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Aufbegehren in Joschkar-Ola

Im Vielvölkerstaat Russland fürchten die Minderheiten um ihre kulturelle Identität. Insbesondere jetzt, vor den Parlamentswahlen, wo viele Parteien mit russisch-nationalistischen Slogans auf Stimmenfang gehen. Und der Staatsmacht jegliche Unabhängigkeitsgedanken überhaupt nicht ins Konzept passen. Das Volk der Mari hat seine Kultur bis heute erhalten können - in einem zähen Ringen und mit wenigen Verbündeten.

Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier, Moderation: Bettina Nutz |
    Die Mari leben an der Wolga, in der kleinen Teilrepublik Mari El. Sie liegt 500 Kilometer östlich von Moskau. Früher kannte man die Mari als Tscheremissen. Sie gehören zur Familie der finno-ugrischen Völker und sprechen eine Sprache, die verwandt ist mit dem Finnischen und dem Estnischen.

    In der von Russland als "multiethnisch" anerkannten Republik sind die Finno-Ugrier bereits in der Minderheit. Die Mehrheit bilden die seit Jahrzehnten zugewanderten Russen. Auch der Präsident von Mari El ist Russe und ihm wird von den europäischen Institutionen vorgeworfen, andere Nationalitäten - vor allem die Mari - zu diskriminieren.

    Hauptstadt und politisches Zentrum der sehr ländlich geprägten Republik ist Joschkar Ola. Auf marisch: Rote Stadt. Im Zentrum der Metropole wie auch der Herzen der Mari steht das "Majorov-Schketan-Nationaltheater". Es galt immer als Keimzelle der marischen, bislang sehr selbstbewussten Nationalbewegung. Doch seit Intendant Viktor Nikolajew entlassen wurde und aus dem marischen "Nationaltheater" ein staatliches Theater wurde, steht die Befürchtung im Raum, auf der Bühne würde künftig nur noch Kommerz statt Nationalkultur in Szene gesetzt.



    Liebe, Tod und Politik
    Das marische Nationaltheater zwischen Engagement und Anpassung
    Die Szene spielt in einer dörflichen Nähschule. Zwei Schülerinnen nähen angestrengt, angetrieben vom Gekeife einer hünenhaften Lehrerin. Die Seitentür öffnet sich, herein treten ein dünner Mann in der Tracht des marischen Bauern und ein Mädchen. Sie - ein Waisenkind, das sich nur mit der Hilfe eines Freundes gegen eine betrügerische Oberschicht durchkämpfen muss - ist die Heldin. Der Dramatikers Sergej Schavajn schrieb das Theaterstück "Der Bienenstock": ein marischer Klassiker. Der Schauspieler Oleg Kusmenych spielt den Bauern.

    " In dem Stück geht es um unsere marischen Wurzeln, es zeigt das Leben und Arbeiten unserer Vorväter. Es gibt das Gute und das Böse. Und einen Bauern und ein Mädchen, die irgendwie zu überleben versuchen. "

    Irgendwie überleben. Ein Sturz von der Leiter, ein Fehltritt beim Öffnen des Bienenstocks, löst Verwicklungen aus - und leitet für das Waisenmädchen die Wende zu Guten ein. Damals, 1926, als Schawajn sein parabelhaftes Stück vom Bienenstock schrieb, herrschte Aufbruchstimmung und Optimismus. Elf Jahre später wurde der Nationaldichter - mit Hunderttausenden anderen - als Vaterlandsverräter von Stalins Schergen erschossen. Droht heute erneut der Niedergang der marischen Hochkultur? Schließlich hatte vor zwei Jahren die Nachricht von der drohenden Schließung der Bühne Schlagzeilen gemacht - kurz nachdem die Mari die Lust an ihren Dichtern wieder entdeckt hatten. Der Schauspieler Kusenych zögert eine Sekunde, bevor er antwortet.

    " Es ging wohl eher um eine Reorganisation des Theaters, und um den Personalwechsel in der Leitung. Man kann doch nicht das Nationaltheater schließen! Es ist doch das einzige, das Stücke in marischer Sprache für das marische Volk spielt! Das würde niemand wagen! "

    Die Angestellten haben ihre Entlassungspapiere kaum erhalten, erinnert sich der Schauspieler, da habe auch schon der neue Arbeitsvertrag in der Post gelegen. Nur Direktor Nikolaev sowie der leitende Regisseur hätten ihre Posten endgültig räumen müssen. Wieder macht der Schauspieler eine Pause. Dann setzt er neu an.

    " Natürlich haben wir uns damals alle erschrocken - schließlich haben Menschen ihr Leben gegeben für unser Theater! Hunderte Menschen haben für den Erhalt demonstriert, auch wir sind mit Transparenten auf die Straße gegangen - und es hat wieder geöffnet! Es lebt! "

    Heute herrscht wieder Theateralltag. Wie eh und je werden alle Stücke in marischer Sprache aufgeführt, für russisch-sprachige Zuschauer gibt es die Synchronübersetzung über Kopfhörer. Nur die Renovierungsarbeiten an der Hauptbühne stören den Spielbetrieb: Die Proben finden im Nebensaal statt. Und auf der Führungsebene dreht sich das Personalkarussell weiter. Der Direktorposten ist vakant, und der neue, leitende Regisseur hat seinen Arbeitsvertrag gerade vor zwei Monaten unterschrieben.

    Roman Alekseev ist 31 Jahre alt. Die Regieanweisungen gibt er auf marisch - doch seine Sätze sind durchsetzt von russischen Wörtern. Nach einer Weile wechselt er ganz ins Russische. Er trägt ein Sakko und Jeans, wirkt umgänglich und patent. Seine Aufgabe sieht er darin, das Nationaltheater in den kommerziellen Erfolg zu führen - eine Herausforderung, vor der alle Theater in der Russischen Föderation stehen, seit die staatliche Kulturförderung gekürzt wurde.

    " Ein Theater ist kein Museum, da muss immer etwas passieren! Unser Zuschauer soll die ganze Bandbreite kennen lernen - des marischen, des russischen und des internationalen Theaters. Er soll Kosmopolit sein. Nur so werden wir Erfolg haben. "

    Dann ist Pause, ein paar Schauspieler ziehen sich in die Raucherecke zurück. "Na, ja - früher haben wir interessantere Interviews gegeben", bemerkt einer. "Nehmen Sie es uns nicht übel, heute ist das nicht mehr so leicht."

    Das Mari Nationaltheater wurde 1919 feierlich eröffnet: es war der Auftakt zu einer beispiellosen Blüte marischer Kunst und Literatur. Damals, in der Aufbruchstimmung der frühen Sowjetjahre, förderte die Lenin'sche Nationalitätenpolitik den kulturellen Reichtum des jungen Vielvölkerstaates.

    Die Hoffnung starb mit Stalins Terror, der auch ethnische Identität zu vernichten suchte. Heute überleben Kultur und Sprache Dutzender Urvölker in der Russischen Föderation mehr schlecht als recht. Das liegt nicht nur an nationalistischen Tendenzen. Wer als Autor international wahrgenommen werden möchte, der muss in Russisch publizieren.

    So wie der marische Schriftsteller Jurij Artamonov. Seine Erzählung "Wölfe" erschien in den achtziger Jahren und macht das dörfliche Mari-Leben zum Thema: den Verlust der Familienbande, der Heimat und die verzweifelte Suche nach den verlorenen Wurzeln. Ein Junge, von seinen Eltern vernachlässigt, wird von einer Wölfin in den marischen Wäldern gesäugt. Viele Jahre später haben die Menschen fast alle Wölfe in den Sümpfen und Wäldern am Fluss Kokschaga ausgerottet. Aus dem Jungen ist ein Jäger geworden. Eines Tages kehrt die alte Wölfin zurück.


    Enthusiasmus über die nationale Wiedergeburt und Schock nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch: davon war das Leben in der russischen Föderation nach dem Ende der Sowjetunion geprägt. Den Mari ging es nicht anders. Die Zeitenwende folgte im Jahr 2000, als Wladimir Putin zum neuen russischen Präsidenten gewählt wurde. Sie sollte das kleine Mari El nachhaltiger treffen als viele andere Teilrepubliken. Die wirtschaftlichen Verhältnisse besserten sich. Politisch aber ging es den Mari deutlich schlechter. Und dafür war auch Leonid Markelow verantwortlich, der aus Moskau in die Provinz geschickt worden war. Einst Funktionär der nationalistischen Schirinovski-Bewegung LDPR, schloss er sich später Putins Partei "Einiges Russland" an.

    Präsident Markelow, der kein Mari spricht, wird von internationalen Institutionen wie der EU-Kommission und dem Europaparlament die Verletzung von Menschenrechten und demokratischen Prinzipien vorgeworfen. Seine Regierung unterdrücke nachhaltig marische Kultur. Auf Regierungsseite ist kaum jemand bereit, über Nationalitätenpolitik zu sprechen. Doch Michail Sinovjevitsch Vasjutin, Kulturminister und einer von zwei Mari im elfköpfigen Kabinett, pflegt einen offenen, unbürokratischen Stil. Er gehört noch zur alten Regierungsgarde von Mari-El. Seit zehn Jahren ist er im Amt und mit der politischen Wende zum Realpolitiker geworden.


    Moskaus langer Arm
    Ein marischer Kulturminister unter russischer Führung
    Keine Taschenkontrollen, kein finster dreinblickender Sicherheitsdienst. Geflochtene Bastkörbe, handgestickte Nationaltrachten und großformatige Kulturführer empfangen die Besucher des Ministeriums.

    Michail Sinovjevitsch Vasjutin, Minister für Kultur und Nationalfragen in Mari El, ist ein zierlicher Mann in den 50-ern, er hat ein charmantes Lachen und einen warmen Händedruck. Sein Büro aber trägt alle Insignien der Regierungsmacht: Ein riesiges, aufgeräumtes Schreibpult hält die Besucher auf Abstand, drei mannsgroße Flaggen symbolisieren die Mächte, denen er dient: der Russischen Föderation und der Republik Mari-El. Vasjutin selbst mag die dritte Flagge am liebsten: Ihr Wappen zeigt einen weißen Berglöwen mit einem Pfeileköcher in der Tatze.

    " Das ist die Flagge der Bergmari. Der blaue Streifen in der Mitte symbolisiert die Wolga, die das bergmarische Gebiet teilt. Dort bin ich geboren. Und obwohl ich heute in der Hauptstadt wohne, fahre ich, so oft ich kann, dorthin zurück. "

    Vasjutin lächelt. Er setzt sich hinter den Schreibtisch und steht für politische Fragen zur Verfügung. Zwei Pressesprecher nehmen am Nebentisch Platz, von denen sich einer sofort in ein Handyspiel vertieft. An der Wand prangen zwei Präsidentengemälde: links Präsident Putin. Rechts - großformatig - das jungenhafte Gesicht des Präsidenten von Mari El, Leonid Markelov: das blonde Haar streng gescheitelt, den Mund zu einem schiefen Lächeln verzogen. Auch Markelovs Vorgänger war Russe, er ernannte Vasjutin im Jahr 1997 zum Kulturminister. Auch im Unterbau des Staatsapparates, in der Präsidialadministration und den Ministerien, gab es zu der Zeit noch viele ethnische Mari.

    " In dieser Periode, Mitte der 90-er Jahre, gab es eine Art Romantismus, der von der marischen Nationalbewegung ausging. Mich selbst hat der politische Kern der Bewegung nie besonders interessiert, ich sehe mich eher als Kulturmanager. Ich will unsere Kultur für die Jugend interessant machen und zeigen, dass das Marische mit Sprachen wie russisch, englisch, deutsch konkurrieren kann. Alles, was Teenager lieben, kann man auch auf marisch tun: Singen, Spaß haben und Shows aufführen. "

    Singen, Spaß und Shows anstelle nationaler Forderungen. Mit diesem Profil hat der marische Kulturminister das letzte Jahrzehnt politisch überlebt. Jetzt kann er sich sogar über mehr Geld für die Kulturförderung freuen. In der Bildungspolitik sieht er ebenfalls eine positive Entwicklung: Die marische Sprache als Wahlpflichtfach an weiterführenden Schulen erfreue sich moderat wachsender Beliebtheit. Ein neuer marischer Radiosender und abendliche Diskotheken mit marischer Popmusik machten die Sprache weiter populär. Den Vorwurf der Nichtregierungsorganisationen, Präsident Markelov setze Moskauer Großmachtpolitik in Mari-El durch, mag Vasjutin nicht kommentieren. Statt dessen der Hinweis, dass der russisch-stämmige Präsident für eben jene Nichtregierungsorganisationen gerade die Fördergelder erhöht hat.

    " Früher gab es zwei Millionen Rubel Fördergeld für ihre Projektvorschläge, in diesem Jahr ist die Summe auf drei Millionen erhöht worden, das sind 85 000 Euro. DAS ist die Politik unseres Präsidenten. Es gibt überhaupt keinen Grund, zu behaupten, er würde sich nicht um marische Kulturprojekte kümmern. Dass die marischen Organisationen nicht genug interessante Projektideen einreichen, die zu unterstützen es sich lohnen würde, steht auf einem anderen Blatt. Die Kulturprojekte müssen doch effektiv sein - aber das scheint für unsere Nichtregierungsorganisationen zu kompliziert zu sein. "
    Ein Fördertopf für unabhängige Kulturprojekte, der zwar ständig erhöht, aber nicht ausgezahlt wird. Ein Minister, der die Kulturpolitik seines Lands zwar managt, aber sie nicht bestimmt. Ein Politiker, der mit seiner Nationalität im eigenen Landes eine Minderheit bildet. Fühlt Vasjutin sich manchmal allein gelassen, unter all den Russen im Staatsapparat?

    " Nun, im Kulturministerium selbst sicherlich nicht, hier arbeiten fast ausschließlich ethnische Mari. Und diese ständige Kritik, dass es im Parlament nicht genug marische Volksvertreter gibt, finde ich absurd. Schließlich stellen sich immer wieder ethnische Mari zur Wahl - ja, warum werden sie denn nicht gewählt? Bei der Parlamentswahl im Dezember stellt sich eine marische Kandidaten zur Wahl - aber unsere Nationalbewegung verweigert ihr die Unterstützung! Warum? Sie macht große Worte - aber wenn es zu handeln gilt, dann vertritt sich plötzlich eine andere Position. "

    Auf einmal schaut der Pressesprecher von seinem Handyspiel auf. Er greift nach dem Mikrophon und spricht ungefragt hinein.

    " Wie der Herr Minister richtig sagt: Nirgendwo auf der Erde gibt es eine Quotenregelung für Nationalitäten. In der Politik geht es immer nur nach Professionalität. "


    Es ist Wahlkampf-Herbst in Russland und die Kräfte sind höchst unterschiedlich verteilt. Schon lange vor dem 2.Dezember, dem Termin für die Parlamentswahlen scheint alles entschieden. So fühlt sich die Opposition in Joschkar Ola ähnlich ohnmächtig wie die Putin-Kritiker in Moskau. Und sie ist mit ähnlichen Repressalien konfrontiert: Bei den vergangen Wahlen um das Präsidentenamt waren ihre Auftritte in den Medien rar, wurden ihre Veranstaltungen behindert, ihre Kandidaten mit juristischen Tricks kaltgestellt. Viele kritische Mari-Zeitungen müssen nach wie vor außerhalb der Republik gedruckt werden. Unabhängige Journalisten zahlten ihr Engagement bereits mit dem Leben. Andere werden bedroht oder überfallen. Eine Studie der "Stiftung zum Schutz von Glasnost" stuft die Pressefreiheit in Mari El so schlecht ein wie zu Zeiten der kommunistischen Herrschaft.

    Die Bilanz der vergangenen sieben Jahre fällt für die Nationalbewegung in Mari El noch düsterer aus als in anderen Teilrepubliken: die Mari haben in ihrem eigenen Land praktisch keinen politischen Einfluss mehr.



    Opposition wider Willen I
    Was von der Nationalbewegung übrig ist
    Das Zimmer ist klein, die Einrichtung karg: Eine Vitrine, ein Schreibpult, auf einem Tisch liegen Bücher in marischer Sprache aus. Fünf Männer auf Holzstühlen sitzen eng beieinander. Einer redet, die übrigen lauschen reglos.

    " Seit Januar beobachte ich den Vorwahlkampf, und mir ist klar geworden, dass wir Mari wieder einmal chancenlos sind. Es wird uns nicht gelingen, bei den Duma-Wahlen einen marischen Abgeordneten ins russische Parlament zu bringen. Wir haben ein Jahr lang vergeblich gekämpft. Letzten Endes werden dann doch alle Entscheidungen mit Geld getroffen. "
    Die Mitteilung von German Pirogov an seine Mitstreiter vom Gesamtrat der Mari, Mer Kanasch, hat es in sich: Über Kontaktleute in Moskau hat der Politologe erfahren, dass ihr Kandidat, Michail Dolgov, von der Wahlliste genommen wurde. Es seien Bestechungsgelder in Höhe von einigen zehntausend Euro geflossen, diese Information hat man ihm zugesteckt. Jetzt ist auf der Wahlliste, die die Republik Mari El für die Duma-Wahl einreicht, nur noch eine Kandidatin marischer Nationalität übrig. Die aber steht in der Partei Einiges Russland zwei Plätze hinter Präsident Markelov und ist damit so gut wie chancenlos, glaubt Pirogov.

    Der Sitzungsleiter hat den anderen schweigend zugehört. Er ist groß und hager, Haare und Schnäuzer sind von grauen Strähnen durchzogen. Es ist der Journalist Vladimir Kozlov, der Vorsitzende von Mer Kanasch. Jetzt meldet er sich erstmals zu Wort.

    " Natürlich soll Russland aufblühen, wie es von Moskau propagiert wird. Auch ich bin dafür, dass es dem Land gut geht, in dem wir leben. Aber manchmal denke ich: Wie gut haben es die Esten! Wie rebellisch kann das kleine Estland Russland gegenüber auftreten, weil sie nur eine einzige Grenze teilen. Aber wir leben mitten drin in der Russischen Föderation, wir könnten uns solche Methoden gar nicht erlauben! "

    Was sich ein Mari erlauben kann und was nicht, das weiß niemand besser als Kozlov, der in Joschkar-Ola um Leib und Leben fürchten muss. Vor drei Jahren überlebte er einen Mordanschlag. Seine Zeitung verlor ihre Druckerei, Mer Kanasch seine Geschäftsräume. Und selbst dieses kleine Zimmerchen, das Kozlov als notdürftigen Versammlungsraum in einem städtischen Gebäude angemietet hat, fürchtet er bald zu verlieren. Denn hier gehen all diejenigen ein und aus, die - wie er selbst - wegen übermäßigen Engagements für marische Belange unversehens in die Rolle der politischen Opposition geraten sind. Leute wie der Unternehmer Vjatscheslav Vorontsov, der die marischen Interessen im Parlament von Mari El vertritt. Als einer von sechs ethnischen Mari unter insgesamt 52 Abgeordneten.

    " Ob ich es will oder nicht: Im Parlament gelte ich als Oppositioneller - dabei ist das gar nicht mein Ziel. Die anderen Abgeordneten gehen auf Distanz zu mir, und wenn mein Name auf irgendeiner Wahlliste steht, dann wird er früher oder später wieder herausgestrichen. Das ist kränkend und schmerzhaft. Aber ich kann nichts dagegen unternehmen, wir sind in der Minderheit. Auf die Gesetzgebung haben wir jedes Jahr weniger Einfluss, wer sollte unsere Anliegen unterstützen? Die Nationalitätenfrage kommt ja in den Debatten kaum noch vor - es sei denn, es geht um Kultur und Tradition. Aber politisch ist das Thema gestorben. "

    Es wird eine kurze Sitzung, an diesem Abend. Ein paar organisatorische Fragen werden geklärt, und der Politologe Pirogov, der auch Liedermacher ist, stellt seinen neuen Song vor. Dann aber will er nach Hause. Er muss sich noch auf einen Gerichtsprozess vorbereiten: Präsident Markelov hat ihn wegen Verleumdung verklagt. Bei den Duma-Wahlen im Dezember wird er nicht aktiv werden, genauso wenig wie die anderen. Nicht im Wahlkampf für die marische Kandidatin, und nicht mit Gegendemonstrationen.

    " Wir haben schon so viel politische Aufklärung betrieben, wir können es ja schon selbst nicht mehr hören. Die Aktiven, die übrig geblieben sind, kann man an einer Hand abzählen. Die anderen sind ausgewandert, haben aufgegeben oder sind durch Gerichtsverfahren mürbe geworden. Wir werden an den bevorstehenden Duma-Wahlen erstmals nicht teilnehmen. Ihr Ausgang ist doch jetzt schon entschieden! "


    Mehr als 600 000 Mari leben an der Wolga, etwa die Hälfte von ihnen in der Republik Mari El. Gemeinsam ist ihnen der Kampf um ihre Sprache. Russland hat zwar die Europäische Charta zur Achtung der Minderheitensprachen und die Anerkennung von Mari El als "multiethnischer Republik" unterzeichnet. Russisch und Mari gelten als gleichberechtigte Amtssprachen. Wer aber eine Zukunft haben, wer Karriere machen will, spricht russisch. Noch dazu haben junge Mari nur noch in der Grundschule muttersprachlichen Unterricht. Auf weiterführenden Schulen und an den Universitäten ist das zweisprachige Bildungssystem praktisch abgeschafft.

    Wladimir Koslov, der Vorsitzende von "Mer Kanasch", einer der wichtigsten Nichtregierungsorganisationen in Mari El, ist gleichzeitig Autor und Übersetzer. Er kämpft seit vielen Jahren für ein tolerantes, multikulturelles Mari El und gegen das Verstummen seiner Muttersprache. Denn damit wäre der Untergang der gesamten Mari-Kultur besiegelt. Das Engagement haben Koslow und jüngst auch seine Frau mit ihrer Gesundheit bezahlt. Beide wurden von Unbekannten krankenhausreif geprügelt. Aufgeben wollen sie dennoch nicht.



    Opposition wider Willen II
    Der Kampf des Wladimir Kozlov um die Dorfschulen
    " Ich war auf dem Heimweg vom Verlag, als jemand hinter einer Hausecke hervorkam. Er schlug mir von hinten mit einer Eisenstange auf den Kopf. Mir wurde schwarz vor Augen, und es kam mir vor, als wenn ich die Welt von oben sehen. Beim zweiten Schlag wurde mir klar, dass ich verprügelt werde. Als ich mich wehren wollte, habe ich einen Faustschlag auf die Zähne bekommen, der mich nach hinten warf. Da wusste ich: Das ist Profiarbeit. "
    Schnurgerade zieht sich die Landstraße durch eine bunte Herbstlandschaft aus Wäldern und Sümpfen. Der Mann auf dem Beifahrersitz des Taxis redet ununterbrochen. Vladimir Kozlov, Vorsitzender des Gesamtrats der Mari, hat den Überfall im Jahr 2005 überlebt - davor waren drei kritische Journalisten von Unbekannten zu Tode geprügelt worden. Journalisten marischer Nationalität, die politischen Einfluss forderten und die marische Sprache und Kultur propagierten.

    Das Taxi biegt in einen Feldweg ein. Hier endet der Asphalt, zu Fuß geht es weiter. Es ist Kozlovs Heimatdorf, hier hat er von Eltern und Lehrern die marischen Traditionen gelernt. Der Weg führt an ärmlichen Häuschen vorbei, einen Hügel hinauf. Dort steht die Ruine eines Holzgebäudes - das Dach ist eingebrochen. Drinnen, das kann man durch die klaffenden Löcher hindurch erkennen, schmücken kindliche Blumenbilder die Wände. Ansonsten nichts als Gerümpel.

    " Das ist meine alte Schule. Ich kann mich erinnern, dass es zwei Klassen gab, A und B, mit 23 Schülern in jeder Klasse. Das ist jetzt über 30 Jahre her. Tja, heute gibt es hier keine Schule und keine Schüler mehr. "
    "Mich hat Denissov zerstört", sagt ein Graffiti an der Außenwand. Denissov war der Leiter der regionalen Schulbehörde, erklärt Kozlov. Er hat die Bildungsreform der Regierung umgesetzt: 40 kleine Dorfschulen wurden geschlossen, die Schüler in den größeren Schulen der regionalen Zentren zusammengefasst.

    " Das Problem dabei ist, dass die Regierung fast nur die rein marischen Schulen geschlossen hat. "Optimierungsprogramm" nennt sie das, wenn marisch-sprechende Schüler den größeren Schulen mit Unterrichtssprache Russisch zugewiesen werden. Aber wenn die Schule geschlossen wird, dann verliert das Dorf auch seine Lehrer - und damit seine Bildungsschicht. Ohne sie werden die Dörfer verfallen. "

    Kozlov ist eingeladen, das Gymnasium im Dorf Korkatovo zu besuchen. Das ist mit über 500 Schülern die größte Landschule in ganz Mari-El, und sie präsentiert sich als modern und international ausgerichtet. Die technische Ausstattung ist beeindruckend: In den beiden Multimedia-Kabinetts stehen Duzende nagelneuer PC-Anlagen. Der Lehrerin, die Kozlov durch die Schule führt, strahlt vor Stolz.

    " Im Jahr 2006 ist unsere Schule zur besten Landschule der Republik Mari-El gewählt worden. Wir haben eine Million Rubel aus dem Bildungsförderprogramm des Präsidenten erhalten, das sind 30 000 Euro. Und in diesem Jahr sind drei unserer Lehrerkräfte vom Präsidenten ausgezeichnet worden. Unsere Schüler erwerben hier die gleichen Schulabschlüsse wie in Europa oder in den USA. "

    Klasse Neun hat Matheunterricht. Statt an einer Tafel erklärt der Lehrer die Sinus-Kurven an einem Schrank-großen, computergesteuerten Bildschirm. Kozlov hat einen kleine Ansprache an die Schüler vorbereitet.

    " In diesem Jahr feiern wir den 90sten Jahrestag des Ersten Gesamtkongresses aller Mari, der die Geburtsstunde unserer Nationalbewegung war. Ich möchte euch auffordern, unsere Geschichte zu achten. Wenn ihr später zum Studieren in die Städte geht, nach Joschkar Ola oder sogar nach London, dann vergesst die großen Menschen nicht, die unser Volk hervorgebracht hat. "
    Die Schüler, akkurat in Uniform gekleidet, lauschen. Die große Mehrheit sind ethnische Mari, das Marische ist ihre Muttersprache. Der Schulunterricht aber findet auf Russisch statt. Der schleichende Übergang der Jugend von der marischen auf die russische Sprache ist in den Städten längst vollzogen, fürchtet Kozlov. Jetzt erreicht er auch die Dorfkinder. Wer von euch, fragt er die Schüler, kann sich eine Zukunft in seinem marischen Heimatdorf vorstellen? Es meldet sich niemand.

    " Ich will später auf jeden Fall in eine große Stadt ziehen. Ich möchte dahin, wo das Leben schnell und laut ist. Dass man da russisch sprechen muss, ist mir egal. Das Dorfleben ist mir zu langweilig. Ich will dahin, wo man tanzen gehen kann. Und wo es Fitnessclubs gibt. "

    In der Geschichte haben Russland und das frühere Khanat Kasan um die Vorherrschaft in der Wolgaregion gekämpft, in der die Mari lebten. Es war auch eine Auseinandersetzung zwischen den Religionen. Der russischen Orthodoxie und dem Islam. Im 16. Jahrhundert entschieden die Russen den Kampf für sich. Die Mari sind seither mehrheitlich getauft und gehören offiziell der orthodoxen Kirche an. Die heidnischen Rituale, die das finno-ugrische Volk seit Urzeiten pflegt, wurden fortan brutal unterdrückt. Erst von der Ostkirche und später von den Sowjets.

    Heute kehrt die Religion zurück - in die Dörfer und auch in die Städte. Viele Mari besuchen regelmäßig die russisch-orthodoxen Gottesdienste. Daneben findet auch der Sonnengott "Jumo" allmählich wieder seinen Platz in ihrem Leben. In den Wochen um die Sonnenwende, im Frühjahr und im Herbst, wenn nach dem überlieferten Glauben die kosmische Energie besonders groß und heilbringend ist, gehen manche in den Wald, um dem Sonnengott zu huldigen und ihm Tieropfer zu bringen. Sogar dort, wo er vor Jahrzehnten gänzlich verschwunden war: in den dichten Wäldern um die Hauptstadt Joschkar Ola.


    Rückkehr zum Sonnengott
    Ein heidnisches Fest im Wald
    Die Luft ist kalt und klar an diesem Morgen, das rote Glühen der aufgehenden Sonnen kündigt einen herrlichen Herbsttag an. Sergej und Aljoscha sind seit sechs Uhr morgens auf den Beinen. Ein Lagerfeuer flackert. Zwei Gänse, in Säcke eingeschnürt, taumeln in vergeblichen Fluchtversuchen umher. Aus langen Ästen haben die beiden Männer eine primitive, aber erstaunlich stabile Esstafel konstruiert, die Abstellfläche mit einer Schicht aus Nadelzweigen abgedeckt. Sergej hat die schmalen Augen der Finno-Ugrier. In den Wochen der Sonnenwende, ist er am liebsten in der Natur. Er stützt sich auf seine Axt und betrachtete die beiden Bäume hinter der errichteten Tafel: Eine Fichte und eine Linde.

    " Die Fichte steht bei uns für das Männliche, die Linde für das Weibliche. Dieser Hain hier gilt uns seit Urzeiten als heilig. Früher war unsere Kultstätte weiter da drüben. So genau kommt es nicht drauf an. Wichtig ist nur eines: An der Stelle des Sonnengebets müssen ein männlicher und ein weiblicher Baum beieinander stehen. "

    Aljoscha hat sich neben das Lagerfeuer gekauert. Der hagere, junge Mann starrt in die Flammen und schlägt seine Maultrommel. Er spricht mit den Geistern, verrät Sergej. Vor kurzem haben sie ihm im Traum mitgeteilt, dass er zum Sonnenpriester berufen ist. Seitdem versinkt er oft in Meditation. Auf einmal springt Aljoscha auf, nimmt einen brennenden Scheit aus dem Feuer und wedelt den Rauch den erschreckten Opfergänsen ins Federkleid: Eine Weihung. Dann geht er zum Feuer zurück, sein Gesicht strahlt.

    " Verstand, Gefühl und Körper - wenn ein Mensch diese drei vereinigen kann, dann ist er bei Gott. Das ist für uns Beten. Unser Gott heißt "Ju-Mo", das bedeutet soviel wie "Energie, die von der Sonne kommt". Wenn ein Mensch mit der Natur zu reden versteht, dann sendet er diese Energie in den Kosmos zurück. Schau in die Sonne, und du wirst frei sein von Gedanken, du fühlst dich leicht und gut. Warum fällt es uns so schwer, uns aus der Stadt loszureißen, um am Lagerfeuer zu sitzen? "

    Gegen halb zehn strahlt die Morgensonne ihre erste Wärme in den Wald. Der Gebetsplatz ist fertig: über dem Lagerfeuer baumeln zwei riesige Wasserkessel. Die ersten Besucher bahnen sich ihren Weg durch das Herbstlaub, unter ihnen viele alte Frauen, eingehüllt in traditionell bestickte Kleider und Schals. Ein Team des örtlichen marischen Fernsehen baut die Kamerastative auf. Auch der "Kart" ist inzwischen eingetroffen, der Priester, der das Sonnengebet durchführen soll: Ein unauffälliger, älterer Herr mit Baskenmütze. Als er das Grün auf der Esstafel sieht, schüttelt er missbilligend den Kopf. Sofort stürmt Sergej mit der Axt davon.

    " Es sind die Zweige des falschen Baumes! Wir brauchen Tannenzweige, denn nur die Tanne ist heilig! Ach wie kompliziert das ist! Die marische Religion wird zwar wiedergeboren, aber die Jungen wissen so vieles noch nicht, und oft strengen sie sich auch nicht richtig an. Ich will, dass die Menschen zu ihrem Glauben zurückkehren. Dass sie das Böse meiden, und dass sie die Umwelt schützen. Denn die Natur ist unser Gott: die Sonne, der Himmel, die Wolken, der Nebel und die Bäume. "

    Das Tieropfer ist der Auftakt der Anbetungszeremonie, knapp 100 Menschen haben sich schweigend hinter der mit Gebäck und Kerzen gedeckten Tafel versammelt. Der Kart hält die Gans an den Füßen fest, Aljoscha assistiert. Er weiht das Tier ein weiteres Mal mit Tannenzweigen und Wasser. Sergej schaut gebannt zu.

    " Die Gans muss zuerst mit den Flügeln schlagen. Nur wenn sie das tut, nimmt der Gott das Opfer an. "
    Dann flattert das Tier auf, und alles geht blitzschnell. Aljoscha hält den Kopf, der Kart sägt mit einem kleinen Messer durch den lang gezogenen Hals. Dann drückt er den um sich schlagenden Körper in einen Kessel mit sprudelnd kochendem Wasser. Unter den Zuschauern macht sich Festtagsstimmung breit. Sergej lächelt.

    " Von dem Opfertier geht eine Energie aus, die nach oben strebt, zurück zum Kosmos. Mit ihr gehen unsere Bitten, Wünsche und Probleme. Diese Energie entsteht in dem Moment, in dem der Geist das Tier verlässt. "
    Etwas am Rand, dem Opferplatz abgewandt, steht eine junge Russin, die sich den Schal fröstelnd um die Schulter gezogen hat.

    " Ich bin das erste Mal auf so einer Veranstaltung, und ich sehe auch das erste Mal einer Schlachtung zu. Eigentlich bin ich russisch-orthodox, aber ich fand es interessant, auch mal auf ein heidnisches Fest zu gehen. Doch als sie die Gans geschlachtet und direkt ins kochende Wasser gehalten haben, da ist mir fast schlecht geworden. "

    Als die Gänse im Kessel gargekocht sind, beginnt die Zeremonie. Hinter der Tafel, über den Baumwipfeln, sammelt die Sonne ihre volle Kraft. Die Menge versammelt sich hinter dem Kart, der mit den Händen eine segnende Geste macht. Auf marisch murmelnd, beginnt er die Anbetung: Uralte Formeln, moralische Belehrungen, religiöse Erklärungen. Die Menge steht schweigend. Die einen lauschen mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf, andere halten ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in Richtung Sonne. Etwa 20 Minuten stehen sie so, dann verneigen sie sich tief. Die Sonnenanbetung ist beendet, der Festschmaus beginnt.

    Aljoscha und Sergej sind bester Stimmung. Sie schenken Gänsebrühe aus, verteilen Löffel und passen auf, dass die Plastikteller immer gefüllt sind. Noch einmal lassen sie ihre Blicke über die Grüppchen schweifen, die auf dem Waldboden sitzen, kauen und plaudern. Dann schauen sie sich zufrieden an. "So", sagt Sergej. "Unser Job ist erledigt. Jetzt lass uns erstmal eine Zigarette rauchen gehen".

    Literatur:
    Jurij Artamonow - 'Volki' (=Wölfe) in: 'Sovremennaja marijskaja povest' ('Moderne Marische Erzählungen')
    Joschkar Ola 2003