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Auf Gedeih und Verderb

Für Tim Flannery ist die Welt nicht verloren. Wie sollte sie auch, denn der Autor ist offensichtlich ein glühender Anhänger der Gaia-Hypothese. Die wurde in den 1970er Jahren von Lynn Margulis und James Lovelock entwickelt und besagt, dass die Erde ein supervernetzter Organismus ist: Planet und Leben sind untrennbar verwoben.

Rezension: Dagmar Röhrlich | 18.12.2011
    Flannery führt diese Hypothese aus, erzählt die Geschichte der Erde und der Menschheit, deren Sünden er geradezu genüsslich ausbreitet: Überbevölkerung, Artenschwund, Abholzung, Luftverschmutzung, Ozonloch, Verstädterung… Trotz der Länge dieser Liste müsse man nicht aufgeben: Weil auch der Mensch Teil dieses Superorganismus ist, mag sein hausgemachter Klimawandel die Zivilisation bedrohen, aber die Erde kann sich retten.

    Doch zunächst zu Gaia. Die Hypothese wird oft als "Pseudowissenschaft" verschrieen. Jedenfalls in ihrer ursprünglichen Form. Geologen forschen seit langem an den großen Stoffkreisläufen und wie sie sich im Lauf der Jahrmilliarden verändert haben - und zwar durch auch das Leben selbst. Das ist eines der interessantesten Forschungsgebiete überhaupt. Tim Flannery wollte diese Erkenntnisse nutzen, in die Gaia-Hypothese integrieren und sie publikumswirksam formulieren. Das Problem: Vor allem im ersten Teil liest sich seine Argumentation blumig bis bizarr. So wurden die schwereren Elemente im "Herzen" der Sterne erbrütet, Planeten nutzen ihr Energiebudget, um ihre "Organe" aus dem Gleichgewicht zu bringen. Manchmal wirkt der Text esoterisch, etwa, wenn es darum geht, dass "die Erdkruste sich in ein Lebewesen verwandelte".

    Mit der Art seiner Formulierungen rückt Flannery ernsthafte Forschung - etwa dazu, wie Organismen in die Ökosysteme eingreifen und sie verändern - in die Nähe von Pseudoreligionen. Da geht Popularisierung zu weit. Außerdem ist für einen Autor, der sich mit geobiologischen Fragestellungen befasst, das geologische Wissen überraschend oberflächlich. So ist ihm ist anscheinend weder der Unterschied zwischen Kontinentaldrift und Plattentektonik klar, noch die zentrale Rolle der Plattentektonik im System Erde. Dass der Thunfisch kein Tiefseebewohner ist, müsste einem Zoologie-Professor eigentlich bekannt sein - und wenn Genom und Gen verwechselt wird, kann man nur hoffen, dass dieser Irrtum auf einen Fehler des Übersetzers zurückgeht.

    Zum Glück besteht dieses Buch nicht nur aus kruden Formulierungen. Später wird es interessanter, schließlich ist eine optimistischere Sicht der Zukunft dringend notwendig, damit nicht Fatalismus die Entscheidungen der Menschen bestimmt. Und so führt der Autor aus, warum für ihn der Mensch nicht nur das Problem ist, sondern auch die Lösung. Für Flannery wird der Mensch zum Hoffnungsträger, wenn er den Weg zur "Tugendgemeinschaft" beschreitet - durch technologischen Fortschritt, Koordination, Kooperation und elektronischen Netzwerken, in denen Milliarden von Menschen in einer Art globaler Bürgerinitiative ihre Vertreter wählen, die dann mit großem, moralischem Gewicht die Politik voranbringen.

    Tim Flannery legt seine Hoffnungen in jeden Menschen, dass beispielsweise die Menschen in den Industrienationen vernünftiger leben, künftig kleiner für chic halten und energieeffiziente Wagen und Wohnungen erstrebenswert finden. Sie müssen Opfer bringen, damit es den anderen besser geht. Schon aus Eigennutz, denn in einer zunehmend globalisierten Welt sei die Armut der gemeinsame Feind: "In Zukunft werden motivierte, aber verarmte Jugendliche zunehmend mehr Möglichkeiten bekommen, die relativ ruhige, entwickelte Welt zu bedrohen, denn die Entfernungen zwischen uns schrumpfen immer weiter, wir wissen immer mehr voneinander und immer gefährlichere Technologien werden immer leichter verfügbar." Flannery setzt auf Demokratie und Wohlstand. Sie sollen dafür sorgen, dass sich nachhaltiges Wirtschaften global durchsetzen werden. Für Flannery wird jeder Einzelne dazu beitragen, die Erde zu retten, erkennen, dass kurzfristiges Profitdenken überwunden werden muss.

    Tim Flannery: Auf Gedeih und Verderb - Die Erde und wir: Geschichte und Zukunft einer besonderen Beziehung.
    ISBN 978-3-100-21114-9
    Fischer Verlag, 368 Seiten, 22,95 Euro