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Aufarbeitung der NS-Zeit
Wie Nazis im Innenministerium Karriere machten

Nach anfänglichem Zögern hat im vergangenen Jahr auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière eine Historiker-Kommission beauftragt, die NS-Belastung seines Ministeriums zu untersuchen. Mit bedrückendem Ergebnis. Der Anteil der Beamten mit brauner Vergangenheit war exorbitant hoch.

Von Christiane Habermalz | 05.11.2015
    Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer und Staatssekretär Dr. Hans Globke im Gespräch. Aufgenommen im September 1963 in der italienischen Hauptstadt Rom.
    Ein Alt-Nazi, der auch in der BRD noch Karriere machte: Hans Globke (rechts) war Staatssekretär im Kabinett Adenauer. (picture-alliance / dpa)
    Der Jurist Gerhard Scheffler hatte während der NS-Zeit in den 30er-Jahren bereits im Reichsministerium des Inneren Dienst getan. Während des Krieges wurde er als Oberbürgermeister von Posen im besetzten Warte-Gau eingesetzt – und trug dort die Verantwortung für die Germanisierung von Betrieben und organisierte die Deportation von Polen und Juden in Ghettos. 1945 tauchte er unter dem falschen Namen "Otto Jungfer" unter. Nach einigen Jahren, in denen er sich bemühte, nicht aufzufallen, erschien er 1950 im Bundesinnenministerium wieder – ab 1955 als Leiter der Sozialabteilung, wo er maßgeblich das Bundessozialhilfegesetz vorbereitete, eines der wichtigsten der Gesetzesvorhaben in der Anfangszeit der Bundesrepublik.
    "Dieser Übergang von einer NS-Germanisierungs- und Diskriminierungspolitik als prominent wirkender Oberbürgermeister in Posen, hin zur demokratisch-parlamentarischer Sozialpolitik als leitende Figur im BMI für das Bundessozialhilfegesetz, innerhalb nur weniger Jahre, ist bemerkenswert."
    Maren Richter vom Institut für Zeitgeschichte in München gehört zu der Projektgruppe von Historikern, die im Auftrag von Bundesinnenminister Thomas de Maizière die NS-Belastung seines Hauses untersuchen. Karrieren wie die von Scheffler im BMI sind zwar besonders spektakulär. Doch ein Einzelfall ist er beileibe nicht. Der Hausherr selber zog am Ende einer Tagung, auf der die Ergebnisse einer ersten elfmonatigen Untersuchung vorgestellt wurden, Bilanz.
    "Wir haben erfahren, dass der Anteil von NSDAP-Mitgliedern auf der Leitungsebene des BMI zwischen 1949 und 1970 54 Prozent betrug. Diese Zahl ist sehr hoch. Sie liegt über den Werten der Untersuchung, soweit man sie jetzt kennt, des Bundeswirtschaftsministeriums des Bundesjustizministeriums und denen des Auswärtigen Amtes."
    Historiker analysierten 1.100 Lebensläufe
    In ihrer Studie haben die Historiker 1100 Lebensläufe analysiert und sich dabei auf das Leitungspersonal des Ministeriums konzentriert, von den Staatssekretären bis zu Abteilungs- und Referatsleitern. Dabei wurden auch Personalakten des Ministeriums ausgewertet. Ergebnis: Neben den NSDAP-Parteimitgliedern, deren Anteil noch im Jahr 1970 50 Prozent betrug, befanden sich auch 25 Prozent frühere SA-Mitglieder in den Leitungspositionen. Eines Ministeriums, das, wie Frank Bösch, Leiter des ebenfalls beteiligten Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam betonte, eine Schlüsselrolle für den Aufbau und den Schutz der Demokratie in der Bundesrepublik einnahm. Es hatte zahlreiche Aufgaben:
    "Von klassischen Themen, die Sie heute noch kennen, wie Innere Sicherheit, über Felder wie die Gesundheitspolitik, die ja auch noch zum Innenministerium damals gehörte, bis hin zur Medien- und Kulturpolitik. Alle diese Felder waren wiederum nach dem Nationalsozialismus besonders sensible Bereiche."
    Wer waren die Personen, die das Bundesinnenministerium aufbauten, welche Haltungen und Prägungen brachten sie mit, und vor allem, inwiefern flossen diese in die von ihnen verantwortete Politik ein? Und welche Kriterien gelten für NS-Belastung? Die heutigen oder die von damals? Die Kommission bemühte sich, neben der formalen Belastung der Beamten durch Mitgliedschaft in NS-Organisationen auch zu bewerten, was sie genau getan hatten – vor und nach 1945. In manchen Fällen ist das frappant. Etwa im Fall des Leiters des Aufenthalts- und Asylrechtsreferats Kurt Breull, der seine antisemitische Grundhaltung nie abgelegt hatte. Ausgerechnet er war im Bundesinnenministerium mit Föhrenwald, einem Lager für Displaced Persons, befasst, in dem sich zahlreiche Juden - Holocaust-Überlebende, die nach gescheiterten Emigrationsversuchen aus Israel zurückgekehrt waren - zusammengefunden hatten.
    Gustav Heinemann als erster Innenminister nicht verantwortlich für NS-Belastung
    "Aus Sicht des BMI handelte es sich um Illegale, da sie weder über eine Aufenthaltsgenehmigung noch über einen deutschen Pass verfügten. Kurt Breull agierte vor diesem Hintergrund in vier Richtungen. Zum ersten wollte er den Zustrom weiterer Juden stoppen, zum zweiten wollte er die Zurückgekehrten aus Föhrenwald in andere Lager verlegen, um sie so schneller und effektiv polizeilichen Maßnahmen unterziehen zu können. Zum Dritten sollten sie von staatlichen Leistungen ausgeschlossen werden, und zum vierten wollte er sie so schnell wie möglich nach Israel wieder abschieben."
    Wie aber kommt es zu der hohen NS-Belastung im BMI? Am ersten Bundesinnenminister, Gustav Heinemann, lag es nicht. Er hatte als Mitglied der Bekennenden Kirche dem Widerstand nahegestanden. Vergeblich bemühte er sich darum, die früheren Nazis in seinem Hause gering zu halten. Es gebe nicht ausreichend unbelastete Fachleute, wurde ihm entgegengehalten. Und letztlich handele es sich doch um unpolitische Beamte, die Ihren Dienst taten, um Chaos und Zersetzung vom Staat fernzuhalten. Egal, von welchem. Bei den frühen Einstellungen spielte die Parteizugehörigkeit daher weniger eine Rolle als die "Zuverlässigkeit" aufgrund von Empfehlungen und alten Netzwerken. Eine Schlüsselfunktion nahm dabei der frühere NS-Beamte Hans Globke ein, Vertrauter Konrad Adenauers und Staatssekretär im Kanzleramt. Welche genau - das muss noch erforscht werden. Das Bundeskanzleramt unter Angela Merkel aber sieht bislang keine Notwendigkeit, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten.