"Es gibt zu diesem Thema sexuelle Gewalt in Institutionen sehr wenig Forschung bisher. Sowohl national als auch international. Es gibt Erfahrungsberichte aus Irland beispielsweise, aus den USA. Neuere Studien gibt es inzwischen allerdings in Kanada. Aber das, was wir gemacht haben, ist relativ einmalig. Oder ist einmalig, dass wir nach den bekannt gewordenen Fällen in Institutionen gefragt haben."
Im Fokus der Studie stehen die Schulen, Internate und Heime in Deutschland. Wie häufig wurden hier Fälle von sexuellem Missbrauch bekannt? Wie gingen die Verantwortlichen in diesen Einrichtungen damit um? Und was müsste getan werden, um solche Vorfälle zu verhindern oder frühzeitig aufzudecken?
Diese Fragen haben Elisabeth Helming und ihre Kollegen vom Deutschen Jugendinstitut(DJI) mehr als 1.000 Schulleitungen und 700 Vertrauenslehrkräften gestellt. Auch die Führungsebene von mehreren Hundert Heimen sowie von allen deutschen Internaten kam zu Wort. Das DJI hörte außerdem Fachkräfte an und ließ auch Betroffene über Prävention und Intervention diskutieren. Die Soziologin Elisabeth Helming:
"Was sie bestätigen, unsere Ergebnisse, ist eigentlich, dass sich wirklich jede Institution mit diesem Thema auseinandersetzen muss. Was sie leider auch bestätigen, dass Institutionen, die eigentlich ja dem Schutz und dem Aufgehobensein der Kinder dienen sollen, dass die nochmal genauer über den Schutz von Kindern auch in ihrer Institution nachdenken müssen."
Nicht nur die große Zahl der bekannt gewordenen Verdachtsfälle hat die Wissenschaftler überrascht. Auch die Unterschiede zwischen den Bildungseinrichtungen seien beträchtlich: So hat die Hälfte der befragten Schulen von mindestens einem Fall berichtet. Dagegen konnten sich mehr als 80 Prozent der Heimleitungen an ein oder mehrere Vorkommnisse erinnern.
Als Täter erwiesen sich entweder die an der Einrichtung beschäftigten Erwachsenen oder Kinder und Jugendliche, die selbst übergriffig wurden. Weitere Vorfälle ereigneten sich im privaten Umfeld und wurden an der Schule oder im Heim bekannt.
Die meisten Fälle, an die sich die Leitungen und Lehrer erinnern konnten, stammen aus den vergangenen drei Jahren. Die Psychologin Alexandra Langmeyer vom DJI:
"Möglicherweise könnte man davon ausgehen, dass es jetzt mehr Fälle geworden sind, wobei ich glaub', dass das nicht nur daran liegt, sondern eher dass man mehr darauf schaut. Und wenn man sich auch anschaut, welche Fälle das sind, die hier angestiegen sind, es sind eben nicht mehr Fälle durch Erwachsene, sondern Fälle zwischen Jugendlichen und Kindern oder Fälle, die außerhalb der Einrichtungen stattgefunden haben."
Zu den auffallendsten Ergebnissen der Münchner Studie zählt der hohe Anteil sexueller Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen. Fast jeder fünfte Schulleiter berichtete von solchen Verdachtsfällen, in denen Schüler und Schülerinnen auffällig wurden. Ähnlich viele Internate kennen das Problem - und noch viel mehr Heime. Helming:
"Ich finde dieses Ausmaß der sexuellen Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen selber, das finde ich doch sehr hoch. Und ich finde, da müssen wir dringend drüber nachdenken, wie wir auch beispielsweise mit den sexuell übergriffigen Kindern und Jugendlichen umgehen. Disziplinarische Maßnahmen werden ja natürlich hauptsächlich genannt. Aber das reicht ja nicht aus. So dass es auch wirklich nachhaltig eine Art Prävention wird, wenn diese Kinder und Jugendlichen erwachsen werden, dass es nicht weiter geht."
Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass sich das Ausmaß sexueller Gewalt in den Schulen, Heimen und Internaten sehr voneinander unterscheidet. An den Schulen scheint sie weniger stark ausgeprägt. Die erwachsenen Täter berührten die Schüler und Schülerinnen meist am Körper, weniger an den Geschlechtsteilen, oder belästigten sie verbal. In den Heimen aber penetrierten in fast 20 Prozent der berichteten Fälle die Erwachsenen ihre Opfer, das heißt, es kam tatsächlich zum Geschlechtsverkehr.
In den Heimen zeigten auch Kinder und Jugendliche extremere Formen sexueller Gewalt. In jedem vierten Fall versuchten sie, mit einem Gegenstand oder dem Geschlechtsteil in ihr Gegenüber einzudringen. Im Vergleich dazu fassten die Heranwachsenden an den Schulen ihre Altersgenossen häufiger am Körper oder an den Geschlechtsteilen an.
"Das ist wirklich ein dramatisches Ergebnis, würde ich sagen. Aber die Kinder, die in stationären Einrichtungen untergebracht sind, die haben einfach diese schlechten Vorerfahrungen, oft ja auch Erfahrungen sexueller Gewalt. Wir wissen nach wie vor, dass das Reviktimisierungsrisiko von Kindern, die bereits sexuelle Gewalt erfahren haben, sehr hoch ist. Wir haben anscheinend noch nicht genügend Hilfe und Unterstützungsangebot für Kinder, die bereits sexuelle Gewalt in irgendeiner Form erfahren haben, so dass es nicht wieder dazu kommt."
Bestätigt sehen die Wissenschaftler vom Deutschen Jugendinstitut, dass bestimmte Risikofaktoren die sexuelle Gewalt in Bildungseinrichtungen, in Verbänden und Vereinen begünstigen. Als besonders gefährdet gelten jene Gruppen, die sich nach außen abkapseln und geschlossene Systeme bilden, etwa kleine Wohngruppen in Heimen und Jugendgruppen. Oder Lehrer, die eine besondere Beziehung zu einem Kind aufbauen und dieses auf Geheimhaltung verpflichten. Doch auch die eigene emotionale Vernachlässigung oder das Erleben von Gewalt zwischen den Eltern lassen junge Menschen häufiger zu Opfern werden. Besonders ausgeliefert sind wehrlose Kinder mit Behinderung.
Umso wichtiger sei es, mit Hinweisen auf sexuelle Gewalt qualifiziert umzugehen, betonen Helming und Langmeyer. Denn meist suchen sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen oder ihre Mitschüler einen Ansprechpartner vor Ort.
Langmeyer:
"In den Schulen kommt es sehr häufig vor, dass sich Kinder oder Jugendliche an eine Lehrkraft wenden und nicht unbedingt immer an die Vertrauenslehrkraft, sondern auch sehr oft an die Klassenleitung. Aber auch Eltern sind eine häufige Informationsquelle. Die kommen dann in die Schulen und haben von ihren Kindern das gehört und reden dann mit den Lehrern."
Helming:
"Sexuelle Gewalt ist für die Opfer mit ganz viel Scham und Ekel auch verbunden, mit so einem Gefühl auch von Ausgeschlossenwerden und Geheimhaltungsgeschichten, die damit verknüpft sind. Wenn sie sich öffnen, dann muss ihnen jemand gegenüberstehen, der das nicht dramatisiert, verstärkt: Oh, wie furchtbar. Und auch nicht runter bügelt: Naja, das war wohl nicht so."
Diese Gesprächskompetenz muss das Personal trainieren und sich regelmäßig fortbilden, fordert das Deutsche Jugendinstitut. Allerdings existiert in vielen Einrichtungen bereits eine Vertrauensperson oder eine anonyme Beschwerdemöglichkeit wie ein Briefkasten. Manche informieren die Kinder über sexuellen Missbrauch oder bieten Kurse zur Selbstbehauptung an.
Insbesondere die Kooperation mit externen Beratungsstellen sei auszubauen, lautet das Fazit der Studie. Außerdem müsse jede Bildungseinrichtung Leitlinien festlegen, nach denen sie im Notfall handeln könne. Ziel sei nicht nur, einen Missbrauch zu stoppen, sondern den betroffenen Kindern schnellstmöglich eine therapeutische Hilfe zu bieten.
Für entscheidend hält Elisabeth Helming, das Thema in den Schulen, Internaten und Heimen wach zu halten. Mit den Kindern und Jugendlichen sei eine besondere Kultur zu pflegen: das Reden über Grenzen:
"Was sind Graubereiche, was sind Grenzverletzungen. Da gibt es ganz schöne Beispiele, wie man auch die Kinder selber einbeziehen kann: Dass man eine Art Ampel-Plakat macht. Rot ist was Fachkräfte überhaupt nicht dürfen, Gelb sind so Graubereiche und Grün ist, was Fachkräfte, was Erzieher und Erzieherinnen auch gegenüber den Kindern dürfen."
Im Fokus der Studie stehen die Schulen, Internate und Heime in Deutschland. Wie häufig wurden hier Fälle von sexuellem Missbrauch bekannt? Wie gingen die Verantwortlichen in diesen Einrichtungen damit um? Und was müsste getan werden, um solche Vorfälle zu verhindern oder frühzeitig aufzudecken?
Diese Fragen haben Elisabeth Helming und ihre Kollegen vom Deutschen Jugendinstitut(DJI) mehr als 1.000 Schulleitungen und 700 Vertrauenslehrkräften gestellt. Auch die Führungsebene von mehreren Hundert Heimen sowie von allen deutschen Internaten kam zu Wort. Das DJI hörte außerdem Fachkräfte an und ließ auch Betroffene über Prävention und Intervention diskutieren. Die Soziologin Elisabeth Helming:
"Was sie bestätigen, unsere Ergebnisse, ist eigentlich, dass sich wirklich jede Institution mit diesem Thema auseinandersetzen muss. Was sie leider auch bestätigen, dass Institutionen, die eigentlich ja dem Schutz und dem Aufgehobensein der Kinder dienen sollen, dass die nochmal genauer über den Schutz von Kindern auch in ihrer Institution nachdenken müssen."
Nicht nur die große Zahl der bekannt gewordenen Verdachtsfälle hat die Wissenschaftler überrascht. Auch die Unterschiede zwischen den Bildungseinrichtungen seien beträchtlich: So hat die Hälfte der befragten Schulen von mindestens einem Fall berichtet. Dagegen konnten sich mehr als 80 Prozent der Heimleitungen an ein oder mehrere Vorkommnisse erinnern.
Als Täter erwiesen sich entweder die an der Einrichtung beschäftigten Erwachsenen oder Kinder und Jugendliche, die selbst übergriffig wurden. Weitere Vorfälle ereigneten sich im privaten Umfeld und wurden an der Schule oder im Heim bekannt.
Die meisten Fälle, an die sich die Leitungen und Lehrer erinnern konnten, stammen aus den vergangenen drei Jahren. Die Psychologin Alexandra Langmeyer vom DJI:
"Möglicherweise könnte man davon ausgehen, dass es jetzt mehr Fälle geworden sind, wobei ich glaub', dass das nicht nur daran liegt, sondern eher dass man mehr darauf schaut. Und wenn man sich auch anschaut, welche Fälle das sind, die hier angestiegen sind, es sind eben nicht mehr Fälle durch Erwachsene, sondern Fälle zwischen Jugendlichen und Kindern oder Fälle, die außerhalb der Einrichtungen stattgefunden haben."
Zu den auffallendsten Ergebnissen der Münchner Studie zählt der hohe Anteil sexueller Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen. Fast jeder fünfte Schulleiter berichtete von solchen Verdachtsfällen, in denen Schüler und Schülerinnen auffällig wurden. Ähnlich viele Internate kennen das Problem - und noch viel mehr Heime. Helming:
"Ich finde dieses Ausmaß der sexuellen Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen selber, das finde ich doch sehr hoch. Und ich finde, da müssen wir dringend drüber nachdenken, wie wir auch beispielsweise mit den sexuell übergriffigen Kindern und Jugendlichen umgehen. Disziplinarische Maßnahmen werden ja natürlich hauptsächlich genannt. Aber das reicht ja nicht aus. So dass es auch wirklich nachhaltig eine Art Prävention wird, wenn diese Kinder und Jugendlichen erwachsen werden, dass es nicht weiter geht."
Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass sich das Ausmaß sexueller Gewalt in den Schulen, Heimen und Internaten sehr voneinander unterscheidet. An den Schulen scheint sie weniger stark ausgeprägt. Die erwachsenen Täter berührten die Schüler und Schülerinnen meist am Körper, weniger an den Geschlechtsteilen, oder belästigten sie verbal. In den Heimen aber penetrierten in fast 20 Prozent der berichteten Fälle die Erwachsenen ihre Opfer, das heißt, es kam tatsächlich zum Geschlechtsverkehr.
In den Heimen zeigten auch Kinder und Jugendliche extremere Formen sexueller Gewalt. In jedem vierten Fall versuchten sie, mit einem Gegenstand oder dem Geschlechtsteil in ihr Gegenüber einzudringen. Im Vergleich dazu fassten die Heranwachsenden an den Schulen ihre Altersgenossen häufiger am Körper oder an den Geschlechtsteilen an.
"Das ist wirklich ein dramatisches Ergebnis, würde ich sagen. Aber die Kinder, die in stationären Einrichtungen untergebracht sind, die haben einfach diese schlechten Vorerfahrungen, oft ja auch Erfahrungen sexueller Gewalt. Wir wissen nach wie vor, dass das Reviktimisierungsrisiko von Kindern, die bereits sexuelle Gewalt erfahren haben, sehr hoch ist. Wir haben anscheinend noch nicht genügend Hilfe und Unterstützungsangebot für Kinder, die bereits sexuelle Gewalt in irgendeiner Form erfahren haben, so dass es nicht wieder dazu kommt."
Bestätigt sehen die Wissenschaftler vom Deutschen Jugendinstitut, dass bestimmte Risikofaktoren die sexuelle Gewalt in Bildungseinrichtungen, in Verbänden und Vereinen begünstigen. Als besonders gefährdet gelten jene Gruppen, die sich nach außen abkapseln und geschlossene Systeme bilden, etwa kleine Wohngruppen in Heimen und Jugendgruppen. Oder Lehrer, die eine besondere Beziehung zu einem Kind aufbauen und dieses auf Geheimhaltung verpflichten. Doch auch die eigene emotionale Vernachlässigung oder das Erleben von Gewalt zwischen den Eltern lassen junge Menschen häufiger zu Opfern werden. Besonders ausgeliefert sind wehrlose Kinder mit Behinderung.
Umso wichtiger sei es, mit Hinweisen auf sexuelle Gewalt qualifiziert umzugehen, betonen Helming und Langmeyer. Denn meist suchen sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen oder ihre Mitschüler einen Ansprechpartner vor Ort.
Langmeyer:
"In den Schulen kommt es sehr häufig vor, dass sich Kinder oder Jugendliche an eine Lehrkraft wenden und nicht unbedingt immer an die Vertrauenslehrkraft, sondern auch sehr oft an die Klassenleitung. Aber auch Eltern sind eine häufige Informationsquelle. Die kommen dann in die Schulen und haben von ihren Kindern das gehört und reden dann mit den Lehrern."
Helming:
"Sexuelle Gewalt ist für die Opfer mit ganz viel Scham und Ekel auch verbunden, mit so einem Gefühl auch von Ausgeschlossenwerden und Geheimhaltungsgeschichten, die damit verknüpft sind. Wenn sie sich öffnen, dann muss ihnen jemand gegenüberstehen, der das nicht dramatisiert, verstärkt: Oh, wie furchtbar. Und auch nicht runter bügelt: Naja, das war wohl nicht so."
Diese Gesprächskompetenz muss das Personal trainieren und sich regelmäßig fortbilden, fordert das Deutsche Jugendinstitut. Allerdings existiert in vielen Einrichtungen bereits eine Vertrauensperson oder eine anonyme Beschwerdemöglichkeit wie ein Briefkasten. Manche informieren die Kinder über sexuellen Missbrauch oder bieten Kurse zur Selbstbehauptung an.
Insbesondere die Kooperation mit externen Beratungsstellen sei auszubauen, lautet das Fazit der Studie. Außerdem müsse jede Bildungseinrichtung Leitlinien festlegen, nach denen sie im Notfall handeln könne. Ziel sei nicht nur, einen Missbrauch zu stoppen, sondern den betroffenen Kindern schnellstmöglich eine therapeutische Hilfe zu bieten.
Für entscheidend hält Elisabeth Helming, das Thema in den Schulen, Internaten und Heimen wach zu halten. Mit den Kindern und Jugendlichen sei eine besondere Kultur zu pflegen: das Reden über Grenzen:
"Was sind Graubereiche, was sind Grenzverletzungen. Da gibt es ganz schöne Beispiele, wie man auch die Kinder selber einbeziehen kann: Dass man eine Art Ampel-Plakat macht. Rot ist was Fachkräfte überhaupt nicht dürfen, Gelb sind so Graubereiche und Grün ist, was Fachkräfte, was Erzieher und Erzieherinnen auch gegenüber den Kindern dürfen."