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Auf und ab mit System

Technik.- Jeder, der mit Aufzügen zu seinem Arbeitsplatz gelangt, hat sich vermutlich schon öfter gefragt, warum eigentlich extra eine Kabine von ganz oben kommt, obwohl die nächste doch nur ein Stockwerk entfernt steht. Aber das hat einen guten Grund.

Von Karl Urban | 19.12.2011
    Schon am Morgen ist Stau im Erdgeschoss. Mittags dauert es ewig, bis endlich eine Kabine anhält. Und abends?

    Abends ist wieder Warten angesagt in der Redaktionsetage von "Forschung aktuell" im 16. Stock. Ich stehe vor vier Fahrstühlen, über denen Ziffern leuchten: Drei Kabinen stehen weit entfernt, unten im Erdgeschoss, die vierte in der Musikredaktion, also nur ein Stockwerk weiter oben. Die könnte mich auf ihrem Weg nach unten einfach aufsammeln. Aber den Gefallen tut sie mir nicht.
    Ohne zu halten fährt die Kabine vorbei. Dafür kommt eine von ganz unten zu mir hinauf gefahren, vom Erdgeschoss bis ins 16. Stockwerk . Nicht nur die Kollegen von "Forschung aktuell" fragen sich das ständig: Warum hält nicht einfach der nächstbeste Fahrstuhl an?

    Am ehesten kennt der Haustechniker Jürgen Bongartz wohl den Verantwortlichen für dieses Verhalten. Wie so oft im Leben ist das ein Algorithmus.

    "Es gibt einen Zentralrechner und da kommt folgende Information rein: Der weiß, wo jede Kabine steht und welcher Ruf dort jetzt eingespeist wird. Entweder von außen oder von innerhalb der Kabine."

    Ein Steuerrechner im Technikraum hat also alle Fäden in der Hand. Zur Sicherheit sind das sogar vier Computer, einer für jeden Aufzug. Die Maschinen treffen jede Fahrentscheidung gemeinsam, in Sekundenschnelle. Und trotzdem ist so eine Entscheidungen meist ziemlich komplex.

    "Eine konventionelle Steuerung macht nichts anderes als Wartezeitreduktion. Also sie versucht, die Zeit bis Sie im Aufzug sind, zu minimieren. Das heißt, es wird in der Regel der nächste Aufzug gewählt, der bei Ihnen anhält."

    Für die Aufzugsentwickler wie Paul Friedli vom Lifthersteller Schindler im Schweizer Ebikon war die optimale Steuerung lange Zeit eine Herausforderung: Ich auf dem Flur im 16. Stock möchte vielleicht, dass die nächste Kabine nach unten einfach anhält. Aber wer schon im fahrenden Lift steht, möchte schnell sein Zielstockwerk erreichen, ohne dass die Kabine auf dem Weg stoppt.

    In diesem Interessenkonflikt wägen die Steuerungsrechner bei jedem Tastendruck irgendwo im Gebäude ab: Wie lange ist die Zeit insgesamt, die alle Menschen gemeinsam vor und im Lift verbringen? Und wie kann diese Zeit möglichst kurz gehalten werden?

    "Es ist ein Teufelskreis-Algorithmus, aber das hat man sehr lange nicht erkannt."

    Und es wird noch vertrakter, weil ein jeder Fahrstuhl auch Energie sparen muss. Und Energiesparen funktioniert dann am besten, wenn jeder Korb genau halb voll ist.

    "Also eine Kabine, die 20 Personen fasst, hat ein Gegengewicht, das so schwer ist wie die leere Kabine plus etwa zehn Personen. Das heißt, wenn ich zehn Personen in der Kabine habe und ich mach die Bremse auf, dann bleibt sie mehr oder weniger stehen."

    Ist die Kabine dagegen leer, verbraucht der Fahrstuhl genauso viel Strom als wenn sie voll besetzt wäre. Denn entweder kämpft der Motor gegen das Gewicht der Menschen oder gegen das des Gegengewichts an. Kabinen vorzugsweise halb voll fahren zu lassen, ist deshalb das Ziel einer modernen Aufzugssteuerung, die in immer mehr Hochhäusern eingesetzt wird. Die klassische Steuerung würde hier schnell versagen, besonders beim allmorgendlichen Gerangel im Erdgeschoss: Der Albtraum aller, die hoch hinaus wollen.

    "Jeder Aufzug ist ein Einzelkämpfer am Morgen. Am Morgen gibt es eine Aufwärtsspitze, also alle wollen ins Gebäude. Das nennen wir Füllbetrieb. Ein Aufzug kommt und alle strömen da hinein. Dann können Sie sicher sein, dass wahrscheinlich alle zehn Knöpfe innen gedrückt sind. Und wenn sie in den elften Stock wollen, dann schauen sie zehn oder neun mal zu, wie andere Leute aussteigen."

    Deshalb laufen viele Aufzüge heute - besonders in den Wolkenkratzern - mit einer Zielrufsteuerung: Die Armaturentafel für das anvisierte Stockwerk wandert aus der Kabine nach draußen in den Flur. Nach dem Drücken verteilt der Computer nun die Wartenden optimal - und teilt jedem Fahrgast gesondert mit, mit welchem Aufzug er am schnellsten in sein Stockwerk gelangen wird.

    So fahren im morgendlichen Füllbetrieb etwa alle, die in den elften Stock wollen, gemeinsam und ohne einen Zwischenhalt. Und eine zweite Kabine in die Stockwerke drei und vier kann sich schon bald anderen Aufgaben zuwenden.

    Zurück zu den vier Kabinen im Deutschlandfunk und den Fragen meiner Kollegen. Wenn demnächst wieder eine Kabine einfach an meiner Etage vorbei fährt, obwohl sie mich doch auf dem Weg hätte mitnehmen können: Ist der Aufzug dann im Energiesparmodus? Oder ist es der Intendant auf Sonderfahrt?

    Zumindest Haustechniker Jürgen Bongartz stellt sich diese Frage nicht. Denn er weiß, dass der Algorithmus ganz genau weiß, was er tut.

    "Wundern tun sich die Leute schon und da kann ich Ihnen nur versichern, dass der Computer völlig emotionslos seine Befehle abarbeitet."