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Auf linker Mission

Nach seinem letzten Klassentreffen ging der Autor Christoph Ruf mit einem Auftrag nach Hause: Er wollte herausfinden, was es bedeutet, "links" zu sein. Also hat er sich auf die Reise durch Deutschland begeben. Er besuchte alternative Wohnsiedlungen und beobachtete Wahlkämpfe.

Von Sabine Pamperrien |
    Vor zwei Jahren veröffentlichte der Journalist Christoph Ruf gemeinsam mit seinem Kollegen Olaf Sundermayer ein viel beachtetes Buch mit zahlreichen Reportagen über die NPD und ihr Umfeld. Seither weiß die Öffentlichkeit, dass die NPD strategisch geschickt und intellektuell keineswegs so unterbelichtet wie vermutet an der Faschisierung breiterer Wählerschichten arbeitet. Ruf und Sundermayer zeigten, wie tief die nationalsozialistische Ideologie bereits in die sogenannte Mitte der Gesellschaft vordringen konnte. Im Buch über die NPD ging es um klassische Aufklärung. Der Blick der Autoren schärfte sich auch durch ihr eigenes Erschrecken über den fortgeschrittenen Verfall demokratischer Gesinnung.

    Neuer Forschungsgegenstand des ehemaligen Spiegel-Online-Redakteurs Ruf sind die Linken. Wer aber nun als logische Folge des ersten Buchs eine Entlarvung der umstrittenen Partei Die Linke als weitere demokratiefeindliche Kraft erwartet, wird enttäuscht.

    Anstoß für das Vorliegende Buch waren Rufs Beobachtungen bei seinem ersten Klassentreffen seit dem Abitur 1991. Im Sommer 2009 traf der Autor seine ehemaligen Klassenkameraden wieder. Bei einer gemeinsamen Grillparty wurde über dies und das gesprochen, Familie, Beruf, Politik, alte Zeiten. Das Szenario, das gewöhnlich Drehbuchautoren zu Schnulzen über die erste Liebe animiert, provozierte eine umfassende Bestandsaufnahme dessen, was heute in Deutschland unter dem Adjektiv links firmiert. Ruf fokussiert das politische Engagement in der Jugend und den traurigen Ist-Zustand der Politikmüdigkeit heute.

    "Parteien finden die meisten unserer Altersgenossen so attraktiv wie die Zeugen Jehovas."

    Plötzlich wird den Enddreißigern bewusst, dass sie 1991 fast alle links und politisch aktiv waren - und zudem genau definieren konnten, was links bedeutete. 2009 verstehen sich fast alle immer noch als irgendwie links, können aber nicht mehr erklären, was das heißt und belächeln jeden, der sich parteipolitisch engagiert oder treten ihm mit Misstrauen entgegen. Was ist aus dem Engagement von einst geworden? Es macht die Geschichte dieses Buchs charmant, dass im Sinne eines "Ruf, übernehmen Sie!" die Gefährten der Jugend den Journalisten drängen, herauszufinden, was heute links ist. Ruf gibt zu, dass ihn längst schon Zweifel an der eigenen Rolle plagten.

    "Wir Medienleute sind mitschuldig daran, dass die politischen Debatten immer oberflächlicher werden – und das Spitzenpersonal immer stromlinienförmiger. Das sage ich laut. Was ich nicht sage: Ich, der Medienmensch, denke seit Kurzem darüber nach, wie stromlinienförmig ich selbst geworden bin."

    Im Grunde verdankt sich einer kollektiven Midlife-Crisis eine lesenswerte Zustandsbeschreibung linker politischer Gruppierungen und ihrer Wähler. Ein Recherchemarathon führte Ruf zu Gesprächen mit Anhängern und Vertretern von SPD, der Linken und den Grünen in ganz Deutschland. Dass es die Problemzonen tatsächlich gibt, die sein Kollege Jan Fleischhauer in "Unter Linken" so kurzweilig bloßstellte, leugnet er nicht.

    "Fleischhauer hat schon Recht: Die Linken können nerven wie keine zweite Subspezies des Homo sapiens erectus. Dogmatismus und Lustfeindlichkeit, schamlose Selbstgerechtigkeit und penetranter Moralismus, wo die Argumente versiegen. Wer die deutsche Linke beschreibt, stößt geradezu automatisch auf Personen und Aussagen, die man nur karikieren kann."

    Trotz aller Kritikpunkte sieht Ruf indes keine Alternativen zu linker Politik. FDP und CDU/CSU sind für ihn von vornherein keine Option. Ruf fragt zwar: "Was ist links?". Doch schon vor Beantwortung dieser Frage weiß er, dass alles andere schlecht ist. Jede Stunde, die man in turbulenten Mitgliederversammlungen eines fundamentalistischen Stadtverbandes der "Linken", im piefigen SPD-Ortsverein oder bei Grundsatzdebatten abgehobener Grünen-Ökologiegruppen verbringe, sei spannender und aufrichtiger als ein Bundesparteitag von FDP oder CDU, behauptet er.

    Den Nachweis, dass selbiges für Sitzungen etwa der CDU-Arbeitnehmergruppe, des linksliberalen Flügels der FDP oder anderen mit seinen Beispielen eher vergleichbaren Untergruppierungen gilt, führt er nicht. Ebenfalls unangemessen platt wird die Schröder-SPD mit ihrer Agenda-Politik und dem dazugehörigen Personal abgewatscht. Dabei springt ins Auge, dass der Autor selbst so etwas wie eine Agenda verfolgt. Er strickt mit seinem Buch an der Akzeptanz für eine Zusammenarbeit von SPD, Grünen mit der umstrittenen Partei Die Linke auf Bundesebene.

    "Ich möchte herausbekommen, warum diese drei Parteien, die mir und den meisten meiner Klassenkameraden fast schon wie natürliche Verbündete vorkommen, so viel Energie darauf verschwenden, sich wechselseitig zu bekämpfen."

    Unter dieser Prämisse, die bei der Lektüre des analytischen Teils immer mitgedacht werden sollte, geht Ruf mit scharfer Beobachtungsgabe an seine Gesprächspartner heran. Glücklicherweise zitiert er sie meist umfassend in direkter Rede und ergänzt klug notwendige Hintergrundinformationen. Genau das ist es, was in der vorgelegten thematischen und personellen Breite das Buch außerordentlich lesenswert macht. Der Autor zeigt das gesamte Spektrum der täglichen politischen Arbeit linker Parteien, ihrer Entscheidungsfindung, ihrer Verhandlungsmaximen und ihrer Theoriebildung. Er ist im Osten wie im Westen herum gereist und meint am Ende, die Antwort auf seine Eingangsfrage gefunden zu haben:

    "Links zu sein bedeutet heute, ökologisch und ökonomisch umzusteuern – in aller Radikalität. Wir werden uns um des Überlebens des Planeten willen radikal einschränken müssen. Und wir werden, um eines zivilen Zusammenlebens willen, diesen Prozess so gestalten, dass die Mehrheit der Gesellschaft diese Ziele mit allen Konsequenzen teilt. Auf die Probleme des 21. Jahrhunderts kann nur die geeinte Linke eine politische Antwort geben."

    Kann sie? Das entscheiden die Wähler. Fast wünscht man sich, der Autor hätte sich damit begnügt, als gut belegtes Fazit zusammenzufassen, dass die drei Parteien sich in ihrer politischen Zielsetzung nur unwesentlich unterscheiden. Das Buch ist ja nicht nur an heimatlose Linke adressiert. Es bietet allen, die an ernsthafter inhaltlicher Auseinandersetzung interessiert sind, vielschichtige Einblicke in linke Politik. Was jetzt zur Komparatistik fehlt, sind Reportagen aus dem bürgerlichen Milieu.


    Christoph Ruf: "Was ist links? Reportagen aus einem politischen Milieu". Beck'sche Reihe, 252 Seiten, 12,95 Euro
    ISBN: 978-3-406-60649-6