Freitag, 19. April 2024

Archiv


Auf- und Abtauchen an wechselnden Orten

In "Hasenleben" erzählt Jens Steiner die Geschichte der alleinerziehenden Lili, die mit ihren beiden Kindern ziellos und Haken schlagend durch das Leben stromert. Dennoch porträtiert der Autor "die Alleinerziehende" nicht, sondern nähert sich ihr auf lakonische Art und Weise.

Von Sabine Peters | 17.05.2011
    René Magrittes berühmtes Pfeifenbild, das Ende der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts entstand, - "dies ist keine Pfeife" beziehungsweise "der Verrat der Bilder" - dieses Bild steht für den Versuch, unsere Wahrnehmungs-, Seh- und Denkgewohnheiten aufzubrechen. Magritte, der als "malender Denker" bezeichnet wurde, verwandelt Vertrautes in Fremdartiges, er fragt nach Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Kurzgefasst: Ein Bild kann man nicht rauchen.

    Der Schweizer Jens Steiner, Jahrgang 1975, beginnt sein Romandebüt "Hasenleben" ganz konventionell mit dem Satz, "dies ist Lilis Geschichte", um wenig später festzustellen: "Dies ist keine Geschichte."

    Aber dann geht es los mit Lili, die sich in der Schweiz an wechselnden Orten als Kellnerin durchschlägt. Sie hat zwei Kinder, trotzdem kann man sie nicht gut als "alleinerziehende" Mutter bezeichnen, denn Lilis erzieherische Ansprüche sind gelinde gesagt unklar; sie selbst lebt maßlos. Emma und Werner sind es gewöhnt, dass fast nie gekocht wird und dass ihre Mutter nach durchtanzten Nächten tagsüber unansprechbar ist; die Kinder wissen, dass ihr Zuhause kein "warmer Hasenstollen" ist. Der neunjährige Werner streift auf eigene Faust durch die Hotels, in denen Lili kellnert; die elfjährige Emma sitzt meist am Fenster; manchmal ritzt sie sich mit Scheren und Rasierklingen.

    "Hasenleben", dieser Romantitel spielt auf eine Existenz an, der man im Grunde nicht folgen kann. Lili lebt wie auf der Flucht, wobei sie ihren Kindern die ständigen Ortswechsel schönredet – ihnen liege die Welt zu Füßen. Eine alte Frau, bei der Emma und Werner sich manchmal aufhalten, fragt, wo denn der Vater sei. Tot? Aber eines Tages taucht in einem der Hotels ein Gast auf, der wohl Emmas Vater ist. Jens Steiner will allerdings mit seinem Buch kein Rätsel auflösen, er stellt vielmehr Rätsel her. Etwa so: Als die alte Nachbarin verstorben ist und sich keine Angehörigen melden, nimmt Lili aus deren Wohnung ganze Packen von Geldscheinen mit und näht sie in einen Mantel ein. Offenbar vergisst sie dies Geld, wie so vieles andere auch. Und wieder wird ein Wohnort gewechselt. Von der Stadt Genf heißt es bündig: "Ein Stolpern hinein und ein Stolpern hinaus." Eine lakonische und dabei äußerst bildreiche Schreibweise. Bei der Lektüre dieses Erstlings hat man den Eindruck, als hätte der Autor schon lange geschrieben; er hat sich eine eigene Sprache erarbeitet, und der Text, der inhaltlich im Ungewissen, Unsicheren bleibt, ist mit einer Sicherheit geschrieben, die dabei keinesfalls wie eine lässige Routine wirkt.

    Unkonventionelle Bilder und Vergleiche: Da bewegt sich das Stichwort "Abhauen" durch Lilis Kopf wie "ein nobler Ohrwurm", ihr Gedächtnis "rumpelt" , und verwirrt sieht sie ein vorüberfahrendes Auto "mit schreienden Köpfen in den Fenstern". Der kleine Werner nimmt sich einmal vor, nicht mehr zu denken, und wenn doch, dann "etwas kleines Ruhiges". In der Wahrnehmung von Mutter und Kindern versteht sich sozusagen nichts von selbst. Und doch könnte ihre Geschichte so weitergehen, ein fortgesetztes Auf- und Abtauchen an wechselnden Orten. Aber dann taucht Werner buchstäblich ab, er ertrinkt, ein Unfall. Es lässt sich niemandem die Schuld zusprechen, aber Schuldgefühle gibt es natürlich. Ein Bademeister ist dem Kind noch hinterhergesprungen, niemand hat ihn je bei so etwas gesehen, und dann heißt es: "Tränen werden ihm in die Augen steigen, die Wut über die eigene Schuld, die Wut über die Lektion, die ihm erteilt wird. Eine triefende Badehose und ein gesenkter Blick. Die Lektion des Bademeisters. Dem Bademeister seine Lektion." Man sieht an einer solchen bewusst zögerlichen, stockenden Satzfolge voll Wiederholungen, dass es Steiner erzählerisch nicht um das Vordringen zu einem Mittelpunkt geht. Er interessiert sich für die Ränder der Wahrnehmung, für das Zerfranste einer Existenz.

    "Hasenleben" ist kein Roman, der mit einer These über die Gesellschaft, über die Familie oder "die" alleinerziehende Mutter aufwartet; die Gestalten werden nicht psychologisiert, sie werden gezeigt. Emma wächst heran und wiederholt das Muster ihrer Mutter, sie stromert unter wechselnden Namen durch halb Europa. Als Lili stirbt, nimmt die Tochter von ihren Sachen unter anderem den alten Mantel, den sie anzieht. Ohne es zu merken, hinterlässt sie im Gehen eine Spur von Geldscheinen, die aus dem Mantel flattern. Ende der Geschichte.

    Jens Steiner hat ein im guten Sinne merkwürdiges Romandebüt geschrieben. Der Roman braucht im Grunde keine zeitliche Verortung. Diese Geschichte, die keine ist, arbeitet mit Wiederholung und Variation; sie lässt an das "Aufgeschichtete" denken, an geologische Formationen: Das, was man zunächst als massiven Felsblock wahrnimmt, zeigt bei näherem Hinsehen Zerklüftetes, Verschobenes, zeigt Risse und Verwerfungen. "Hasenleben" ist die Erzählung einer großen Verunsicherung. Das Buch legt Spuren und ist von Lücken durchzogen, es führt den Leser planmäßig in die Irre – so macht sich Lili vor ihrem Tod noch einmal mit dem halluzinierten Werner auf den Weg, und aus Emma wird phasenweise Lili.

    Man kann die Gestalten, die nicht ganz von dieser Welt sind, kaum im konventionellen Sinn verstehen - sie wollen sich nicht greifen lassen. Haarfeine Beobachtungen aus dem Alltag und faustdicke Lügen gehen hier Hand in Hand, und selbst wenn man am Ende nicht sagen kann, "was" hier gespielt wird: Das "Wie" des Erzählens nimmt einen mit. Man springt sozusagen nach Hasenart durch den Text.

    Jens Steiner: "Hasenleben". Roman. Dörlemann-Verlag, 288 S., 19,90.-