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Auf einmal bekommt alles Risse

Fernab von zu Hause die Sau rauszulassen: das ist fast schon ein Klischee. Ob es sich um trinkwütige deutsche Ballermänner auf Mallorca handelt oder um macht- und ausbeutungslüsterne Kolonialisten in der Dritten Welt: man entzieht sich den Zwängen von Heimat und Familie, den erlernten Regeln des Anstands.

Von Christoph Vormweg | 30.01.2007
    Clarisse, eine Schweizer Kunststudentin in Paris, lässt die Sau sehr leise raus. Sie riecht sich einfach gerne. Da sie keiner in der Metropole kennt, wagt sie es sogar zu stinken. Denn es berauscht sie, endlich "wieder sie selbst sein zu können". Je stärker sie riecht, desto sicherer ist sie sich, "über ihr früheres Leben" siegen zu können. Also beschließt Clarisse eines Tages, die Pariser Wohnung, die ihre reichen Eltern für sie angemietet haben, nur noch im Notfall zu betreten. Um sich selbst näher zu sein, will sie auf der Straße leben, in Parkhäusern schlafen, im Gebüsch oder sonst wo. Catherine Guillebaud:

    "Natürlich habe ich das mit meinen Töchtern überhaupt nicht erlebt. Meine Töchter sind nicht verschwunden, sie sind da, guter Dinge, und ich denke: glücklich. Aber ich habe da sicher Ängste verarbeitet, Gefühle wie die, dass man sich nie sicher sein kann, dass alles passieren, dass auf einmal alles Risse bekommen kann. Die wahre Frage des Buches, die - glaube ich - den Anstoß gegeben hat, es zu schreiben, ist doch: Was ist eine gute Mutter? Ich wollte nicht zwangsläufig von mir persönlich sprechen. Aber wenn man Kinder hat, ist das natürlich eine bohrende Frage, die immer da ist."

    In der Ferne lebt Clarisse ihren Krieg gegen die Mutter aus: allerdings, genauso wie ihre Mutter, nur als Schattenboxerin. Denn die ohnehin nur noch rudimentäre Kommunikation bricht bald ganz ab. Beide versinken in ihrer eigenen Vorstellungswelt: die Mutter in ihrem Reinlichkeitswahn, Clarisse in der Zwangsvorstellung, sich auf das Überlebensnotwendige beschränken zu müssen. Doch ging es für Catherine Guillebaud, Leiterin des kleinen Pariser Verlags arléa, um mehr als nur um die Darstellung eines innerfamiliären Duells.

    "Mehr noch als das Milieu der Reichen, in diesem Fall der Schweizer Privatbanken, wollte ich die Schweiz selbst zum Thema machen: jene Schweizer Berufe, die dem Kult des Geheimen und Versteckten frönen. Denn der Reichtum ist in der Schweiz hochgradig versteckt, geradezu unterirdisch. Und das fasziniert mich. Ich wollte nicht über den Reichtum an sich schreiben, sondern vielmehr über den Reichtum als eine versteckte, fast sündhafte Sache."

    In Catherine Guillebauds Roman "Sie ist weg" kreist die allwissende Erzählerin über dem Mikrokosmos der Bankiersfamilie Forner nebst Personal. Glücklich ist keiner: der Vater von Clarisse hat sich vor der todgelaufenen Ehe in die Arbeit geflüchtet; ihre Mutter leidet unter der herrischen Schwiegermutter, von der sie als Angeheiratete nie akzeptiert worden ist; ihre Brüder schließlich studieren mit Blick auf das Erbe standesgemäß in den USA. Mit einem Wort: Clarisse ist einer familiären Eiszeit entflohen. Dieses arg klischeehafte Bild löst Catherine Guillebaud jedoch in seine Nuancen auf, in die Beschreibung heimlicher Gedanken, unterdrückter Sehnsüchte und verlorener Erinnerungen an die keineswegs lieblosen Zeiten des Anfangs. In einer elegant sensiblen, rhythmisch sicheren Prosa zeichnet sie das subtile, das "heute" und "gestern" geschickt verschachtelnde Psychogramm einer Familie vor der Zerreißprobe nach. Und sie verdichtet es immer wieder in verstörenden Bildern: so, als Clarisse davor zurückschreckt, in einem Pariser Park ihre Notdurft zu verrichten; oder als sich ihre Mutter daran erinnert, wie die Liebe ihrer kleinen Tochter sie einst erstickte. In jedem Fall: Je weiter Catherine Guillebaud in ihre Figuren vordringt, desto mehr entzieht sich das Familiendrama pauschalen Schuldzuweisungen.

    "Ich habe einen Fehler: Ich mag nicht zum Schluss kommen, zum Ende. In allen meinen Büchern, aber vor allem in diesem, weiß man nicht wirklich, wie die Geschichte ausgeht. Manche Leser haben ein eher glückliches Ende gesehen: die Rückkehr von Clarisse nach Hause, wo sie endlich ihre Mutter wiederfindet: gleichsam mit gesprengtem Panzer. Andere haben ein düstereres, pessimistischeres, schreckliches Ende gesehen. [...] Sie erinnern sich: ich lasse Clarisse in der Mitte der Brücke stehen. Jeder kann sich da sein eigenes Ende imaginieren. Das hängt davon ab, wie man das Buch gelesen hat. Aber ich muss trotz allem gestehen, dass mir die mögliche Alternative eines glücklichen Endes von meinen Töchtern nahezu aufgezwungen worden ist. Es war wirklich etwas in mir, was sich heftig dagegen sträubte, nur ein dramatisches Ende vorzusehen. Das wäre für mich ziemlich unerträglich gewesen."

    Der Roman " Sie ist weg " besticht vor allem durch die psychologische Feineinstellung der Charakterzeichnung. Wichtiger als der spannend auf das Finale zugeschnittene Plot sind für Catherine Guillebaud die retardierenden Momente: die Momente der Ungewissheit, des lähmenden Zwiespalts. Sie zeigt die Arroganz der Reichen in ihrer Gebrochenheit, wenn sie für Momente aufwachen aus ihrer Fassadenwelt, weil das eigene Kind eben das eigene Kind ist und nicht nur ein Erbe, der die Konventionen aufrecht erhalten soll. Und sie zeigt den verkappten Hochmut des Kindes, das die Familienhaut nie ganz abstreifen kann.