Sonntag, 05. Mai 2024

Archiv


Aufbegehren am Nármada-Fluss

"Wir werden nicht weichen – der Damm wird nicht gebaut!" skandieren Tausende mit erhobenen Fäusten. Einem bunten Lindwurm gleich windet sich ihr Demonstrationszug hinunter zum Flussufer: Gestandene Bauern mit wettergegerbten Gesichtern, Frauen und Mädchen in kanariengelben, feuerroten und himmelblauen Saris, in ihrer Mitte die zierliche Gestalt der weltberühmten Schriftstellerin Arundhati Roy. Als die Menge das Steilufer der Narmada erreicht, bietet sich ihr ein überwältigender Anblick: Weit über einhundert Fischerboote kreuzen auf den vom Monsunregen angeschwollenen Fluss und begrüßen die Demo mit Pfeifen und Rufen.

Rainer Hörig | 06.07.2002
    "Wir werden nicht weichen – der Damm wird nicht gebaut!" skandieren Tausende mit erhobenen Fäusten. Einem bunten Lindwurm gleich windet sich ihr Demonstrationszug hinunter zum Flussufer: Gestandene Bauern mit wettergegerbten Gesichtern, Frauen und Mädchen in kanariengelben, feuerroten und himmelblauen Saris, in ihrer Mitte die zierliche Gestalt der weltberühmten Schriftstellerin Arundhati Roy. Als die Menge das Steilufer der Narmada erreicht, bietet sich ihr ein überwältigender Anblick: Weit über einhundert Fischerboote kreuzen auf den vom Monsunregen angeschwollenen Fluss und begrüßen die Demo mit Pfeifen und Rufen.

    Auf einer mit bunten Tüchern überdachten Tribüne im nahen Dorf Patrad erzählt ein Bauer seine Leidensgeschichte: Vor zehn Jahren sei in seiner Heimat am Oberlauf der Narmada, nahe der Stadt Jabalpur, der Bargi-Damm vollendet worden. Sein Dorf sei wie viele andere in den Fluten versunken. Entgegen ihrer Versprechen habe die Regierung ihm kein Ersatzland angeboten, sondern ihn mit ein paar tausend Rupien für den Verlust entschädigt. Er sei sein ganzes Leben lang Landwirt gewesen, beteuert der in weiße Wickeltücher gekleidete Redner, etwas anderes habe er nicht gelernt. Ohne Ackerland bliebe ihm heute nichts anderes übrig, als in Jabalpur für einen Hungerlohn auf Baustellen zu schuften. Früher lebte er in einem geräumigen Holzhaus in der Geborgenheit der Dorfgemeinschaft. Heute nennt er eine löcherige Blechhütte am Rande eines stinkenden Abwasserkanals sein Zuhause. Seine Kinder litten häufig an Durchfall und Malariaanfällen, für ihre Schulbildung fehle ihm das Geld. Er verfluche jenen Tag, an dem er mit einem Daumenabdruck auf einem zerknitterten Stück Papier sein Land der Regierung überschrieb.

    Die Bewohner von Patrad und der Nachbardörfer könnte ein ähnliches Schicksal ereilen. Nur wenige Kilometer flussabwärts, nahe der Kleinstadt Maheshwar entsteht seit vier Jahren eine massive Staumauer, die den Narmada-Fluss über die Ufer zwingen und 60 Dörfer ganz oder teilweise überfluten wird. Mit zahlreichen Demonstrationsmärschen, Sitzblockaden und Fastenstreiks haben die Bewohner ihren Widerstand kundgetan. Dreimal besetzten sie die Baustelle und erzwangen eine vorübergehende Einstellung der Arbeiten. Doch ihre verzweifelten Appelle stießen auf taube Ohren. Die Regierung antwortete mit Polizeiknüppeln und Handschellen. Die 65-jährige Witwe Birohinbai erfuhr das auf schmerzliche Weise.

    Plötzlich kam ein berittener Polizist auf mich zu und schlug mit seinem Bambusstock auf mich ein. Er riss mir den Sari vom Leib, ich stürzte und verlor das Bewusstsein. Drei Tage lang wurde ich im Krankenhaus behandelt. Bis heute kann ich vor Schmerzen kaum gehen!

    Seit nunmehr 15 Jahren tobt im Tal des Narmada-Flusses in Zentralindien ein ungleicher Kampf. Bauern und Ureinwohner stehen der geballten Macht von Regierung und Kapital gegenüber. Biedere Bauern werden zu Rebellen, abgelegene Dörfer schliddern ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Ein Kampf zwischen Stadt und Land, zwischen Tradition und Moderne. Ein Kampf um Naturressourcen, bei dem es auch um soziale Gerechtigkeit und um die Bewahrung eines von Millionen als heilig verehrten Flusses geht. Niemand wagt vorherzusagen, wer einst gewinnen mag. Doch eins steht schon heute fest: Selten hat ein Entwicklungsprojekt so heftige politische Diskussionen entfacht, so nachhaltig die Gerichte, die Weltbank und die weltweite Zivilgesellschaft beschäftigt. Die Schriftstellerin Arundhati Roy, die mit ihrem ersten Roman "Der Gott der kleinen Dinge" weltberühmt wurde, kämpft auf Seiten der Bäuerinnen und Bauern.

    Ich erkannte, dass der Kampf am Narmada-Fluß eine Bruchstelle darstellt. Ich nenne sie die Berliner Mauer Indiens, ein Symbol für die Mechanismen, die Reiche und Arme, Städte und Dörfer voneinander trennen. Daher engagiere ich mich.

    In den sechziger Jahren, als der Glaube in die Allmacht der Technik noch ungebrochen war, entwarfen die Regierungen der Unionsstaaten Gujarat, Maharashtra und Madhya Pradesh Pläne zum Bau von dreißig Großstaudämmen und Hunderten kleinerer Wehre über die Narmada und ihre Nebenflüsse in Zentralindien. Sie wollen damit Strom und Wasser für die Landwirtschaft, für neue Industrien und stetig wachsende Städte gewinnen. Die in Serie geplanten Staudämme würden den Unterlauf der Narmada auf mehr als 500 km in künstliche Seen verwandeln. Hunderttausende von Hektaren fruchtbaren Ackerlandes und tropischer Wälder gingen in deren Fluten unter. Mehr als eine Million Menschen, Bauern, Ureinwohner und Fischer, müssten umgesiedelt werden.

    Das Narmada-Projekt stellt eines der größten Wasserbauvorhaben der Welt dar. Vor rund zehn Jahren wurden die beiden ersten Großdämme Bargi und Tawa geflutet. Drei weitere große Staumauern sind im Bau. Das Kernstück, der Sardar Sarovar-Staudamm im Unionsstaat Gujarat, ist zur Hälfte fertiggestellt. Falls er wie geplant eine Höhe von 163 m erreicht, könnte er fast 2 Millionen Hektar Land bewässern und 1450 Megawatt Strom produzieren. Sanat Mehta, ehemals Vorsitzender der staatlichen Staudammgesellschaft, hat ein blühendes Land vor Augen. Er nennt das Narmada-Projekt die Lebensader von Gujarat.

    Wir erwarten, dass sich die Einnahmen von Gujarat um 14 Milliarden Rupien im Jahr erhöhen werden! Diese Summe haben wir aus der zu erwartenden Produktionssteigerung in der Landwirtschaft errechnet und aus der Produktion von Elektrizität. Eine relativ geringe Summe, etwa 1 Milliarde Rupien wird die Bereitstellung von Trinkwasser in die Staatskasse bringen.

    Die offizielle Position lautet: für das Wohlergehen der Nation müssen einige Opfer bringen, aber bitte nicht wir. Ich habe erkannt, dass dies ein Mythos ist. Von wegen begrenzte Opfer für nationalen Fortschritt! Das Gegenteil ist wahr: die ganze Nation leidet, damit eine kleine, elitäre Schicht profitieren kann. Indien ist weltweit der drittgrößte Dammbauer. Wir haben heute 3300 große Staudämme. Dennoch: 250 Millionen Menschen, ein Viertel der Bevölkerung Indiens, haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. 350 Millionen Bürger leben unterhalb der Armutsgrenze, 85 Prozent der ländlichen Haushalte sind nicht ans Stromnetz angeschlossen. Die Nahrungsmittelproduktion ist dramatisch gestiegen, aber einer Studie zufolge, die ich einsehen konnte, haben Großstaudämme daran nur einen Anteil von 12 Prozent. Obwohl die Kornspeicher zum Bersten voll sind, können sich 350 Millionen Menschen nicht satt essen. Was ist das für ein Land, was geht hier vor sich?

    Trommeln und Schalmeien dröhnen durch eine schroffe Berglandschaft. Hunderte von Tänzern wirbeln Staub auf. Im weichen Licht des Vollmondes glühen die Baumwollsaris der Mädchen, die sich beim Reigen im Kreise drehen. Wie Raubkatzen auf der Pirsch erscheinen die Männer - nur mit einem Lendentuch bekleidet, die dunkle Haut mit weißen Kringeln bemalt. Als der Morgen graut, geht ein meterhoher Scheiterhaufen in Flammen auf. Die Tigertänzer tragen jetzt lange Hüte aus Pfauenfedern und klimpern mit Messingglocken an Fuß- und Handgelenken. Während des Reigens ums heilige Feuer fallen sie allmählich in Trance. Priester verteilen Nüsse und Süßigkeiten, die den Göttern der Berge, der Göttin Narmada und dem mächtigen Tiger geweiht sind. Bei den Bhil, den fast fünf Millionen Nachfahren der Ureinwohner des westlichen Indien, markiert das Frühlingsfest Holi den Jahreswechsel. Eine ganze Nacht lang Trommelmusik und Tanz, Palmwein und Palaver mit Freunden, Ausschauen nach einer neuen Liebschaft.

    Das Bhil-Dorf Domkhedi ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Von bewaldeten Bergen umgeben, schien der Ort noch vor Jahresfrist in luftiger Höhe über der Narmada zu schweben, doch seitdem 50 Kilometer flussabwärts der Sardar Sarovar-Damm in den Himmel wächst, rückt der Wasserspiegel im Stausee gefährlich nahe. Eine einzige Springflut, ausgelöst durch heftige Monsunregen und einen Rückstau hinter dem Damm, könnte für Domkhedi das Ende bedeuten. Jahr für Jahr klettert das Wasser höher die Berge hinauf, verschlingt gnadenlos Wälder, Häuser und Ackerland. Abertausende von Menschen sehen sich vor die Wahl gestellt, ihr Leben radikal zu verändern oder zu ersaufen: sie sollen die gewohnte Umgebung verlassen, sich von Nachbarn, Freunden und Verwandten trennen und in der Fremde eine neue Existenz aufbauen.

    Ureinwohnern und anderen bäuerlichen Gemeinschaften, die bis heute in enger wirtschaftlicher und spiritueller Symbiose mit dem Land ihrer Ahnen leben, flößt die Entwurzelung traumatische Ängste ein: Werden wir in der Fremde genug zu essen bekommen, wie können wir uns gegen Ausbeuter und Kriminelle wehren? Werden die Götter uns weiterhin gegen Krankheit und Unheil schützen? Die Bäuerin Pervi Bhilala drückt es so aus:

    Wir sind für ein Leben im Wald geboren, woanders finden wir uns nicht zurecht. Dieses Land bedeutet uns alles, es ernährt Mensch und Vieh. Wenn all das untergeht, sind wir ruiniert. Wir haben keine Wahl: dies ist unser Land und wir werden hier bleiben, komme was da wolle.

    Wenn im Monsun die Narmada über ihre Ufer tritt und der Rückstau hinter dem halbfertigen Sardar Sarovar-Damm Springfluten auslöst, campieren in Domkhedi Dorfbewohner und Aktivisten in einer Hütte unterhalb des Dorfes. Sie setzen ihr Leben aufs Spiel, denn eine plötzliche Flut könnte sie mitsamt der Hütte in den Tod reißen. So demonstrieren sie der Öffentlichkeit, dass sie unter keinen Umständen bereit sind, ihr Land aufzugeben. Die studierte Sozialwissenschaftlerin Medha Patkar, die seit fünfzehn Jahren die Proteste organisert und dafür mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde, knüpft mit diesen Aktionen an die Tradition des gewaltfreien Kampfes von Mahatma Gandhi an.

    Wir sind nicht hier, um Selbstmord zu begehen, aber wir wollen, dass die Regierung endlich unsere Bedenken wahrnimmt. Wenn die Flut kommt, werden wir sehen, ob es zu einer Katastrophe kommt. Ich jedenfalls bin bereit, mit den Dorfbewohnern zu sterben. Schließlich steht hier viel auf dem Spiel: die Zukunft unseres Landes, ja der Welt, das Schicksal der Natur sowie vieler menschlicher Gemeinschaften, die Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit vorleben.

    Im Sommer 1999 trat der Ernstfall ein. Die schlammbraunen Fluten der Narmada stiegen über Nacht sprunghaft an und drangen in die Hütte der Aktivisten ein. Nachdem Medha Patkar und ihre Freunde 12 Stunden lang bis zum Hals im Wasser standen, erschienen Polizisten in Booten und verhafteten sie. In den folgenden Monsunperioden ließ die Flussgöttin Gnade walten und hielt kurz vor der Hütte der Demonstranten inne. Doch Medha Patkar und ihre Mitstreiterinnen geben nicht auf. Vor dem höchsten Gericht des Landes reichten sie Klage ein und erreichten einen 5-jährigen Baustop.

    Im Oktober 2000 allerdings hoben die Richter das Moratorium auf und gestatteten den Weiterbau des umstrittenen Sardar Sarovar-Dammes um zunächst 5 auf 95 Höhenmeter. Seither hat die Protestbewegung neue Strategien entwickelt und frische Kraft gewonnen. Die "Bewegung zur Rettung der Narmada" richtet ihre Aktionen nun verstärkt gegen die Landesregierungen von Madhya Pradesh und Maharashtra mit dem Ziel, Verbesserungen für die bereits umgesiedelten Dorfbewohner zu erreichen und eine weitere Erhöhung des Dammes zu verzögern, wenn nicht ganz zu verhindern.

    In Zentralindien sagt man, der Narmada-Fluß sei noch heiliger als der Ganges. Mythen und Legenden beschreiben die Göttin als eine schöne und äußerst willensstarke Jungfrau, die sich jedem Annäherungsversuch der Götter widersetzt. Tatsächlich präsentiert sich der Fluss auf seinem 1300 km langen Lauf aus den Maikala-Bergen nach Westen zum Indischen Ozean mit vielerlei Gesichtern. Ein romantischer Bach aus dem Bergdschungel schwillt zum majestätischen Strom an, der fruchtbare Ebenen bewässert, aber auch ganze Landstriche überfluten kann. Immer wieder unterbrechen spektakuläre Stromschnellen und Wasserfälle seinen Lauf. Hier demonstriert Narmada ihre Wildheit und Macht. Ihre Wasser schenken Leben und Wohlstand, können aber auch Furcht und Zerstörung verbreiten.

    Zahllose Tempel und Pilgerstätten säumen die Ufer der Narmada, in jedem Dorf beten die Menschen die Flußgöttin an. Seit Jahrhunderten unternehmen Gläubige eine in Indien und der Welt wohl einzigartige Pilgerreise. Die Umrundung des Flusslaufes von der Quelle zur Mündung und zurück dauert drei Jahre und drei Monate. Aber mit dem Bau der Staudämme wird das uralte Ritual ein leises Ende finden. Viele Tempel, die den Pilgerweg entlang der Ufer säumen, sind dem Untergang geweiht. Jene Familien, die seit Generationen die frommen Wanderer bewirten, werden vertrieben und in die Weite des Landes verstreut.

    Seit dem Unabhängigkeitsjahr 1947 hat Indien mehr als 1500 Großstaudämme gebaut. Dadurch wurden vorsichtigen Schätzungen zufolge 5 Millionen Hektar tropischer Wälder vernichtet und mindestens 40 Millionen Menschen entwurzelt. Nur ein Drittel von ihnen kam überhaupt in den Genuss staatlicher Umsiedlungshilfen. Die meisten endeten als Bettler oder Tagelöhner. Nicht nur im Narmadatal, auch im Himalaya an der Baustelle für den Tehri-Damm protestieren die Betroffenen gegen ihre Vertreibung.

    Weltweit hat man vielseitige Erfahrungen mit großen Staudammprojekten gesammelt. Heute weiß man, dass sich längst nicht alle Böden für eine permanente künstliche Bewässerung eignen, dass Stauseen tropische Krankheiten wie Malaria und Bilharziose ausbrüten, dass die gestauten Wassermassen unter Umständen Erdbeben auslösen können. Darauf weist auch der im vergangenen September 2000 veröffentlichte Abschlussbericht der "Weltkommission für Staudämme" hin. Unter der Schirmherrschaft von Nelson Mandela hatten Vertreter von Weltbank, Staudammbauern und Protestbewegungen zwei Jahre lang über die Zukunft großer Wasserbaumaßnahmen beraten und Empfehlungen erarbeitet.

    In der Länderstudie zu Indien stellt die Kommission fest, die von Großstaudämmen erhofften Vorteile hätten sich häufig nicht erfüllt, die ökonomischen und sozialen Kosten dagegen wären weit über den geplanten Umfang hinausgewachsen. Nur in Ausnahmefällen hätte die vertriebene Bevölkerung von den Staudammbauten profitiert.

    Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass Großstaudämme die sozialen Ungleichgewichte in Indien verschärft hätten. Die Experten empfehlen, Großprojekte nur unter angemessener Beteiligung und Mitbestimmung der betroffenen Bevölkerung zu planen und durchzuführen.

    Die Regierung in Neu Delhi wies den Bericht der Weltkommission barsch zurück. Er sei unausgewogen und irrelevant, ließ der Minister für Wasserressourcen verlauten und untersagte seinen Beamten per Rundschreiben, an einem Hearing zum Bericht der Kommission teilzunehmen. Neu Delhi hatte der Weltkommission schon im September 1998 eine Tagung auf indischem Boden verweigert.