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Auf Schilf bis nach Indien

Archäologie. – Als Archäologen vor einigen Jahre bei Ausgrabungen in Saudi Arabien ein hochseetüchtiges Boot aus Schilfrohr fanden, rätselten sie über die Konstruktion. Australische und italienische Forscher könnten dieses Geheimnis jetzt aber lüften. In einer Werft im italienischen Ravenna entsteht derzeit ein Nachbau des Schilf-Schiffes und soll zeigen, ob man es damit bis nach Indien schafft.

    Von Thomas Migge

    Das Schilf-Schiff sieht aus wie ein Halbmond. In etwa wie der Halbmond auf den Fahnen des arabischen Roten Kreuzes. Es ist 13 Meter lang und maximal 4,6 Meter hoch. Seine Breite misst zwischen 3,5 und 4,3 Metern. In seiner Mitte erhebt sich ein Mast, ganze 13 Meter hoch. An einem der Enden des Halbmonds sind zwei lange Holzruder in dafür vorgesehenen Einbuchtungen angebracht. Beide Ruder werden von nur einem Steuermann bedient. So wie im dritten Jahrtausend von Christus. Dieses ungewöhnliche Schiff steht in einer Werft im mittelitalienischen Ravenna und wird derzeit fertiggestellt. Das seltsame Gefährt steht dabei auf dem Kopf. Das heißt: die Halbmondform zeigt mit ihren beiden Enden nach unten und nicht nach oben. Auf diese Weise können die Innenwände des Schiffes besser verbunden werden. Sie bestehen nämlich, wie das ganze Schiff, aus Schilfrohr. Sieben Tonnen Schilfrohr. Feinsäuberlich in möglichst gleichlange Stangen geschnitten, zurechtgebogen und mit Hanfbändern erst zu einfachen Seilen und dann zu immer dickeren Seilen verbunden. Ein Schiff, erklärt die Archäologin Bruna Clementi; mit dem man vor Jahrtausenden von Mesopotamien aus bis nach Indien gefahren ist:

    Hier wurde ein Schiff nachgebaut, wie es im antiken Mesopotamien existierte. Eine Schiffsart, deren Existenz von der Altertumswissenschaft lange Zeit bestritten wurde. Schriften aus dem 3. Jahrtausend vor Christus berichteten über diese Transportboote, aber es gab so gut wie keine Darstellungen aus dieser Zeit. Dieser Schatz wurde dann schließlich gefunden.

    Der Archäologe Maurizio Tosi von der Universität Bologna entdeckte vor einigen Jahren in Ra's al-Jins auf der arabischen Halbinsel Tontafeln mit den Darstellungen dieser Schiffe, die gemeinhin auch Schiffe von Magan genannt werden. Auf diesen Tontafeln ist deutlich sichtbar, wie diese Schiffe aussahen. Antike Schriften geben allerdings keine Auskunft über deren Grösse. Das hielt des Schiffsarchäologen Tom Vosmer vom Western Australian Maritime Museum in Freemantle aber nicht davon ab in Zusammenarbeit mit der Universität Bologna und dem Ethnografischen Forschungszentrum in Bagnacavallo, finanziert von einigen Banken, ein solches Schiff der alten Mesopotamier nachzubauen. Dazu Bruna Clementi:

    Alle Teile dieses Schiffes mussten, wenn man so will, neuerfunden werden. Man wusste ja nicht wie die Mesopotamier den Schilf zusammenbanden und womit, woraus das Segel bestand und aus welchem Holz die Ruder. Es gibt ja keine Dokumente, die über die Materialien Auskunft geben.

    Die italienischen Archäologen versuchten das Schiff zu rekonstruieren. Sie nutzten dafür eine Schilfart - Phragmites palustris - die im antiken Mesoptamien auch zum Bau von Hütten benutzt wurde. Ausgehend von der noch heute auf der arabischen Halbinsel anzutreffenden Bauweise für Fischerhütten wurden die Schilfstangen getrocknet und mit Hanfleinen verknotet. Die Außenwände des Schiffes bestrichen die Archäologen mit einer Paste aus zerriebenen Korallen und Muscheln. Ein Material, das im Zweistromland, so Bruna Clementi, zur Imprägnierung von aus Pflanzen hergestellten Behältern benutzt wurde:

    Auf die gleiche Weise wurde ein Modell des Schiffes produziert und imprägniert. Damit unternahm man die erste Fahrversuche auf dem Wasser. Und siehe da: dieses Modell schwamm. Wir müssen uns vergegenwärtigen, die die Mesopotamier mit diesen Schiffen auf weite Seereisen gingen. Das heißt, sie wussten, wie man ein Schiff aus Schilfrohr seetüchtig macht.

    Schiffe, mit denen sie Handel trieben. Bis nach Indien. Der Schiffsarchäologe aus Australien und seine Kollegen aus Italien wollen bald schon ihren Schiffsnachbau ausprobieren. Zunächst in der Adria. Wenn dieser Versuch glückt, wollen sie vom heutigen Oman aus, ein Land, das in der Antike zum Reich der Mesopotamier gehörte, den Versuch unternehmen, bis nach Indien zu fahren.