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Aufarbeitung der Kirchengeschichte

Nur zögerlich widmeten sich zunächst die Unternehmen, dann auch die evangelische und katholische Kirche dem lange ignorierten Forschungsfeld der Zwangsarbeit im Dritten Reich. Jetzt hat die Kommission für Zeitgeschichte bei der katholischen Bischofskonferenz eine 700 Seiten starke Dokumentation veröffentlicht. Der Band ist ausgesprochen detailliert und bemerkenswert selbstkritisch, urteilt Rezensent Hajo Goertz.

26.05.2008
    Die Polin Maria K. wird 1921, mit 21 Jahren, zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Sie kommt in die Niederlassung des Cellitinnen-Ordens in Heisterbach bei Bonn. Die Polin arbeitet in der Landwirtschaft und als Zimmermädchen im Hotelbetrieb des Klosters. Beim Ausgang muss sie das staatlich vorgeschriebene P-Abzeichen tragen.

    Bei einem kurzen Urlaub zu Hause 1943 erfährt die junge Frau, dass die Deutschen alle Bewohner ihres Heimatdorfes interniert haben und dass ihre Eltern in Auschwitz umgekommen sind. Als sie später mit den Heisterbacher Nonnen darüber spricht, können diese Marias Worte nicht verstehen. Der Name Auschwitz hat damals am Rhein keine besondere Bedeutung. Die Ordensschwestern vertreten dezidiert die Ansicht, die Polen müssten etwas Schlechtes getan haben, sonst hätten die Deutschen sie nicht so bestraft.

    Dies ist eines der markanten Einzelschicksale von Zwangsarbeit in katholischen Einrichtungen während der Nazi-Diktatur. Die Erforschung dieses Kapitels kirchlicher Zeitgeschichte im Dritten Reich wurde ausgelöst durch die öffentliche Debatte über die Zwangsarbeit um die Jahrtausendwende.

    Bis dahin war das Thema auch in den Kirchen tabuisiert, teilweise sogar verleugnet worden. Widerlegt durch einzelne Vorgänge, machten sich evangelische und katholische Kirche daran, dem pauschalen Vorwurf zu begegnen, sie hätten massenhaft Zwangsarbeiter beschäftigt.

    "Zwischen 1939 und 1945 sind in 776 katholischen Einrichtungen insgesamt 5.904 Zwangsarbeiter quellenmäßig nachweisbar, 4.829 Zivilarbeiter und 1.075 Kriegsgefangene. Die exakte Gesamtzahl wird sich nicht mehr ermitteln lassen. Man wird aber selbst dann in einem 0,5/0,6 Promille-Bereich landen, wenn man zu den nachweisbaren Beschäftigungen noch eine Dunkelziffer in der unrealistisch hohen Annahme von zehn oder zwanzig Prozent addiert. (…) Heute ist aber klar: Der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in der katholischen Kirche war nicht 'flächendeckend', ja nicht einmal die Regel","

    resümiert Karl-Joseph Hummel. Der Historiker ist Direktor der Kommission für Zeitgeschichte, einer Einrichtung der katholischen Bischofskonferenz zur Erforschung der jüngeren Kirchengeschichte. Die Kommission hat jetzt eine über 700 Seiten starke Dokumentation "Zwangsarbeit und katholische Kirche 1939 bis 1945" veröffentlicht.

    Darin wird nicht nur der äußerst umfangreiche Rechercheprozess in den Archiven aller Bistümer und ungezählter karitativer Einrichtungen dargestellt. Der Band beleuchtet auch das Phänomen selbst ausgesprochen detailliert, in aufgeschlüsselten und kommentierten Statistiken ebenso wie in aufschlussreichen Einzelfällen wie dem der Polin Maria K.

    Der kriegsbedingte Mangel an Arbeitskräften habe viele kirchliche Einrichtungen genötigt, auch Zwangsarbeiter zu beschäftigen, um den eigenen Bestand gegen Übergriffe der Nazis zu sichern - so beschreibt Hummel, einer der beiden federführenden Herausgeber der Dokumentation, die damalige Motivlage.

    ""Um also die Einrichtungsinteressen zu wahren, schien es gerade in den Kriegsjahren oft keine realistische Alternative zu Kompromissen mit den Verantwortlichen in Staat und Partei zu geben. Dabei flossen patriotische Motive in das kirchliche Verhalten ebenso ein wie die Ängste vor gewaltsamen Beschlagnahmen durch Polizei und SS. Und diese Gemengelage (…) führten zu Ambivalenzen, Spannungen und Anpassungen, in einzelnen Fällen auch zu verhängnisvollen Fehlleistungen."

    Zwar seien die Zwangsarbeiter von kirchlichen Arbeitgebern deutlich weniger drangsaliert worden als in nichtkirchlichen Betrieben, aber vor Gewalt auch nicht völlig sicher gewesen. So stellt Mitherausgeber Christoph Kösters in seinem zusammenfassenden Aufsatz fest:

    "Zivilarbeiter wurden dem zeitgenössischen Verständnis 'körperlicher Züchtigung' entsprechend auch in kirchlichen Einrichtungen geschlagen, nicht aber systematisch misshandelt. Die Sorge, im Fall staatlichen Eingreifens die dringend benötigte Arbeitskraft verlieren zu können, dürfte (…) auch in katholischen Einrichtungen bedeutsam gewesen sein. Wiederholt kam es dennoch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, in welche dann die Gestapo mit Verhaftungen eingriff. Gerechtigkeit konnten die Zwangsarbeiter nicht erwarten."

    Solche und ähnliche Feststellungen belegen, dass diese Dokumentation bemerkenswert selbstkritisch ist - durchaus im Unterschied zu andere Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, die eher apologetisch eingefärbt sind. Diese Haltung ist wohl bestimmt vom Auftraggeber der Dokumentation, der Deutschen Bischofskonferenz, namentlich ihrem früheren Vorsitzenden, dem Mainzer Kardinal Karl Lehmann:

    "Am historischen Beispiel des Einsatzes von Zwangsarbeitern in kirchlichen Einrichtungen zeigt sich, dass Vorstellungen von 'Widerstand' einerseits und 'Kollaboration' andererseits, wie sie bislang geläufig waren, Wahrnehmungen geprägt und zum Teil auch Geschichtsbilder und Diskussionen bestimmt haben, die geschichtlich fassbare Vergangenheit nicht hinreichend abbilden. Die neuen Einsichten, die wir gewonnen haben, tragen nicht nur zum besseren Verstehen der geschichtlichen Vergangenheit bei, sondern dienen auch der präziseren historischen Erinnerung."

    Neben dem zusammenfassenden Überblick ist die Dokumentation gegliedert in die Forschungsberichte der deutschen Diözesen. Sie sind zwar von unterschiedlicher Qualität, bieten aber in der Regel zugleich auch regionalgeschichtliche Hintergründe zur kirchlichen Situation im Dritten Reich. Diese Kurzdarstellungen weisen auf bislang unbearbeitete Felder hin, die weitere historische Tiefenbohrungen zur Kirchengeschichte im Dritten Reich erfordern.

    Karl Josef Hummel/Christoph Kösters (Hg.):
    Zwangsarbeit und katholische Kirche 1939 - 1945.
    Geschichte und Erinnerung. Entschädigung und Versöhnung

    Schöningh Verlag, 703 Seiten, 48 Euro