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Auf fremdem Terrain

"Ich bin ein moralisches Monstrum ohne menschliche Gefühle". Anastassja Kamenskaja, eine neue Heldin der Kriminalliteratur, geht mit sich selbst genauso unsentimental um wie mit dem Rest der Welt. Vor der Arbeit stellt sich die Moskauer Polizeispezialistin gerne Denksportaufgaben, um das Hirn warm laufen zu lassen. Und da sie als Hobby fast jeden europäischen Dialekt beherrscht, sucht sie auch gern mal nach den Regeln des direkten Objekts der finno-ugrischen Sprachgruppe. Zwischendurch trinkt sie literweise Kaffee, raucht Kette und ist mit Mitte Dreißig gesundheitlich ganz schön herunter. Nastja, wie sie kurz genannt wird, avancierte zur Kultheldin der russischen Unterhaltungsliteratur, ihre Autorin Alexandra Marinina ist eine der prominentesten Frauen Rußlands.

Jutta Rosbach |
    "Auf fremdem Terrain" heißt der erste Roman, der nun in deutscher Sprache auf dem Markt ist. Hier begibt sich die Moskauer Heldin im Range eines Majors in ein Sanatorium, um ein Rückenleiden auszukurieren. Zunächst muß die malade Nastja die Empfangsdame kräftig schmieren, um das zugesagte Einzelzimmer zu bekommen. Bestechung ist normal, auf keinen Fall peinlich. Aber es widert sie an. Anastassja Kamenskaja verfügt über ein eingebautes Wahrheitssystem in ihrer Seele, ihre größte Waffe im Umgang mit der Welt, die manchmal allerdings zu einer unbequemen Instanz für das eigene Handeln wird. "Bin ich gemein", denkt sie dann, und macht weiter.

    Das Rußland der Alexandra Marinina ist in den Händen unterschiedlicher Mafiagruppen. Die aufmerksame Nastja stellt bei einer Fahrt durch ihre Kurstadt fest, daß diese absolut "unrussisch" wirkt. Der Putz an den Häusern ist nicht abgeschlagen, der Straßenbelag nicht ausgefahren, und die Geschäfte werden von der ortsansässigen Bevölkerung betrieben, nicht von Georgiern, Aserbeidschanern und Armeniern. Die offensichtliche Ordnung läßt nur den Schluß zu, daß hier alles in den Händen einer Mafia liegt. Die Politiker und die Polizei sind an diese Stukturen gebunden. Der Herr der Stadt heißt Denissow. Wenn seine Leute meinen, jemand beseitigen zu müssen, wird das abgesprochen mit der Polizei. Dort hat der Pate ein Kontingent für Morde, das er pro Jahr nach eigenem Gutdünken nutzen kann. Nun aber ist diese Ordnung nach Denissows Gnaden etwas außer Fasson geraten. Einer seiner Verbindungsleute wurde im Sanatorium getötet, außerdem verschwinden dort Prostituierte bei halbseidenen Videoproduktionen.

    Undurchsichtige Herren mieten sich für ein paar Tage dort ein, genießen die Sauna und schließen Wetten auf Frauen ab. Der Abnehmer dieser Gangster ist ein Schizophrener mit Zwang zum Töten. Das einzige Mittel, was ihn ruhigstellt, ist ein Video mit der Inszenierung seiner Mordphantasien. Vor laufender Kamera werden Frauen umgebracht, nach denen keiner mehr fragt.

    Marininas Heldin agiert in der verbrechensgeschwängerten Umgebung des Sanatoriums mit geradezu britischem Understatement. Sie widmet sich den Übersetzungen englischer Krimis, ihre bevorzugte Urlaubsbeschäftigung. Ansonsten ist sie erstaunlich bedürfnislos. Ihren langjährigen Geliebten vermißt sie nicht, eifersüchtig ist sie auch nicht. Erotisch ist diese Frau nie zu kurz gekommen, das begründet ihre Unabhängigkeit in sexuellen Dingen.

    Auch in intimeren Situationen bleibt ihr Kopf eingeschaltet. Ein Kurschatten, sei er auch so attraktiv wie der Filmemacher Damir, hat da kaum eine Chance. "Damir küßte sie lang und heftig, und Nastja erwiderte den Kuß ebenso gekonnt und intensiv. Er zögert zu lange, dachte sie und spürte innerlich genau den Schlag des Metronoms, das die Situation kontrollierte. Ein Mann, der von Lust gepackt ist, müßte eigentlich längst weitergehen. Wenn er seine Hände jetzt auch noch auf meinem Rücken läßt und den Keuschen spielt, dann ist alles pure Heuchelei."

    Ausgerechnet mit dem Mafioso Denissow arbeitet die kopfgesteuerte Moralistin Nastja am Ende zusammen. Aber nicht als eine willfährige Marionette - wir haben es schließlich mit einem Roman zu tun -, sondern nach einem rechtstaatlich korrekten Plan. Die Beziehung zwischen dem alternden Paten der Stadt und der rückenkranken Kettenraucherin läuft nach den Regeln mittelalterlicher Minne. Das hat schon Charme.

    Als Täterin erscheint am Ende ein gekränktes Genie. Eine begnadete Musikerin, die wegen ihrer körperlichen Gebrechen nie zu Ruhm und Ansehen kam. Kunst, die nicht sein darf, das ist die Moral dieses Romans, taugt zum Mord. Kamenskaja gewinnt,weil sie die Gabe hat, ihre Wahrnehmungen im nachhinein fotografisch zu aktivieren. "Am Bewußtsein geht nichts vorbei: weder ein zufällig erblicktes Gesicht, noch ein vor langer Zeit aufgeschnapptes Wort, noch ein Gefühl von Angst, das in einem unpassenden Augenblick und aus unbekannter Ursache entsteht."

    Wie ihre Heldin war Alexandra Marinina in ihrem ersten Leben bei der Polizei. Damals hieß sie noch Marina Alexejewna. Acht Jahre lang beschäftigte sich die promovierte Juristin mit der Analyse von Verbrechen, acht Jahre , die ihr reichlich Quellenmaterial boten. Angeblich geht die Autorin, die mit einem studierten Kriminalisten verheiratet ist, noch heute gern auf den Schießstand. Für einen Roman braucht die 41jährige, deren Bücher erst seit vier Jahren auf dem Markt sind, im Durchschnitt vier Monate. KeinWunder bei dem Pensum, daß sie auch die Laster ihrer Heldin Nastja teilt: Für Kaffee- und Nikotinnachschub ist stets gesorgt.