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Auf die missgeleitete Denkweise und Gesinnung hinweisen

Friedrich Meinecke war einer der einflussreichsten Historiker seiner Zeit und zugleich ein politischer Publizist von Rang. In "Die deutsche Katastrophe" aus dem Jahr 1946 versuchte er die Ursachen zu ergründen, die zu Hitler und in die nationalsozialistische Diktatur geführt hatten. Am 30. Oktober 1862 wurde er geboren.

Von Volker Ullrich | 30.10.2012
    Das Leben des Historikers Friedrich Meinecke umspannt fast ein ganzes Jahrhundert. An seinem Beginn stand der Aufstieg des Bismarck-Reiches zu einer Großmacht, an seinem Ende der Untergang des "Dritten Reiches" und die deutsche Teilung. Geboren wurde der Sohn eines Postmeisters am 30. Oktober 1862 in Salzwedel. Die Kleinstadt in der Altmark besaß damals noch keine Anbindung ans Eisenbahnnetz; Reisende waren auf die Postkutsche angewiesen.

    "So klingt in meine ersten Lebensjahre, die ich hier verbrachte, das Posthorn vor dem Elternhaus immer fröhlich schmetternd hinein",

    erinnerte sich der inzwischen fast 80-Jährige. 1871 wurde der Vater nach Berlin strafversetzt, wo der junge Meinecke den triumphalen Einzug der Regimenter nach dem Sieg über Frankreich erlebte. Nach dem Abitur 1882 studierte Meinecke Geschichte und Germanistik und trat nach der Promotion zunächst in den Archivdienst ein. 1901 erhielt er einen Ruf an die Reichsuniversität Straßburg, 1906 wechselte er an die Universität Freiburg. Im Rückblick hat Meinecke die acht Freiburger Jahre als die glücklichsten seines Lebens bezeichnet. In dieser Zeit entwickelte er die wesentlichen Gedanken seiner drei Hauptwerke, die ihn berühmt machen sollten: "Weltbürgertum und Nationalstaat" von 1908, "Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte" von 1924, und "Die Entstehung des Historismus" von 1936. Worin das Besondere dieser Bücher lag, erläuterte Hans Rothfels, einer der ersten Schüler Meineckes, in seiner Laudatio auf den 90-jährigen Gelehrten:

    "Sie gaben der Geschichtsschreibung einen neuen Impuls, der nicht so sehr auf epische Erzählung gereinigter Tatsachen, auf künstlerischen Genuss oder patriotische Erbauung als vielmehr auf geistige Durchdringung des Politischen zielte."

    So wurde Meinecke zum Begründer der politischen Ideengeschichte in der deutschen Geschichtswissenschaft. Die Freiburger Zeit wurde prägend auch für Meineckes politische Anschauungen. Unter dem Einfluss des liberalen Klimas im Großherzogtum Baden wandte er sich immer deutlicher vom preußischen Konservatismus ab und den Ideen Friedrich Naumanns zu. Die Arbeiterschaft mit dem Bürgertum zu versöhnen und sie an den nationalen Staat heranzuführen – das war die Leitidee, für die er als politischer Kommentator in zahlreichen Artikeln warb. Seit dem Wintersemester 1914 lehrte Meinecke an der Berliner Friedrich-Wilhelms Universität. Im Unterschied zu vielen seiner Fachkollegen trat er in der zweiten Kriegshälfte für einen Verständigungsfrieden und innenpolitische Reformen ein. Und nach der deutschen Niederlage 1918 zählte er zu den wenigen deutschen Historikers, die sich zur Weimarer Republik bekannten:

    "Ich bin nicht aus ursprünglicher Liebe zur Republik, sondern aus Vernunft und vor allem aus Liebe zu meinem Vaterlande Republikaner geworden."

    Wie schon vor 1914 zog Meinecke auch in den 20-er-Jahren eine große Schar ungewöhnlich begabter Schüler an, darunter Studenten jüdischer Herkunft wie Hans Rosenberg, Gerhard Masur, Hajo Holborn, Felix Gilbert, Hans Baron, die nach 1933 emigrieren mussten und die amerikanische Geschichtswissenschaft stark beinflussten. Anders, als die meisten Hochschullehrer, arrangierte sich Meinecke nicht mit dem NS-Regime. 1935 musste er die Herausgeberschaft der "Historischen Zeitschrift" niederlegen, die er 40 Jahre lang innegehabt hatte. Nach der Ende der Hitler-Diktatur war Meinecke wiederum einer der ersten, der den Versuch unternahm, die tieferen Ursachen der deutschen Fehlentwicklung zu analysieren. In einem Gespräch äußerte er sich im Oktober 1945 über das Vorhaben:

    "Es war mir ein tiefes Bedürfnis, die Gedanken, die mich seit, ich kann sagen, seit 15 Jahren etwa ständig bewegen, die ich immer wieder im Verkehr mit urteilsfähigen Zeitgenossen überprüft habe. Endlich einmal öffentlich zu bekennen und dadurch auf die missleitete Denkweise und Gesinnung meiner Zeitgenossen wenigstens etwas, soweit meine bescheidenen Kräfte reichen, einzuwirken."

    Das Buch "Die deutsche Katastrophe" erschien 1946. In der Mischung aus nationaler Selbstkritik und Rückbesinnung auf die positiven Traditionen der Weimarer Klassik bot es dem verunsicherten Bürgertum in der Nachkriegszeit eine Orientierungshilfe. Der inzwischen 84-jährige Historiker sah sich auf dem Zenit seiner öffentlichen Anerkennung. 1948 wurde er erster Rektor der Freien Universität Berlin. Meinecke starb am 6. Februar 1954 im Alter von 91 Jahren.