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Auf eigene Rechnung

Die Kinderbetreuung der unter Dreijährigen wird mittlerweile parteiübergreifend von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, von Bildungsforschern und Politikern aller Couleur gefordert. Bis 2010, so schreibt es das neue Tagesbetreuungsausbaugesetz vor, sollen insgesamt 230.000 neue Plätze geschaffen werden. Doch damit wird längst nicht der reale Bedarf gedeckt.

Von Barbara Leitner | 06.07.2005
    Kindergarten "Kleine Strolche" in Woltersdorf, einer Brandenburgischen Gemeinde im östlichen Speckgürtel von Berlin. Am Morgen bringen Eltern ihre Kinder – auch ihre erst Ein- und Zweijährigen.

    "Was mir bei meinen Kindern aufgefallen ist, seitdem die im Kindergarten sind: Die sind wesentlich aufgeschlossener. Die lernen einfach in der Gemeinschaft wesentlich schneller und gucken sich von den anderen Kindern wesentlich schneller etwas ab, als zu Hause, man achtet vielleicht nicht so drauf."

    " Es werden mit den Anderthalbjährigen, Zweijährigen Spiele gemacht, Ringelreihe. Es wird Sport gemacht. Es wird Sport gemacht, mittwochs ist ein Sportvormittag, und das bringen sie zu Hause auch an. Da kommt er mit dem Ringel, Ringel, Reihe. Sie lernen auch das Sprechen schneller, die ganzen motorischen Abläufe im Sportraum. Hopsen, Ballspielen, Bälle werfen und die unterhalten sich ja auch in den Mischgruppen mit den Größeren, und dadurch bringen sie viel mit nach Hause."

    " Was uns hier von Anfang an aufgefallen ist, dass das Kind absolut im Mittelpunkt steht mit seinen Bedürfnissen. Das erste Bedürfnis, wenn man so ein Kind mit zehn Monaten abgibt, ist ja sicher nicht das nach Bildung, sondern nach Geborgenheit, und kleine Kinder, die neu da sind, werden auch viel intensiver betreut, und das ist ja am Anfang am wichtigsten, und man kann am Anfang auch dabei sein und hat schon ein sehr gutes Gefühl."

    Ein Kind beginnt zu lernen, wenn es auf die Welt kommt und wartet auf jede Anregung – von den Eltern, wie von anderen Kindern und Erwachsenen. Deshalb brauchen Familien Unterstützung und die leisten die Kindergärten in Woltersdorf. Für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kinderbetreuung ist das Jugendamt im Landkreis zuständig. Würde die Gemeinde allerdings nur auf dessen Leistungen bauen, säßen die Kinder heute noch in sanierungsbedürftigen, alten Gebäuden aus DDR-Zeiten. Sie aber verhandelte geschickt mit den Investoren der neu entstandenen Wohnsiedlungen und sicherte, dass zu den Eigenheimen moderne Kindertagestätten gebaut wurden. Zugleich organisiert die Gemeinde auch zusätzliche Weiterbildungen für die Kindergärtnerinnen. Die Jüngsten sollen die besten Bedingungen vorfinden, meint Michael Pieper vom zuständigen Amt für soziale Dienste.

    " Wir sagen über alle Fraktionen hinweg, Bildung ist einer der wichtigsten Standortfaktoren unseres Gemeinwesens, und deswegen investieren wir überproportional viel in Kindertagesstätten und lassen andere Bereiche, die zwar schön und angenehm sind, weg. Also, wir haben kein Kino, kein Schwimmbad, keine Bibliothek, keine Jugendfreizeiteinrichtungen. Haben wir alles nicht. Alle Gemeinden ringsum haben so etwas. Wir nicht. Das ist der Unterschied."
    Ungefähr fünf Millionen Euro steckte das 7.500 Einwohner zählende Woltersdorf in seine drei Kindergärten. Für Michael Pieper sind das allerdings keine Kosten, sondern Investitionen in die Infrastruktur und damit in die Zukunft der Gemeinde.

    "Wenn ich das bedarfsgerecht mache, attraktive Plätze schaffen, dann ziehe ich dadurch genau die Bevölkerung bei einer Wachstumsgemeinde in den Ort, die diese Plätze braucht. Das sind junge Familien, die Kinder haben. Das ist demographisch, wenn sie eine überalterte Bevölkerung haben, sehr produktiv für ein Gemeinwesen. Langfristig. Das hat etwas mit Steuereinnahmen zu tun, mit einem gesunden demographischen Gefüge einer Gemeinde. Deswegen hat die Gemeinde ein Interesse daran, ein bedarfsgerechtes attraktives Angebot an Kitaplätzen vorzuhalten – auch wenn sie rechtlich nicht dazu verpflichtet ist."

    Noch sind die meisten Kommunen in Deutschland von solch einem Verständnis weit entfernt. Woltersdorf aber sollte Alltag in der Bundesrepublik werden, so der Wunsch von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, von Bildungsforschern und Politikern aller Couleur. Lauteten im Bundestagswahlkampf 2002 die Alternativen in der Familienpolitik noch "Mehr Geld" oder "Mehr Betreuung", so ist man sich heute parteiübergreifend einig: Dringend müsse die Kinderbetreuung gerade auch für die unter Dreijährigen ausgebaut werden. In nur fünf Jahren, so die Verpflichtung der rot-grünen Koalition, sollen Plätze in ausreichender Zahl und Qualität vorhanden sein, will Deutschland – so heißt es - europäisches Niveau erreicht haben.
    Auf dem Weg dahin haben die Städte und Gemeinden in den neuen Bundesländern vergleichsweise gute Ausgangsbedingungen. Noch immer werden 37 Prozent der Kinder unter drei Jahren in einer Kindereinrichtung betreut – auch wenn die Angebote, vor allem wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der Kosten für die Kommunen, reduziert wurden. In den alten Bundesländern hingegen besuchen im Durchschnitt weniger als drei von hundert Kindern eine Tageseinrichtung. Das zu ändern trat im Januar diesen Jahres das Gesetz zum Ausbau der Kindertagesbetreuung in Kraft.
    Es verlangt von den dafür zuständigen Ländern und Gemeinden, schrittweise ihre Angebote auszubauen und gibt klar die Zielmarke vor: 2010 sollen auch in den alten Bundesländern 20 Prozent der unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz finden. Zugleich sagt es deutlich, wer Anspruch auf ein Angebot hat: Neben denjenigen, die das Wohl ihres Kindes nicht gut sichern können, vor allem Eltern, die berufstätig sind, lernen oder studieren. Das sind auch jene Familien, die im Jugendamt in Langenhagen nach einem Betreuungsplatz fragen. Jugendamtsleiterin Heidi von der Ah.

    "Die Tendenz ist tatsächlich, zumindest wenn das Kind zwei geworden ist, wieder einzusteigen. Da endet ja auch die Elternzeit. Das heißt, es ist auch ein wirtschaftliches Moment, vordergründiges Argument. Da wollen Frauen doch schon zurückkehren. "
    Mehr als 1.000 Mädchen und Jungen unter drei sind in der niedersächsischen Stadt zu Hause. 75 von ihnen besuchen gegenwärtig eine Krippe. 20 werden von einer Tagesmutter betreut. Mit einem Versorgungsgrad von 6,5 Prozent der Kinder steht die Stadt besser da als manch andere westdeutsche Kommunen, meint die Jugendamtsleiterin. Und in den nächsten Jahren, so die Planung, solle die Zahl auf zehn Prozent steigen.

    "Die Situation ist im Grunde politisch so ungünstig nicht. "
    Wolfgang Tietze, Professor für Kleinkindpädagogik an der Freien Universität Berlin:

    "Das bedauerliche Faktum, dass unsere Kinderzahl so dramatisch zurückgeht, schafft auf der anderen Seite einen Spielraum. Wir werden - verglichen mit 2002 - im Jahre 2010 rund 15 Prozent weniger Kinder im Vorschulalter haben. Bei einem gut ausgebauten Kindergartensystem, das wir haben, ist also klar, dass Plätze frei werden. Und eine der wichtigen Optionen ist jetzt, dass Kommunen und andere Träger diese Plätze nicht einfach abbauen, sondern umwidmen, die vorhandene Infrastruktur als Plätze für Kinder unter drei Jahren. "
    Doch angesichts der leeren Haushaltskassen beabsichtigen viele Kommunen nicht, die Kindergärten für die Jüngsten zu öffnen - den Auflagen des Kinderbetreuungsgesetzes zum Trotz. In ihrer Not reden immer mehr Länder davon, "Betriebswirtschaftlichkeit" in die Betreuung zu bringen, und viele Städte und Gemeinden denken daran, Kindergartenplätze zu streichen. Auch in Langenhagen:

    "Wir brauchen auch Gelder, die frei geworden sind, für die Konsolidierung. Die Kinderzahlen sinken. Wir haben jetzt zum Beispiel über 50 Plätze frei im Kindertagesstättenbereich der Drei- bis Sechsjährigen. Da liegt es nahe, ein bisschen abzubauen, aber auch umzubauen – in Richtung auf die Null- bis Dreijährigen. "
    Dabei ist der reale Bedarf an Tagesbetreuungsplätzen für Kleinkinder nicht so leicht zu erfassen. Die meisten Mütter wollen die ersten Lebensmonate mit ihrem Baby verbringen, erst recht, wenn noch weitere Kinder zu Hause sind. Sozialschwache Eltern verzichten auch später darauf, ihre Kinder in eine Einrichtung zu bringen. Bundesweit gilt allerdings: Je älter das Kind ist, wenn es Geschwister im Kindergarten hat und je höher das Einkommen ist, um so eher wünscht die Familie auch für unter Dreijährige eine Betreuung.

    "Wir Frauen wissen heute, dass drei Jahre Ausstieg aus dem Beruf eigentlich den Gnadenstoß fast schon verlangt, weil danach wieder zurück in den Beruf zurückzukehren ist so schwierig geworden im Zeitalter von fünf Millionen Arbeitslosen, dass es wichtig ist, dass man zumindest mal im Teilzeitbereich im Erwerbsleben drin bleibt, wenn man erwerbstätig sein will. "
    Ekin Deligöz, Bundestagsabgeordnete der Grünen. Andere europäische Länder bauten in den zurückliegenden mehr als 30 Jahren verlässliche Kinderbetreuungssysteme auf. In Dänemark, Schweden, Norwegen, Irland, Großbritannien und Frankreich sind zwischen 64 und 30 Prozent der unter Dreijährigen betreut. Deshalb können auch Frauen in höherem Maße berufstätig sein als in Deutschland und die Arbeitslosigkeit ist in den Ländern wesentlich geringer. Obendrein übersteigt überall dort in Europa, wo es genügend Tagesbetreuung für Kinder gibt, die Geburtenrate deutlich die von Deutschland.
    Hierzulande allerdings besteht eine enorme Diskrepanz zwischen den Wünschen der Frauen nach Berufstätigkeit und ihren tatsächlichen Möglichkeiten. Nach Untersuchungen des Institutes für Arbeits- und Berufsforschung Nürnberg sind zwar auch während ihrer, vom Staat geförderten so genannten Elternzeit 30 Prozent der Mütter in Teilzeit tätig. Die Mehrzahl der jungen Frauen aber lebt ein aufgezwungenes Hausfrauenmodell. Nur 5,7 Prozent wünschen sich tatsächlich, nicht erwerbstätig zu sein.

    "Und hier stellt sich die Frage, wie reagiert unsere Gesellschaft darauf. Gibt sie Müttern und Familien Hilfen an die Hand in Form von öffentlichen Betreuungsangeboten, die eine gute Qualität haben. Oder überlässt sie das dem freien Markt, der gegenwärtig durchaus eine Rolle spielt, so dass sich im wesentlichen nur besser verdienende Eltern ihr Betreuungsarrangement zusammenkaufen. "
    Wolfgang Tietze und sein Team fanden heraus, dass, je nachdem ob ein Kind eine gute oder eine schlechte Kindertagesstätte besucht, sich seine weitere Entwicklung bis zu einem Jahr beschleunigen oder verzögern kann. Auch bei Schulkindern ist im Lernen und im sozialen Verhalten noch spürbar, wie sie in den frühen Jahren gefördert und in ihrer Neugier unterstützt wurden.

    Deshalb will das neue Tagesbetreuungsausbaugesetz die Tagespflege aus ihrem Schattendasein herausholen und zu einer eigenständig Form der öffentlichen Kinderbetreuung entwickeln. Es verpflichtet die Kommunen, die Tagesmütter und -väter zu vermitteln, zu beraten, weiter zu qualifizieren und auch finanziell zu unterstützen. Etwas, worum man sich im Jugendamt Langenhagen bereits kümmert. Heidi von der Ah:

    "Unsere Qualifikation hat schon längst stattgefunden, indem wir die Frauen tatsächlich erst ordentlich prüfen und dann zu Angestellten der Stadt Langenhagen machen. Da ist schon eine Hemmschwelle für Frauen, die das nur mal so eben machen wollen. Die haben wir nicht. Sondern wir haben Festangestellte, die auch monatlich zu Reflektionsgesprächen zusammenkommen und so hoch qualifiziert das Angebot fahren. "
    Bis 2010 – so schreibt das Gesetz vor, sollen - ob in der Tagespflege oder in Tagesstätten – insgesamt 230.000 neue Plätze für unter Dreijährige geschaffen werden. Doch damit wird längst nicht der reale Bedarf gedeckt, rechnet das DIW aus. Eine Millionen Betreuungsplätze in den alten Bundesländern und noch dazu 210.000 in den neuen Bundesländern fehlen, damit alle Mütter mit kleinen Kindern berufstätig sein können, die es auch wollen.
    Allerdings steht bereits die Finanzierung der versprochenen Plätze auf wackligen Füßen. In der föderal organisierten Bundesrepublik sind die Länder und Kommunen für den Ausbau der Kinderbetreuung zuständig. Um nicht weitere 30 Jahre zu warten, ob vielleicht drei Prozent mehr Betreuungsplätze entstehen, beschloss die derzeitige Bundesregierung ihr Hilfsprogramm. Doch das geht nicht auf, meint Uwe Lübking, Beigeordneter beim Deutschen Städte- und Gemeindebund:

    "Die Finanzwirkungen, die Entlastung von Hartz IV, die 2,5 Milliarden Euro ist eine Entlastung von Sozialhilfeaufgaben. Hier geht es um die Frage Ausbau von Kinderbetreuung, und das hängt nun mal nicht zusammen. Die Kommunen, die von Ausgaben von Sozialhilfe entlastet werden sollen, haben unter Umständen gar nicht den Bedarf für den Ausbau der Tagesbetreuung. Das passt dann nicht, und von daher werden hier Äpfel und Birnen verglichen. Es kommt noch dazu, dass wir gar nicht wissen, ob wir bei 2,5 Milliarden landen werden. Da gibt es ja das Revisionsverfahren, wo es ja sehr, sehr strittig ist, welche Zahlen wir zu Grunde legen. Der Bund möchte seinen Anteil an den Unterkunftskosten von 3,2 Milliarden Euro auf 800 Millionen zurückfahren. Das ist ein ganz schöner Batzen. Die Länder schätzen ihre Einsparungen, die sie an die Kommunen weitergeben sollen, wesentlich geringer ein, als der Bund dies tut. Wenn man das mal summiert, ist da auch schon fast wieder die Differenz von einer Milliarde Euro. Da gibt es eine Reihe von Unwägbarkeiten, und die würden automatisch zu Lasten der Kommunen gehen. Auf diese Finanzwirkungen können wir uns nicht verlassen. D.h. die Kommunen, die jetzt ausbauen tun dies auf eigene Rechnungen. "
    Und die Kommunen bauen aus. Beispielsweise entstehen in Bayern und Hessen, in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg - gefördert durch Mitteln der jeweiligen Länder - neue Plätze in der Kindertagespflege und in Kindergärten für die unter Dreijährigen – und das auch ohne das neue Gesetz der Bundesregierung. Der ideologische Streit zwischen den so genannten "Nur-Hausfrauen" und den verantwortungslosen, erwerbstätigen Rabenmüttern scheint vergessen. Vielmehr spricht es sich rum: Eine gute Bildung und Erziehung auch der Jüngsten lohnt sich für die gesamte Gesellschaft. Uwe Lübking:

    "Wir wissen schon auch aus anderen Ländern, dass jeder Euro, der in Kinderbetreuung investiert wird, mehrfach wieder zurück kommt, nicht immer bei den Kommunen. Wenn diejenigen, die über die Vereinbarung von Familie und Beruf dann zum Steuerzahler werden, da hat natürlich vornehmlich Bund und Länder etwas davon und nicht die Kommunen. Die Kommunen profitieren nur durch eingesparte Kosten möglicherweise in der Jugendhilfe oder weniger Sozialhilfe. Das wiegt aber die Kosten nicht auf. Wenn wir hier wirklich fair eine Kosten-Nutzen-Rechnung machen würden, dann sind die großen Gewinner die Sozialversicherungssysteme, der Bund und die Länder. Und deshalb geht unsere Forderung nach wie vor in die Richtung, dass wir sagen, Bund und Länder müssen uns finanziell viel stärker unterstützen, wenn es um den quantitativen aber auch qualitativen Ausbau von Kinderbetreuung in Deutschland geht. "
    Mehrere Vorschläge werden deshalb gegenwärtig diskutiert. Zum einen eine Reform des kommunalen Finanzausgleichs. Ist es nicht möglich, einer Gemeinde um so mehr Geld zur Verfügung zu stellen, je mehr Kinder dort leben und je besser die Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind – und das unabhängig von ihrer Wirtschaftslage? So lautet ein Vorschlag.
    Zum anderen steht die Frage, wie ein Betreuungssystem für Kinder bundesweit langfristig finanziert werden kann. Heute weiß niemand genau, wie viel öffentliches Geld in Deutschland an Familien und deren Kinder fließt. Es wird nur geschätzt, dass die Summe bei 90 Milliarden Euro jährlich liegt - im europäischen Vergleich Spitze. Davon wird das meiste in Kindergeld und Steuerfreibeträge investiert; nur etwa ein Viertel in die Infrastruktur - in Kinderbetreuung oder Familienzentren. Dafür aber geben Dänemark, Schweden oder Frankreich zwischen 50 und 60 Prozent aus und gerade diese Investitionen machen deren Familienfreundlichkeit aus!
    Deshalb wird im zuständigen Ministerium gegenwärtig überlegt, eine Familienkasse einzurichten. In ihr sollten all die Mittel zusammengefasst werden, mit denen heute unüberschaubar direkt als auch indirekt Eltern und ihre Kinder unterstützt werden. Über eine Familienkasse, so die Hoffnung der ministeriellen Planer und deren Berater, könnte auch in Deutschland eine nachhaltige Familienpolitik gestaltet werden, eine Familienpolitik, die die Geburtenrate wachsen lässt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sichert, Armut verhindert und dafür sorgt, dass alle Kinder frühzeitig gefördert und gebildet werden. Das ist heute nicht der Fall. Prof. Tietze:

    "Wir erreichen bestimmte Familie überhaupt nicht, und die fördern ihre Kinder nicht unbedingt. Allgemein bekannt ist das Problem bei einem Teil jedenfalls der Migrantenfamilien, dass Kinder im frühen Alter Defizite erwerben, die ihnen dann in ihrer ganzen Bildungsbiographie nachhängen. "
    Das hat auch die PISA-Studie belegt. Dabei sind inzwischen mindestens 15 Prozent der Kinder im Alter bis zu sechs Jahren nichtdeutscher Herkunft. Gerade sie aber gehen meist erst kurz vor dem Schuleintritt in den Kindergarten. Überproportional gering werden diese Mädchen und Jungen in Krippen betreut und können auch nicht sprachlich gefördert werden. Das darf nach Meinung des Erziehungswissenschaftlers nicht länger zugelassen werden.

    "Wir haben als Gesellschaft eine öffentliche Verantwortung für junge Kinder. Junge Kinder sind nicht nur die Anhängsel arbeitender Eltern. Und wir müssen sie irgendwie betreuen, sondern der Staat hat eine Pflicht, das Kind als Subjekt ernst zu nehmen, als Subjekt von Anfang an mit eigenen Rechten zu betrachten, das bestmögliche Förderungen erhält. "
    In dem Sinne erneuern die Grünen in ihrem Wahlprogramm u.a. die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung auch für unter Dreijährige. Nicht anders die Liberalen. Sie sehen die Lücke, wenn der Staat Erziehungsgeld bis zum zweiten Lebensjahr gewährt, den Kindern aber erst ab dem dritten Lebensjahr ein Kindergartenplatz zugebilligt wird. Mit einem Regelanspruch ab zwei Jahren wollen sie die Berufstätigkeit der Frauen unterstützen. Davon spricht auch die SPD in ihrem gestern vorgestellten Wahlmanifest. Diesen Rechtsanspruch für Kinder ab zwei Jahren bis 2010 einzulösen, habe "Priorität", heißt es. Zugleich wünscht die Partei, mit den Ländern und Gemeinden die Gebührenfreiheit für den Kindergarten durchsetzen zu können.
    Mit solchen Überlegungen hält man sich in CDU/CSU-Kreisen noch zurück. Ihre familienpolitischen Leitlinien will sie erst in der nächste Woche beschließen. Doch was zu hören ist: Man setzt auf eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik für mehr Einnahmen in den Kommunen. So gewännen dann diese die Voraussetzungen, anschließend besser für die unter Dreijährigen zu sorgen. Die CSU-Bundestagsabgeordnete Maria Eichhorn:

    "Wir müssen dort ansetzen, wo die Steuereinnahmen herkommen, nämlich aus den Unternehmen, aus der Wirtschaft. Wir müssen dafür sorgen, dass wir wieder mehr Arbeitsplätze bekommen, dass wieder mehr produziert wird bei uns in Deutschland, dass wir wieder mehr Steuereinnahmen haben. Also, das heißt auch, die derzeitige prekäre Situation in der Wirtschaft trifft die Kommunen, und nur wenn es in Deutschland wieder aufwärts geht, dann können die Kommunen auch mit einem gesicherten Einkommen rechnen, kann das verwirklicht werden, was wir uns natürlich für die Jugend wünschen und brauchen. "