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Neurobiologen versuchen schon seit vielen Jahren, die unterschiedlichen Charaktermerkmale von Autisten über Auffälligkeiten im Gehirn zu erklären. Ein US-amerikanisches Forscherteam hat durch eine Analyse von EEG-Hirnstrommessungen autistischer Kinder und Jugendlicher herausgefunden, dass in ihren Gehirnen die Kommunikation weiter auseinanderliegender Gehirnareale eingeschränkt ist.

Von Leonie Seng | 22.05.2013
    Ist es Erstaunen, Freude oder Verwunderung, was die andere Person fühlt oder zum Ausdruck bringen will? Vielen Menschen mit Autismus bleibt die Bedeutung emotionaler Mimik zunächst verborgen. Sie können nonverbale Zeichen wie einen skeptischen Blick oder ein erstauntes Gesicht oft nicht richtig interpretieren.

    Eine mögliche Erklärung dafür liefert nun ein US-amerikanisches Forscherteam. Doktor Jurriaan Peters und seine Kollegen vom Children's Hospital in Boston werteten die Hirnströme von Kindern und Jugendlichen mit Autismus aus, die sie mit Elektroenzephalografie, kurz EEG, gemessen hatten. Diese Messmethode gibt Aufschluss über die Funktion einzelner Hirnbereiche:

    "Was wir herausfanden, passt gut zu aktuellen Theorien über die kognitiven Vermögen von Autisten: Wir entdeckten, dass bei ihnen lokal benachbarte Gehirnareale stärker über ihre Funktionen verknüpft sind als Areale, die weiter voneinander entfernt liegen. Das könnte bedeuten, dass Informationen zwar lokal in spezialisierten Gebieten verarbeitet werden, allerdings können sie offenbar nicht in andere Areale projiziert werden, wo die einfache Information zu einem komplexeren Begriff zusammengesetzt werden könnte. Genau das ist aber nötig, um Areale zu integrieren, die bei sozialen oder sprachlichen Ereignissen beteiligt sind."

    Die Kommunikation im Gehirn findet zwischen Neuronen über elektrische Signale statt. Die Forscher hatten bereits in einer früheren Studie Spannungsschwankungen an der Kopfhaut mittels EEG gemessen - diese Messungen ermöglichen Rückschlüsse auf die elektrische Aktivität von Nervenzellen. Um nun herauszufinden, wie stark die funktionale Verknüpfung zwischen den verschiedenen Hirnregionen ist, wertete das Forscherteam mittels einer sogenannten Netzwerktheorie am Computer aus, wie ähnlich sich verschiedene EEG-Signale waren, die zur selben Zeit an verschiedenen Orten an der Kopfhaut abgeleitet worden waren. Jurriaan Peters erklärt die Theorie an einem Beispiel:

    "Netzwerktheorie ist eine Möglichkeit, um ein funktionales Netzwerk von außen zu betrachten und seine Eigenschaften als Ganzes zu beschreiben. Anstatt sich also die physische Beschaffenheit einer Autobahn anzuschauen, ihre Schlaglöcher oder Brücken, die repariert werden müssen, betrachteten wir das Verkehrsaufkommen zwischen und in verschiedenen Städten."

    Das erhöhte Verkehrsaufkommen zwischen benachbarten Gehirnrealen könnte erklären, warum ein autistisches Kind möglicherweise nicht versteht, wie ein verärgertes Gesicht aussieht: Sein visuelles Gehirnzentrum und das Areal, wo emotionale Ereignisse verarbeitet werden, sind womöglich nicht gut miteinander verknüpft, so die Folgerung der amerikanischen Neurologen - das heißt, sie arbeiten nicht gut zusammen. Ein Gesicht kann demnach also visuell wahrgenommen, nicht aber emotional bewertet werden.

    Und noch etwas entdeckten die Forscher bei der Simulation der funktionalen Neuronenverknüpfungen mit der Netzwerktheorie: Bei den von ihnen untersuchten Autisten gab es viele neuronale Verbindungen zwischen Gehirnbereichen, die kaum genutzt werden. In der Analogie der Autobahn wären das Straßen, die kaum oder nicht befahren werden. Solche überflüssigen Neuronen können verhindern, dass sich für einzelne Informationen spezialisierte Verarbeitungswege herausbilden, erklären die Forscher. Es kann somit wesentlich länger dauern, bis eine Information ihr Ziel erreicht, da unklar ist, welchen Weg sie nehmen wird.

    "Einer Theorie zufolge kommt jeder Mensch mit einer Menge überflüssiger Neuronenverknüpfungen auf die Welt. Wenn dann manche Verbindungen stärker gebraucht werden als andere, beim Lernen und Erinnern zum Beispiel, dann bilden sich die ungenutzten Verbindungen rasch zurück."

    Bei Kindern mit Autismus scheint diese Rückbildung noch nicht stattgefunden zu haben. Ob sich die überflüssigen Nervenverbindungen jedoch bei erwachsenen Autisten zurückbilden, ist bislang noch unerforscht, wie Charlotte Tye und Patrick Bolton vom Institut für Psychiatrie am King's College in London in einem Kommentar zu der Bostoner Studie schreiben. Bisher gibt es noch kaum Studien über die neuronale Entwicklung bei Autisten über größere Lebensabschnitte. Das soll sich mit zukünftigen Studien ändern.