je größer man wird, um so schwieriger wird es, der Politik aus dem Weg zu gehen. Wer 10-20 Mio. Dollar Steuern bezahlt und 10.000 Angestellte hat, der wird automatisch politisiert. Die Privatunternehmer sind ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft geworden wie es einst vor fünf oder zehn Jahren die Staatsbetriebe waren.
Chinas Multimillionäre werden immer jünger und immer noch wohlhabender. Der 32jährige Internet-Unternehmer Ding Lei steht mit einem Vermögen von 760 Mio. Euro an der Spitze der Liste der reichsten Chinesen. Der enorme Zuwachs an Reichtum zeigt, wie schnell die Wirtschaft in China in den vergangenen Jahren gewachsen ist. Das Bemerkenswerte sei jedoch, sagt der ehemalige Wirtschaftsprüfer Rupert Hoogewerf, dass die chinesischen Multimillionäre ihr Vermögen allein in den vergangenen 20 Jahren gemacht haben und bis auf wenige Ausnahmen auf keinen Familienbesitz zurückgreifen konnten.
Während der letzten 20 Jahre hat sich in China die Einstellung gegenüber Wohlstand sehr verändert. Früher galt Reichtum fast als ein Schimpfwort, heute dagegen wird Wohlstand akzeptiert, weil es die Wirtschaft antreibt, wenn Unternehmen aufgebaut werden. Das ist die Aufgabe der Unternehmer: Wohlstand für sich aber auch die lokalen Behörden zu erzeugen, indem Steuern gezahlt und Arbeitsplätze für diejenigen geschaffen werden, die von den Staatsbetrieben entlassen wurden.
Das Signal, das vom letzten Parteitag ausging, war eindeutig: Die staatliche Industrie soll in Zukunft nur noch die Rolle eines Regulators spielen, um auf diese Weise die soziale Mindestversorgung von Millionen Arbeitern zu gewährleisten. Die meisten Wirtschaftssektoren aber sollen für privates Investment geöffnet werden. Damit wird der Rückzug des Staates aus der Wirtschaft besiegelt. Entgegen aller sozialistischen Prinzipien heißt dies auch, wieder Privateigentum zuzulassen.
Der Pekinger Wirtschaftsexperte und Berater der Regierung, Hu Angang, findet angesichts der immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich klare Worte: China sei auf dem Weg, die kapitalistische Gesellschaft mit der weltweit ungerechtesten Einkommensverteilung zu werden. Er will weg vom reinen Wachstumsdenken. "In einer Planwirtschaft sei Wachstum das größte Problem, in einer Marktwirtschaft aber heißt das größte Problem Gerechtigkeit", schreibt er in einem Aufsatz.
Wie kann eine Kommunistische Partei, die faktisch den Abschied vom Sozialismus besiegelt hat, zeigen, dass sie noch zu den Arbeitern und Bauern hält? – Premierminister Wen Jiabao und Staatspräsident Hu Jintao versuchen es, indem sie aufs Land reisen, Bergleute unter Tage besuchen und im Hinterland mit Bauern sprechen. Nach mehr als zwei Jahrzehnten Reform- und Öffnungspolitik feilt die Kommunistische Partei an einem neuen Image. Die Führung gibt sich volksnah und spricht vom kleinen Wohlstand für jedermann – "Xiaokang shehui". Spätestens seit der Lungenkrankheit SARS ist Wen und Hu klar, dass sie nicht mehr nur Wachstum predigen können, sondern sich auch um die kümmern müssen, die zu den Reformverlierern gehören. Die KP China hat realisiert, dass nur ein möglichst breit gestreuter Wohlstand die Herrschaft der Partei retten kann.
Die neue Führung steht vor einem Berg von Problemen: Marode Staatsbetriebe, ein von faulen Krediten belastetes Bankensystem, eine vielerorts ineffiziente Bürokratie, Korruption und die Kluft zwischen dem reichen Ostchina und dem wirtschaftlich rückständigen Westen bedrohen die gesellschaftliche Stabilität. Der Beitritt zur Welthandelsorganisation vor zwei Jahren hat die Führung zusätzlich unter Druck gesetzt. Denn die ausländische Konkurrenz wächst – während die zentralen Steuerungsinstrumente immer häufiger versagen.
Gleichzeitig aber geht es für die KPCh um das politische Überleben. Will sie die herrschende Partei bleiben, muss sie ihre Basis verbreitern und alle wichtigen Gruppen in der Gesellschaft einbinden. Kam sie einst mit Hilfe der Bauern an die Macht, so muss sie nun mit der neuen Wirtschaftselite zurechtkommen. Nur wenn es der politischen Führung gelingt, die Interessengruppen die sie entstehen ließ, zufrieden zu stellen zu halten, bleibt ihre eigene Macht unangefochten. Um jedoch das notwendige Wachstum zu erzeugen, muss sie auch die Grundlagen ihrer politischen Herrschaft neu ordnen.
Der Shanghaier Historiker Zhu Xueqin appelliert an die Regierung, die unterschiedlichen Interessengruppen endlich zu akzeptieren und ihnen auch politische Rechte zu gewähren.
Ich wünschte, die Partei würde nicht länger die Illusion aufrecht erhalten, dass sie alle vertritt. Im Zuge der Modernisierung bilden sich unterschiedliche Interessen heraus. Die Partei sollte endlich realisieren, dass sie nur einen Teil der Gesellschaft vertreten kann.
Im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik und insbesondere seit der Rede von Deng Xiaoping 1992 hat Shanghai sich rasant entwickelt. Heute ist Shanghai bereit für eine weitere Entwicklungsrunde. Langfristig soll Shanghai ein internationales Wirtschafts-, Finanz, Handels- und Transportzentrum werden. Um dies zu erreichen, werden wir uns noch stärker als bisher an internationalen Vorbildern orientieren. Bis 2020, so hoffen wir, wird Shanghai sein Ziel erreicht haben.
Shanghai spiegelt Chinas Streben nach Größe, nach Internationalität, aber auch nach Reichtum wider wie keine andere Stadt. Und sie setzt alles daran, den großen Rivalen Hongkong einzuholen. Seit China im Dezember 2001 der Welthandelsorganisation/WTO beigetreten ist, stehen die Karten dafür nicht schlecht. Als Drehscheibe für das Exportgeschäft beginnt Shanghai bereits, der ehemaligen Kronkolonie den Rang abzulaufen.
In weniger als einem Jahrzehnt hat die Stadt sich vom grauen "Entlein des Sozialismus" zur strahlenden Schönheit des Kapitalismus entwickelt. Im Großraum Shanghai werden 40 Prozent des chinesischen Bruttosozialproduktes erwirtschaftet. Nirgendwo sonst wird soviel ausländisches Kapital investiert. Knapp 30.000 ausländische Unternehmen sind mittlerweile in der Stadt vertreten. Immer mehr internationale Konzerne verlegen ihren Asiensitz nach Shanghai. Xu Kuangdi, der ehemalige Bürgermeister, hat maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen. Mit seiner liberalen Haltung beeindruckte er viele Investoren.
Seit der Zeit als ich 1992 das Amt des Bürgermeisters übernahm und Deng Xiaoping seine große Rede hielt, hat China sich komplett verändert. Das Land hat in dieser Zeit den Übergang von einer Planwirtschaft zu einer sozialistischen Marktwirtschaft vollzogen. Früher wurden 80% aller Entscheidungen von der Regierung getroffen. Und sie hat auch alle Preise bestimmt – egal ob es sich um eine Schachtel Streichhölzer handelte oder einen VW-Santana. Als ich 2001 abtrat, hat die Regierung dagegen nur noch drei Prozent aller Entscheidungen überwacht, die übrigen 97% aber werden vom Markt getroffen.
Shanghai ist das Schaufenster der chinesischen Reformpolitik. Wer das erste Mal hierher kommt, der denkt: China hat es geschafft. Gläserne Wolkenkratzerfassaden, ein hochmoderner Flughafen, internationale Restaurants und Geschäftsstraßen wie in New York oder Paris. Diese Glitzerwelt lässt nur allzu leicht vergessen, dass die Volksrepublik noch auf Jahre hinaus ein Entwicklungsland bleiben wird. Shanghai sei nicht China, betont Zhu Xueqin, einer der führenden Intellektuellen des Landes.
Shanghai, Hongkong, Tokio oder New York unterscheiden sich auf den ersten Blick nicht mehr. Aber sobald man sich 200 km von Shanghai Richtung Westen begibt, sieht man ein ganz anderes China. - Ein China, das 10 bis 15 Jahre hinter der Ostküstenregion hinterher hinkt. /
Auf einem Marktplatz in der alten Kaiserstadt Xi’an, 1.300 km nordwestlich von Shanghai, drängen sich Hunderte von Bauern und Arbeitlosen.
Es ist im wahren Sinne des Wortes ein Arbeitsmarkt, der nicht weit von der historischen Stadtmauer entstanden ist. Jeden Tag kommen Alt und Jung hierher, um für 10 bis 15 Yuan, umgerechnet ein bis anderthalb Euro pro Tag, ihre Arbeitskraft anzubieten. Mit einer Säge oder eine Farbrolle in der Hand versuchen sie, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wer seine Wohnung oder sein Büro renovieren will, kann hier leicht eine günstige Hilfskraft finden.
Der 37jährige Shen Xiaoqiang hat ein Schild mit den Zeichen "Mugong" vor sich, "Holzarbeiten". Er hat zwar nie eine Tischlerlehre gemacht, denn eigentlich ist er Bauer und pflanzt anderthalb Autostunden von Xi’an entfernt Weizen und Mais an. Doch um seine Familie über den Winter zu bringen, muss er zusätzliche Arbeit annehmen.
Als Bauer verdiene ich nur ungefähr 1.000 Yuan im Jahr. Daher komme ich oft hierher. Aber hier werde ich auch nicht gut bezahlt. In Peking ist es besser, da konnte ich um die 700 Yuan pro Monat verdienen. (...) Ich habe eine große Familie: Meine Eltern sind zu alt, um sich selbst zu versorgen. Deshalb müssen meine Frau und ich sie unterstützen. Das Leben wird immer härter, denn es wird schwieriger, sein Geld zu verdienen. Ich kann ja nichts richtig, deshalb ist es besonders schwer für mich.
Shen Xiaoqiang kann weder lesen noch schreiben. Außer auf der Suche nach Arbeit, hat er sein Heimatdorf Lintong nie verlassen. Seinem Sohn soll es mal besser gehen. Deshalb schickt er den 12jährigen auf die Mittelschule, obwohl er und seine Frau es sich eigentlich nicht leisten können. 220 Yuan, umgerechnet 23 Euro Schulgebühren müssen sie jedes Jahr bezahlen, ein Fünftel ihres Jahreseinkommens. Viele ihrer Nachbarn, die nicht wie Shen zwischendurch in der Stadt arbeiten, können das nicht bezahlen. Sie lassen die Kinder daher zu Hause.
Der 50jährige Zhang Xue’an ist einer von Shens Nachbarn. Er wohnt an der selben buckeligen Lehmstrasse in einem kargen Backsteinhaus mit Strohdach. Seine beiden Söhne sind inzwischen erwachsen und arbeiten in Peking auf Baustellen. Als Bauer könne man ja heutzutage nicht mehr überleben, sagt Zhang.
Wer kann heute noch Geld mit Weizen- oder Maisanbau verdienen? Man investiert eigentlich nur, aber macht keinen Gewinn. Es kostet viel Geld, das Saatgut, den Dünger und das Gießwasser zu bezahlen. Aber es lohnt sich nicht. Dennoch arbeiten wir noch immer auf den Feldern. Alle machen das so, denn wenn wir die Felder brach liegen lassen würden, dann würden die Leute über uns lachen. Aber seien wir ehrlich: Wenn wir nicht zusätzlich woanders arbeiten würden, dann könnten wir nicht überleben.
Bauer Zhang klagt über die zahlreichen Abgaben, die von den lokalen Behörden eingetrieben werden. Neben Steuern müssten er und seine Nachbarn auch noch für den Bau von Eisenbahn- und Straßenverbindungen zahlen.
Die Behörden treiben diese Abgaben ohne jede Genehmigung von oben ein. Aber wir sind nicht bereit zu zahlen. Diese Sonderabgaben sind ja höher als die eigentliche Grundsteuer, teilweise doppelt oder dreimal so hoch. Einige Bauern verschließen einfach die Tür, wenn die Behördenvertreter kommen. Was bleibt ihnen anderes übrig, sie haben das Geld nicht.
Die Arbeit auf dem Land und die tägliche Sorge ums Überleben haben die Menschen in Lintong gezeichnet. Sie werden schneller alt als die Städter in Xi‘an. Mit seinen schlechten Zähnen, der gegerbten, faltigen Haut sieht der 37jährige Shen aus wie 50. Der 50jährige Zhang wiederum wirkt wie ein alter Mann.
Unser Leben ist sicherlich besser als früher. Wir haben jetzt bessere Kleidung, und auch das Essen ist vielseitiger. Aber wir fühlen ständig den Druck. Tag und Nacht muss ich daran denken, wie ich meine Familie versorgen kann. Für alles braucht man heutzutage Geld. Deshalb müssen viele Bauern Kredite aufnehmen.
Eine Reise in den Westteil des Landes gleicht einem Sprung in die Vergangenheit. Die Menschen hier wissen nicht, was Globalisierung heißt. Sie profitieren nicht von Chinas boomender Exportwirtschaft. Der Ökonom Bai Yongxiu von der Nordost-Universität in Xi’an ist der Ansicht, dass die Lage der Bauern sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert habe.
Die Bauern haben zwar genug zu essen und werden nicht verhungern. Aber sie besitzen keinerlei Bargeld. Spätestens aber, wenn sie Kleidung oder Dünger kaufen wollen oder die Kinder in die Schule schicken wollen, merken sie, dass sie inzwischen in einer Marktwirtschaft leben. Dann brauchen sie Geld.
Die knapp 900 Mio. Chinesen auf dem Land gehören ebenso wie das städtische Proletariat zu den Reformverlierern. Ihre Einkommen stagnieren. Je weiter China sich in die Weltwirtschaft integriert, um so mehr Menschen verlieren ihre Arbeit. Die Tatsache, dass jeder Bauer nur ein kleines Stück Land bewirtschaften kann, das ihm nicht einmal gehört, ist eines der größten Entwicklungshindernisse, sagt Bai Yongxiu.
Um den Unterschied zwischen Stadt und Land zu verringern, muss auch auf dem Land die Marktwirtschaft beschleunigt werden. Solange jeder Bauer nur eine kleine Parzelle bewirtschaften kann, verhindert dies eine ertragreichere Massenproduktion.
Im einstigen Arbeiter- und Bauernstaat wächst die Wirtschaft – aber mit ihr auch die Ungleichheit – und das schneller als irgendwo sonst. Shanghais Bruttosozialprodukt pro Kopf ist siebeneinhalb mal so hoch wie das der nordwestchinesischen Provinz Shaanxi und zwölfmal so hoch wie das der Armutsprovinz Guizhou.
Während Shanghai weiter boomt, muss Shaanxi zunächst mit seinem sozialistischen Erbe fertig werden. Seit den 50er Jahren hatte die Zentralregierung Shaanxi als strategischen Brückenkopf nach Westchina gefördert und aus diesem Grund gezielt staatliche Textil- und Maschinenbau- und Rüstungsindustrie angesiedelt. Fast 90 Prozent aller Unternehmen in der Provinz waren staatlich, heute sind es noch 70 Prozent. Seit der damalige Ministerpräsident Zhu Rongji 1996 die Schließung maroder Unternehmen vorantrieb, ist die Zahl der Arbeitslosen in Shaanxi dramatisch angestiegen. Zahlreiche Textil- und Maschinenbaubetriebe wurden abgewickelt, und viele weitere werden folgen. Auf der Plenarsitzung im Oktober 2003 beschloss die Parteiführung, die Reform der Staatsbetriebe noch stärker zu beschleunigen.
Im vierten Stock der Wuxing Lu Nr. 5 herrscht reges Treiben. Man Xiaoling und andere Frauen suchen beim Frauenverband Xi’an ein wenig Trost.
Man Xiaoling war lange davon überzeugt, dass die Reformen nur Gutes bringen würden. Die Regale in den Geschäften sind immer voller geworden; man braucht keine Lebensmittelmarken mehr und auch nicht mehr lange anzustehen. Das Fernsehprogramm ist abwechslungsreicher geworden, und selbst Auslandsreisen sind seit einigen Jahren möglich. Alles in allem hat ihr Lebensstandard sich von Jahr zu Jahr verbessert. Doch dann, am 1. September 1998, erhielt sie plötzlich die Kündigung. Der Kollektivbetrieb in Xi’an, für den sie jahrelang Fernsehgeräte verpackt hatte, war bankrott und musste schließen.
Nachdem die Restriktionen für Privatunternehmen gelockert worden waren, betätigten sich immer mehr kleine Privatbetriebe in der Verpackungsindustrie. Sie unterboten unsere Preise – und so ging uns allmählich die Arbeit aus. Nach und nach wurden alle Mitarbeiter entlassen.
Damit hatte die damals 41jährige nicht gerechnet. Mehr als 18 Jahre hatte sie in dem Kollektivbetrieb gearbeitet. Kranken-, Gesundheits- und Altersversorgung garantierte ihr das Unternehmen. Mit einem Mal stand sie ohne all das da. 180 Yuan, umgerechnet 18 Euro im Monat, zahlte ihr die alte Arbeitseinheit noch.
Die Unsicherheit mache den Frauen am meisten zu schaffen, sagt Li Yuling vom Frauenverband. Als in Xi’an die Kündigungswelle begann, gründete der Verband 1996 ein Zentrum für Wiederbeschäftigung und Ausbildung.
Früher hatten die Frauen feste Jobs. Der Staat war für alles verantwortlich, und sie mussten sich um nichts Sorgen machen. Aber seitdem sie arbeitslos sind, stehen sie vor vielen Problemen. Z.B. die Frage, wie sie im Alter versorgt werden. Das Gefühl der Sicherheit kennen sie nicht mehr. (...) Ganz allmählich beginnen sie sich mit ihrer Situation abzufinden. Aber 1996, als wir das Zentrum gerade gegründet hatten, brachen die Frauen bei uns oft in Tränen aus. Sie fühlten sich so verloren und verunsichert angesichts der Veränderungen.
"Die Hälfte des Himmels tragen die Frauen", hatte Mao Zedong bei der Gründung der Volksrepublik in Aussicht gestellt. Doch wie in vielen anderen Ländern auch, sind die Frauen die ersten, die entlassen werden, wenn Betriebe sich von Mitarbeitern trennen müssen. Mindestens 120.000 Menschen verloren allein in der sechs Mio. Stadt Xi’an seit 1996 ihre Arbeit. Offiziellen Zahlen zufolge liegt die Arbeitslosigkeit bei 4,5%. Doch selbst Regierungsvertreter räumen inzwischen ein, dass die Zahlen sich zwischen 10 und 15 Prozent bewegen - Tendenz steigend. Auf dem Land sieht es noch dramatischer aus: Knapp die Hälfte aller Arbeitswilligen hat dort keine ausreichende Beschäftigung mehr.
In dieser Situation hat sich auch die Rolle des Frauenverbandes verändert: Vom Propagandainstrument wandelte die Parteiorganisation sich zum oft einzigen Ansprechpartner für Frauen in Not. Die neuen Aufgaben hätten den Funktionärinnen auch zu mehr Akzeptanz verholfen, sagt die Vorsitzende des Frauenverbandes der Provinz Shaanxi, Liu Lige.
Wir versuchen, insbesondere den Frauen über vierzig eine neue Arbeit zu vermitteln, in erster Linie Hausarbeit, die keine besonderen Vorkenntnisse erfordert. Wir trainieren die Frauen und vermitteln sie dann. Diese Kurse sind sehr beliebt unter arbeitslosen Frauen. Am Anfang haben sich viele dagegen gewehrt. Denn sie haben einst für große Unternehmen gearbeitet und waren stets der Meinung, dass Hausarbeit unter ihrem Niveau sei. Aber inzwischen denken sie anders.
Auch die ehemalige Staatsangestellte Man Xiaoling verdient ihr Geld inzwischen als Putzfrau. Sie gehört zu einer verlorenen Generation: Einst während der Kulturrevolution aufs Land verschickt, hat sie wichtige Jahre ihrer Schulbildung verloren. Nach ihrer Rückkehr fing sie in der staatlichen Fabrik an. Eine Ausbildung hat sie dort nie erhalten. Nun wird sie ein weiteres Mal bestraft. Doch wie viele andere ihrer Landsleute nimmt sie die Veränderungen schweigend hin. Sie empfindet es als ihren Fehler, dass sie den neuen Anforderungen nicht gewachsen ist. Es ist, wie es ist. "Ren tai duo le", sagt Man Xiaoling schulterzuckend. Es gibt einfach zu viele Menschen in China. Ihrem Sohn versucht sie klar zu machen, wie wichtig es ist, sich durchzusetzen.
Das Wichtigste ist es, die bestmögliche Ausbildung zu erhalten und dass man sich der Gesellschaft anpasst. Mein Sohn sollte seine Ferien nutzen, um Praktika zu machen und zu verstehen, wie die Gesellschaft funktioniert. Er muss lernen, wie schwierig es ist, eine Arbeit zu finden. Immer mehr Menschen werden durch Maschinen ersetzt. In Zukunft werden 10 Leute um einen Job kämpfen. Deshalb sollte er fleißig lernen. Wer über Wissen verfügt, der hat auch größere Chancen, einen guten Job zu finden.
Die Anbindung des wirtschaftlich rückständigen Westens an die boomende Ostküstenregion gehört zu den größten Herausforderungen des Landes. Seit 1999 versucht die chinesische Regierung, in einem beispiellosen Kraftakt Dreiviertel des Landes zu erschließen.
In Westchina leben immerhin 365 Mio. Menschen. Anders ausgedrückt: 90 Prozent der Ärmsten der Armen. Umgerechnet 100 Mrd. Euro sollen in den nächsten Jahren für Infrastruktur- und Umweltprojekte sowie den Umbau der Industrie in den 12 zumeist dünnbesiedelten Westprovinzen gepumpt werden. "Xibu da kaifa", die große Erschließung des Westens – heißt das Programm, das der ehemalige Staats- und Parteichef Jiang Zemin 1999 anregte. – Nicht zuletzt aus Angst vor sozialen Unruhen, sagt Yue Liang von der Planungsabteilung der Provinzregierung von Shaanxi.
Langfristig müssen wir natürlich die Probleme der Entlassenen und Bauern lösen. Denn unsere Regierung und auch die lokalen Behörden räumen der Stabilität bei allem, was sie tun, oberste Priorität ein. Ich will nicht leugnen, dass es schon mal zu Unruhen kommt, wenn wir z.B. Staatsbetriebe verkaufen und Arbeiter entlassen werden. Aber bisher ist die Regierung von Shaanxi gut mit diesen Situationen zurecht gekommen.
Während der Planungschef dies sagt, demonstrieren vor dem Gebäude der Provinzregierung wie so oft in den letzten Monaten entlassene Arbeiter. Der Shanghaier Historiker Zhu Xueqin ist davon überzeugt, dass in Zukunft nicht nur Arbeiter, sondern auch Bauern und Intellektuelle mehr Rechte fordern werden.
Heute, 25 Jahre nach Beginn der Reform- und Öffnungspolitik, haben die meisten Menschen ein Bewusstsein für ihre Rechte entwickelt – und das vor allem, weil sich Interessenunterschiede herausgebildet haben. Die Bauern wollen sich selbst organisieren in sogenannten Bauernvereinigungen, wie einst die Kommunisten sich zusammengetan haben. Nur mit der Macht einer Vereinigung können sie mit anderen Interessengruppen oder der Regierung verhandeln und ihre Rechte vertreten. Auch die Arbeiter brauchen eine eigene Gewerkschaft, um ihre Interessen zu vertreten. (...) Ich hoffe, dass die neue Führung die positiven Seiten dieser Forderungen erkennt, statt sie zu unterdrücken.
Bisher konzentrieren sich die meisten ausländischen Direktinvestitionen auf das Perlfluss-Delta rund um Hongkong, die südchinesische Provinz Guangdong, das Jangtse-Delta um Shanghai sowie die nordostchinesische Provinz Shandong und Peking. Nun sollen die Westprovinzen von den Sonderwirtschaftszonen lernen, die Mitte der achtziger Jahre mit Steuervergünstigungen, billigen Arbeitskräften und Infrastruktur um ausländische Investoren buhlten. Überall wird an Straßen, Eisenbahnverbindungen, Kanälen, Staudämmen, Pipelines und Stromleitungen gebaut. Zubringerautobahnen sollen auch in den abgelegensten Winkeln des Landes eine wirtschaftliche Entwicklung sicherstellen. Doch nur zögerlich lassen sich im Westteil des Landes Investoren nieder. Steuerliche Anreize und niedrige Löhne reichen nicht aus, um die schwierigen Rahmenbedingungen zu kompensieren.
Selbst offizielle Schätzungen gehen davon aus, dass es 30-50 Jahre dauern wird, bis das Entwicklungsniveau Westchinas an die boomende Ostküstenregion heranreichen wird. Die Provinzregierung von Shaanxi plant daher auf anderem Wege das Arbeitsmarktproblem zu lösen, sagt Yue Liang.
Unser nächster Schritt wird es sein, Arbeitskräfte zu exportieren. In den nächsten Jahren wollen wir eine Mio. Menschen ausbilden und dann in den entwickelten Osten des Landes schicken.
Schon heute sind knapp drei Mio. Arbeiter aus Shaanxi auf der Suche nach Arbeit im ganzen Land unterwegs. Sie sind es, die auf den Baustellen in Kanton, Peking und Shanghai mit ihren Händen glitzernde Hochhausfassaden schaffen.
Vor 25 Jahren legte Deng Xiaoping den Grundstein für die wohl spannendste Geschichte der Weltwirtschaft. Er warf ideologischen Ballast ab, indem er den Ausspruch prägte: "Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse!". Für den renommierten Historiker Zhu Xueqin war Deng Xiaopings Entscheidung, sich schrittweise von der Ideologie zu verabschieden, maßgeblich für das gesamte Reformprojekt.
Fragt nicht, ob es Sozialismus oder Kapitalismus ist", hat Deng Xiaoping gesagt. Sofern es die Produktionskräfte voranbringt, gilt es, die Reform- und Öffnungspolitik durchsetzen. Das war eine große Sache. (...) Dengs pragmatische Haltung befreite uns von einem Dilemma und hat uns mindestens einen Vorsprung von 10 Jahren beschert. Ohne sein mutiges Vorgehen hätten die späteren Reformschritte nie gemacht werden können.
Aus Sicht des Historikers waren die Bauern die entscheidende Gruppe, die neben der Parteiführung Chinas Reformen vorangetrieben hat.
Die Bauern haben die Volkskommunen aufgegeben und das Land wieder unter sich aufgeteilt. Ohne ihr mutiges Handeln hätten der Warenaustausch zwischen Stadt und Land und ein freier Markt nie eingeführt werden können. Insofern waren die Leute an der Spitze und die Bauern an der Basis die entscheidenden Reformkräfte. Aber die Menschen in den Städten haben am meisten von all dem profitiert.
Mitte der achtziger Jahre verschrieb die Führung dem Land eine konsequente Öffnung nach außen. In vielen Landesteilen wurden Sonderwirtschafts- und Exportzonen eingerichtet. Doch erst die Entscheidung für die sogenannte "sozialistische Marktwirtschaft" 1992 markierte den Durchbruch für das Reformprojekt. Deng Xiaoping rief seinen Landsleuten zu: "Es ist keine Schande, reich zu werden".
Zum 16. Parteitag der KP China im November 2002 kam der Kinofilm "CEO" heraus. Ein modernes Märchen, das den kometenhaften Aufstieg des Elektrogeräteherstellers Haier erzählt. Hauptperson ist der Fabrikdirektor Ling, – im wirklichen Leben heißt der Vorstandschef Zhang Ruimin.
Der Film zeigt, dass Chinesen in der Lage sind, ihre eigenen internationalen Markennamen zu etablieren. Darum geht es: dass man sehr wohl etwas bewegen kann – auch ohne großes Kapital und unter ungünstigen Bedingungen. Dieser Unternehmergeist steht im Vordergrund. (...) Und ich denke, dass dieser Geist besonders in China von großer Bedeutung ist. Denn wir liegen noch immer weit hinter anderen Ländern wie den USA, Japan oder Deutschland. Jetzt, wo wir Mitglied der Welthandelsorganisation sind, haben wir noch mehr mit den internationalen Multis zu kämpfen. Das chinesische Bruttoinlandsprodukt wächst zwar rasant, und China ist inzwischen das Produktionszentrum weltweit. Aber ohne unsere eigenen Marken, werden wir nie mehr erreichen können als die verlängerte Werkbank anderer Länder zu sein – ohne jede Wertschöpfung.
Der 55jährige Zhang hat das Unternehmen Haier innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten zu dem gemacht, was es heute ist: Ein riesiger Elektrokonzern mit Produktionsstätten in 13 Ländern. Haier ist mittlerweile der größte Kühlschrankproduzent weltweit. Daneben gehören Klimaanlagen, Waschmaschinen, Mobiltelefone und Unterhaltungselektronik zur Produktpalette.
Es sind Unternehmen wie Haier, Legend, Huawei oder TCL, die von Chinas Weg in die Marktwirtschaft profitiert haben. Umgekehrt haben sie dazu beigetragen, dass "Made in China" nicht länger nur ein Attribut für Billigprodukte ist.
25 Jahre nach Beginn der Reform- und Öffnungspolitik ist das Reich der Mitte der größte Produzent von Mountainbikes, Mikrowellen und Notebooks geworden. China stellt die meisten Mobiltelefone, Klimaanlagen, Schuhe, Kinderspielzeuge und Textilien her. Dank billiger Arbeitskräfte und immer besserer Qualitätsleistungen wird das Handelsvolumen dieses Jahr rund 800 Mrd. US$ erreichen. Andy Xie, Analyst bei Morgan Stanley in Hongkong, ist der Ansicht, dass Chinas Integration in die Weltwirtschaft gerade erst begonnen hat.
Noch ist Chinas Exportanteil sehr niedrig. Gleichzeitig steigt die Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Arbeiter. Diese Kombination bedeutet, dass der chinesische Handel noch einen langen Weg vor sich hat. Die Multis wissen das und verlagern immer mehr Produktionsstätten nach China, um von dieser Entwicklung zu profitieren. Diese drei Faktoren: das Kapital der Multis, die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeiter und die Investitionen der Regierung in die Infrastruktur - machen China als Exportbasis unschlagbar. In den nächsten 10 Jahren werden Chinas Exporte explodieren.
Noch hat das Riesenreich seine volle Kraft längst nicht entfaltet. Das Hinterland im Westen kann noch jahrzehntelang ausländische Investitionen aufsaugen, Nachschub für billige Arbeitskräfte liefern und konsumhungrige Verbraucher stellen. Dennoch mehren sich die Zweifel, wie nachhaltig das Wachstum eigentlich ist. Zwar sind die Auslandsinvestitionen und der Export wichtige Stützen des Wirtschaftswachstums. Tatsache aber ist: Nur weil die chinesische Regierung dieses Jahr die sechste Runde staatlich finanzierter Konjunkturbelebung einläutete, kann momentan ein vergleichsweise hohes Wirtschaftswachstum garantiert werden. Mancher fragt sich, wie lange die Regierung ein Konjunkturprogramm in diesem Umfang noch aufrecht erhalten kann. Der Hongkonger Analyst Andy Xie gibt sich zuversichtlich.
Ich denke, die finanzielle Situation der chinesischen Regierung ist nicht so schlecht. Sie kann die Staatsausgaben noch weitere 10 Jahre im bisherigen Umfang fortführen. Bis dahin werden sich hoffentlich die chinesische Exportwirtschaft ausreichend entwickelt und die Haushalte ein solches Maß an Wohlstand erreicht haben, dass sie beginnen zu konsumieren. Momentan muss die Regierung soviel Geld ausgeben, weil die privaten Haushalte sparen. Sie machen sich Sorgen über die Ausbildung ihrer Kinder und die fehlende Absicherung. Aber eines Tages werden sie so wohlhabend sein, dass sie sich ausreichend gewappnet fühlen, um auch mit Unsicherheiten umgehen zu können. Und dann werden sie beginnen, Geld auszugeben.
In dieser Situation versucht die Kommunistische Partei, sich wenigstens der Rückendeckung einer der neu entstandenen Interessengruppen zu versichern: die der Privatunternehmer. Sie werden nicht länger als Ausbeuter diffamiert, sondern als Heilsbringer in die Partei geholt. Auf dem 16. Parteitag im November 2002 ergänzten die Delegierten das Statut um einen entscheidenden Punkt: Sie ließen Unternehmer als Parteimitglieder zu.
Zheng Zhuohui ist einer von ihnen. Er hat in der südchinesischen Sonderwirtschaftszone Shenzhen sein Geld mit einer Maschinenfabrik und im Immobiliengeschäft verdient. Vor rund 20 Jahren hatte er mit seiner Frau angefangen. Heute ist sein Unternehmen rund 70 Mio. Euro wert. Zheng ist der Kommunistischen Partei beigetreten, weil er sie für die einzige Kraft hält, die etwas bewirken kann.
Ich glaube, dass die KPCh in der Lage ist, China zu einem starken und reichen Land zu machen. Nur so kann das Volk in Frieden leben und an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben. Allein die kommunistische Partei ist imstande, mehr als eine Milliarde Menschen zu regieren.
Umgekehrt ist es unmöglich, in China ein erfolgreicher Unternehmer zu werden, ohne auch politisch vernetzt zu sein, sagt Rupert Hoogewerf. Er hat im Oktober 2003 im Auftrag des Wirtschaftsmagazins Asiamoney die Liste der reichsten Chinesen zusammengestellt.
Von der größten Bedrohung für die Kommunistische Partei haben chinesische Privatunternehmer sich zur Gruppe der größten Fürsprecher entwickelt, weil sie eine stabile Wirtschaftumgebung wollen. (...) Der Immobilienunternehmer Guo Guangchang, die Nr. 13 auf der Liste, hat mal zu mir gesagt: Je größer man wird, um so schwieriger wird es, der Politik aus dem Weg zu gehen. Wer 10-20 Mio. Dollar Steuern bezahlt und 10.000 Angestellte hat, der wird automatisch politisiert. Die Privatunternehmer sind ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft geworden wie es einst vor fünf oder zehn Jahren die Staatsbetriebe waren.
Chinas Multimillionäre werden immer jünger und immer noch wohlhabender. Der 32jährige Internet-Unternehmer Ding Lei steht mit einem Vermögen von 760 Mio. Euro an der Spitze der Liste der reichsten Chinesen. Der enorme Zuwachs an Reichtum zeigt, wie schnell die Wirtschaft in China in den vergangenen Jahren gewachsen ist. Das Bemerkenswerte sei jedoch, sagt der ehemalige Wirtschaftsprüfer Rupert Hoogewerf, dass die chinesischen Multimillionäre ihr Vermögen allein in den vergangenen 20 Jahren gemacht haben und bis auf wenige Ausnahmen auf keinen Familienbesitz zurückgreifen konnten.
Während der letzten 20 Jahre hat sich in China die Einstellung gegenüber Wohlstand sehr verändert. Früher galt Reichtum fast als ein Schimpfwort, heute dagegen wird Wohlstand akzeptiert, weil es die Wirtschaft antreibt, wenn Unternehmen aufgebaut werden. Das ist die Aufgabe der Unternehmer: Wohlstand für sich aber auch die lokalen Behörden zu erzeugen, indem Steuern gezahlt und Arbeitsplätze für diejenigen geschaffen werden, die von den Staatsbetrieben entlassen wurden.
Das Signal, das vom letzten Parteitag ausging, war eindeutig: Die staatliche Industrie soll in Zukunft nur noch die Rolle eines Regulators spielen, um auf diese Weise die soziale Mindestversorgung von Millionen Arbeitern zu gewährleisten. Die meisten Wirtschaftssektoren aber sollen für privates Investment geöffnet werden. Damit wird der Rückzug des Staates aus der Wirtschaft besiegelt. Entgegen aller sozialistischen Prinzipien heißt dies auch, wieder Privateigentum zuzulassen.
Der Pekinger Wirtschaftsexperte und Berater der Regierung, Hu Angang, findet angesichts der immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich klare Worte: China sei auf dem Weg, die kapitalistische Gesellschaft mit der weltweit ungerechtesten Einkommensverteilung zu werden. Er will weg vom reinen Wachstumsdenken. "In einer Planwirtschaft sei Wachstum das größte Problem, in einer Marktwirtschaft aber heißt das größte Problem Gerechtigkeit", schreibt er in einem Aufsatz.
Wie kann eine Kommunistische Partei, die faktisch den Abschied vom Sozialismus besiegelt hat, zeigen, dass sie noch zu den Arbeitern und Bauern hält? – Premierminister Wen Jiabao und Staatspräsident Hu Jintao versuchen es, indem sie aufs Land reisen, Bergleute unter Tage besuchen und im Hinterland mit Bauern sprechen. Nach mehr als zwei Jahrzehnten Reform- und Öffnungspolitik feilt die Kommunistische Partei an einem neuen Image. Die Führung gibt sich volksnah und spricht vom kleinen Wohlstand für jedermann – "Xiaokang shehui". Spätestens seit der Lungenkrankheit SARS ist Wen und Hu klar, dass sie nicht mehr nur Wachstum predigen können, sondern sich auch um die kümmern müssen, die zu den Reformverlierern gehören. Die KP China hat realisiert, dass nur ein möglichst breit gestreuter Wohlstand die Herrschaft der Partei retten kann.
Die neue Führung steht vor einem Berg von Problemen: Marode Staatsbetriebe, ein von faulen Krediten belastetes Bankensystem, eine vielerorts ineffiziente Bürokratie, Korruption und die Kluft zwischen dem reichen Ostchina und dem wirtschaftlich rückständigen Westen bedrohen die gesellschaftliche Stabilität. Der Beitritt zur Welthandelsorganisation vor zwei Jahren hat die Führung zusätzlich unter Druck gesetzt. Denn die ausländische Konkurrenz wächst – während die zentralen Steuerungsinstrumente immer häufiger versagen.
Gleichzeitig aber geht es für die KPCh um das politische Überleben. Will sie die herrschende Partei bleiben, muss sie ihre Basis verbreitern und alle wichtigen Gruppen in der Gesellschaft einbinden. Kam sie einst mit Hilfe der Bauern an die Macht, so muss sie nun mit der neuen Wirtschaftselite zurechtkommen. Nur wenn es der politischen Führung gelingt, die Interessengruppen die sie entstehen ließ, zufrieden zu stellen zu halten, bleibt ihre eigene Macht unangefochten. Um jedoch das notwendige Wachstum zu erzeugen, muss sie auch die Grundlagen ihrer politischen Herrschaft neu ordnen.
Der Shanghaier Historiker Zhu Xueqin appelliert an die Regierung, die unterschiedlichen Interessengruppen endlich zu akzeptieren und ihnen auch politische Rechte zu gewähren.
Ich wünschte, die Partei würde nicht länger die Illusion aufrecht erhalten, dass sie alle vertritt. Im Zuge der Modernisierung bilden sich unterschiedliche Interessen heraus. Die Partei sollte endlich realisieren, dass sie nur einen Teil der Gesellschaft vertreten kann.