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Aufbäumen im stummen Schmerz

Plinius nannte sie die wohl schönste Skulptur der griechischen Kunst: Als man die Laokoon-Gruppe vor 500 Jahren in Rom fand, beeinflusste sie Michelangelo und die Kultur der Renaissance, später auch Winckelmann und Lessing. Ihre Zuschreibung bleibt aber umstritten.

Von Henning Klüver | 14.01.2006
    Wir wissen nicht genau, wie das Wetter an diesem Tag in Rom war. Vielleicht schien die Sonne in der Hauptstadt des Kirchenstaates, die nach langer Zeit des Niedergangs langsam wieder aufblühte. Die gesellschaftlichen Eliten knüpften in Kunst und Literatur an die römische Antike an. Ihre Kunstwerke hatten Hochkonjunktur. Kaum ein Tag, an dem man nicht irgendeine Statue, einen Grabfries oder einen Obelisken in der Trümmer- und Gartenlandschaft der am Anfang des 16. Jahrhunderts noch schwach besiedelten Stadt fand. Doch all diese Funde wurden von der Laokoon-Gruppe übertroffen, die ein Weinbergbesitzer auf seinem Grund entdeckte. Ferdinand Gregorovius, der Autor einer monumentalen Geschichte Roms, erzählt:

    "Man fand sie im Januar 1506 in der Vigna des Römers Felix de Fredis, nahe dem Wasserkastell der Sette Sale, in den Trümmern der Thermen des Titus, einer wahren Schatzkammer von Altertümern. Kaum war das Kunstwerk durch die ersten Spatenstiche sichtbar geworden, so eilten Boten nach dem Vatikan, dem Papst zu melden, dass man im Begriffe sei, einen dem Anschein nach ungewöhnlichen Fund zu machen. Er befahl Giuliano da Sangallo, sich an Ort und Stelle zu begeben, und dieser nahm Michelangelo mit sich. Als beide Künstler in die Grube hinabstiegen, rief Sangallo freudig aus: "Das ist Laokoon, von welchem Plinius redet.""

    Der klassisch gebildete Architekt Sangallo, der damals unter anderem für Papst Julius II. den neuen Petersdom plante, kannte seinen Plinius. Der römische Schriftsteller hatte im 1. Jahrhundert nach Christus in Rom eine Marmorversion einer vermutlich ursprünglich griechischen Bronzeskulptur gesehen. Sie stellt den Tod des Apollopriesters Laokoon und seiner beiden Söhne auf dramatische Weise dar. Ihre Körper werden von Schlangen erdrückt und zu Tode gebissen. Laokoon selber bäumt sich im stummen Schmerz ein letztes Mal auf. Plinius nannte die Marmorgruppe die "wohl schönste Skulptur der Antike".

    Johann Joachim Winckelmann begründete über 200 Jahre später mit einer Untersuchung des Laokoon seine klassizistische Ästhetik.

    "Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meeres allzeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. Laokoon leidet: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann, das Elend ertragen zu können."

    Laokoon, ein trojanischer Priester des Apollo-Kultes, wurde von den Göttern bestraft, weil er sich gegen den himmlischen Ratschluss im hohen Alter wieder verheiratet und zwei Söhne gezeugt hatte. So die eine Version des Mythos. Eine andere erzählt Vergil: Laokoon habe die Trojaner davor gewarnt, das von den Griechen vor Troja zurückgelassene hölzerne Pferd in die Stadt hineinzuziehen. Bekanntlich wurde durch diese List Troja von den Griechen erobert, so wie es die Götter geplant hatten. Weil Laokoon diesen Plan durchkreuzen wollte, musste er sterben.

    Lange Zeit wurde die Figurengruppe für eine Schöpfung des griechischen Künstlers Polydorus aus Rhodos gehalten - entstanden um das Jahr 50 vor Christus. Nach neuerer Forschung könnte der Laokoon auch ein Werk der Kunst Pergamons aus dem 2. Jahrhundert vor Christus sein. Mit dem Laokoon sollte die Bevölkerung der Stadt davor gewarnt werden, sich der Eingliederung in das römische Weltreich zu widersetzen. Andernfalls wäre Pergamon, wie einst Troja, zerstört worden.

    Die Zuschreibung und Interpretation bleibt umstritten. Felice de Fredis aber, der am 14. Januar 1506 den Laokoon in seinem Weinberg fand, ging, wie Gregorovius schreibt, für immer in die Geschichte ein.

    "Papst Julius II. erkaufte diese Gruppe um nur 600 Gold-Skudi. Aber ihr Finder wurde später reicher belohnt, denn die Entdeckung Laokoons steht auf dem Grabstein in S. Maria in Aracoeli als Titel der Unsterblichkeit verzeichnet."