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Aufbruch

Eine Legende schon zu Lebzeiten: der jüngste gewählte Präsident, der je ins Weiße Haus einzog. Kriegsheld, hoch dekoriert, dazu Träger des Pulitzer-Preises. Komplettiert wurde das strahlende Bild durch die Ehefrau: Jacqueline, geborene Bouvier, genannt Jackie. Jung, schön, gebildet, mondän – und wie ihr Gatte entstammte sie der Ostküsten-Aristokratie. Nicht nur für Europäer, die es gewohnt waren, von Greisen regiert zu werden, symbolisierten die Kennedys den Aufbruch zu neuen politischen Ufern. Den Krieg gegen Armut, Hunger und Unwissenheit hatte John F. Kennedy auf seine Fahnen geschrieben:

Wolfgang Stenke |
    We are allies in the only war we seek: the war against poverty, hunger, disease and ignorance, in our own countries and around the world.

    Den Charismatiker, der am 22. November 1963 in Dallas unter den Schüssen eines Attentäters starb, schätzt sein Biograph Robert Dallek als ein "zumindest überdurchschnittliches Staatsoberhaupt" ein. Kennedys Präsidentschaft, die nur rund 1000 Tage dauerte, sei insgesamt ein "Flickwerk aus Stolperern und bedeutsamen Errungenschaften" gewesen. Mit anderen Worten: Der amerikanische Historiker, der in Kennedys Heimatstadt Boston lehrt, entdeckt helles Licht, aber auch tiefe Schatten in der Lebensleistung des 35. US-Präsidenten: das besonnene Management der Kuba-Krise neben dem Abgleiten in die Anfänge des Vietnam-Desasters.

    Diese ausgewogene Bewertung beruht auf intensivem Studium der Quellen, zu denen auch bislang unbekannte Akten über Kennedys zahlreiche Erkrankungen gehören. Akribisch analysiert Dallek nicht allein die Politik des amerikanischen Patriziers, der als erster (und bisher einziger) Katholik den Einzug ins Weiße Haus schaffte, sondern erzählt seine Lebensgeschichte – von der Wiege in Boston bis zum Grab auf dem Nationalfriedhof Arlington. Der Historiker, Spezialist für amerikanische Außenpolitik, ist schon mit Arbeiten über Franklin D. Roosevelt, Ronald Reagan und Lyndon B. Johnson hervorgetreten. Vor allem mit den Details der präsidentiellen Krankengeschichte und der Enttarnung einer Geliebten im Weißen Haus hat Dalleks Kennedy-Buch in den USA Wellen geschlagen. Aber auch ohne solche Enthüllungen wäre diese faktenreiche Biographie eine spannende Lektüre, die zugleich über amerikanische Politik und amerikanische Eliten in der Zeit des Kalten Krieges informiert.

    John Fitzgerald Kennedy wurde 1917 geboren: als zweites von neun Kindern, deren Eltern zur Finanzaristokratie der Ostküste gehörten. Vater Joseph vergrößerte in den 20er Jahren mit Spekulationen das Familienvermögen auf 200 Millionen Dollar. Manche Zeitgenossen waren so herzlos, ihn als Geldhai und notorischen Fremdgänger zu bezeichnen. Politisch avancierte Kennedy sen. in den 30er Jahren zum amerikanischen Botschafter in London – ein Isolationist, der die Vereinigten Staaten aus den Konflikten um Hitler heraushalten wollte. Seine Kinder drillte dieser elitäre Patriarch frühzeitig auf die Besetzung von Spitzenpositionen. John, den die Familie Jack nannte, stand im Schatten des ältesten Bruders Joe. Man muß kein Psychosomatiker sein, um einen Zusammenhang herzustellen zwischen dieser Familienkonstellation und der chronischen Darmentzündung, die den Zweitgeborenen schon mit 17 plagte. Hinzu kam die Addisonsche Krankheit, eine Schwäche der Nebennierenrinde. Die Symptome wurden mit Cortisonpräparaten behandelt, die Jacks Wirbelsäule frühzeitig ruinierten.

    Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit meldete sich John F. Kennedy im 2. Weltkrieg freiwillig zur Marine. Er befehligte ein Patrouillenboot, das von den Japanern 1943 versenkt wurde. In selbstlosem Einsatz rettete der verwundete JFK die Besatzung. Joe, der Erstgeborene der Kennedys, diente als Marineflieger. Sein Bomber explodierte 1944. John blieb übrig als politischer Hoffnungsträger der Familie. Mit Vaters Geld und Vaters Beziehungen startete der Harvard-Absolvent 1947 in der Demokratischen Partei eine Karriere als Berufspolitiker. Dank des väterlichen Vermögens konnte Kennedy in seinen Wahlkämpfen einsetzen, was gut und teuer war – von Meinungsumfragen bis zu Wahlspots in Funk und Fernsehen.

    Als Senator kratzte Kennedy die Startlöcher für seine Präsidentschaftskandidatur. Er erwarb solide innen-, außen- und militärpolitische Kenntnisse, tanzte wenig aus der Reihe und wurde zum Liebling der Medien. 1960 nominierten ihn die Demokraten für die kommende Kampagne. Im Wahlkampf profilierte Kennedy sich als Reformer. Er versprach, amerikanische Rückstände im Bildungswesen, in der Raumfahrt und in der Rüstung aufzuholen. Experten, die Dallek zitiert, bezweifeln allerdings, ob die von Kennedy beschworene "Raketenlücke" gegenüber der Sowjetunion überhaupt existierte. Obgleich wegen seiner Krankheiten eine wandelnde Apotheke, wirkte Kennedy jung und dynamisch. Im entscheidenden Fernsehduell schlug er den Republikaner Nixon um Längen. Doch die Wahl gewann er nur knapp.

    Der neue Präsident begann 1961 mit einer Reihe von Fehlstarts. Er ließ es zu, dass die CIA Exilkubaner in ein Kommandounternehmen gegen Fidel Castro schickte, das in der Schweinbucht von kubanischen Truppen zusammengeschossen wurde. Die schwarzen Bürgerrechtler, die auf den Reformer Kennedy gesetzt hatten, enttäuschte er durch sein zögerliches Vorgehen gegen die Rassentrennung. Im Verhältnis zur Sowjetunion hatte Kennedy mit Chrustschows Unberechenbarkeit zu kämpfen. Beide Seiten manövrierten sich mit ihrer Rüstungspolitik in kriegsträchtige Positionen, obwohl Kennedy stets betonte, es sei an der Zeit, die nuklearen Überkapazitäten zu reduzieren. Auf den Bau der Berliner Mauer im August 1961 reagierte der junge Präsident äußerst vorsichtig. Doch als Chrustschow im Jahr darauf bei seinen kubanischen Verbündeten Abschussrampen für Nuklearraketen errichtete, unmittelbar vor der Haustür der US-Amerikaner, stand die Welt am Abgrund.

    Kennedy behielt die Nerven und zügelte seine Generalität, die drauf und dran war, den 3. Weltkrieg zu riskieren. Entschlossen verhängte er eine "Quarantäne" gegen Kuba und forderte von Chrustschow "die sofortige Beseitigung der Raketeneinsatzfähigkeit". Ende Oktober 1962 lenkte Chrustschow ein. Amerikanische Radiosender unterbrachen ihr Programm für eine Eilmeldung.

    Wie Dallek kritisch anmerkt, war Kennedy nicht schuldlos am Ausbruch der Krise. Die Art aber, in der er sie gemeistert hat, seine "Zurückhaltung gegenüber einer militärischen Lösung, die nahezu unausweichlich zu einem atomaren Schlagabtausch geführt hätte, macht ihn zum Vorbild für weise politische Führerschaft in Krisenzeiten."

    Der Präsident kämpfte noch an anderen Fronten. Gegen die Leiden seines Körpers hielt ein Arzt mit dem Spitznamen "Dr. Feelgood" Novocain und Aufputschmittel bereit. Andere Mediziner verabreichten freigiebig Hormone, Cortison, Beruhigungs- und Schlafmittel. Um Wechselwirkungen dieser Medikamente kümmerte sich niemand. Trotzdem, so Kennedy-Biograph Dallek nach Durchsicht der Krankenakten, war JFKs Regierungsfähigkeit durch seinen Medikamentenkonsums nicht beeinträchtigt.

    Dass seine Tage gezählt sein könnten, war dem chronisch Kranken schon in der Jugend bewusst. Eben deshalb, so vermutet der Biograph, ließ John F. Kennedy auf dem Felde des Sexus nichts anbrennen. Mit Marilyn Monroe soll er’s getrieben haben, mit namenlosen Callgirls ebenso wie mit 19jährigen Praktikantinnen. Nur hielt, im Unterschied zur Ära Clinton, die Presse den Mund.

    Soviel von der Hintertreppe des Weißen Hauses, die Dallek seriös und ohne Voyeurismus beschreibt. Seine politische Bilanz der Amtszeit dieses Präsidenten zeigt auf der Habenseite die Verständigung mit der Sowjetunion auf den Stop oberirdischer Atombombenversuche - ein Ansatz zur Überwindung des Kalten Krieges. Dass Kennedy den Blick der Weltöffentlichkeit auf die nach Unabhängigkeit strebenden Staaten der Dritten Welt lenkte, war auch ein Verdienst. Im Vietnam-Konlikt aber geriet er wider besseres Wissen auf die schiefe Ebene, wie Dallek vielfach belegt.

    Eine zweite Präsidentschaft hätte Kennedy die Chance gegeben, Fehler zu korrigieren und sein reformatorisches "grand design" in die Wirklichkeit umzusetzen. Darüber spekuliert Dallek in seinem Buch über Kennedys "unvollendetes Leben" mit wachsender Vorliebe. Die kontrafaktischen Überlegungen des Historikers betreffen vor allem Vietnam und die Bürgerrechtsfrage. Da möchte dieser ansonsten nüchterne und penible Biograph aus lauter Sympathie ein schöneres Kennedy-Porträt abliefern als nach Aktenlage möglich. – Aber wie auch immer: Die Geschichte gab Kennedy keine zweite Chance. – 22. November 1963. So hieß es in der Tagesschau:

    Präsident Kennedy ist heute Abend um 20 Uhr MEZ an den Folgen eines Attentats gestorben. Ein bisher noch unbekannter Mann hat mehrere Gewehrschüsse auf ihn abgefeuert.

    Die Verschwörungstheorien, die sich an die Mordtat von Lee Harvey Oswald knüpften, resümiert Robert Dallek ebenso wie die tragische Familiengeschichte der Kennedys, gegen die die Nibelungen-Saga harmlos wie eine Seifen-Oper erscheint. Insgesamt, so Dallek, lassen die tausend Tage des John F. Kennedy erkennen, dass dieser Präsident "an das Gute der Nation" appellierte. Er habe die Vision einer – Zitat – "weniger gespaltenen Nation und Welt" wachgerufen und "eindrücklich bewiesen, dass die Vereinigten Staaten noch immer die letzte, die beste Hoffnung für die Menschheit darstellen." Man kann dieses Fazit erst dann richtig verkosten, wenn man es in Beziehung setzt zum Unilateralismus des jüngeren Bush, den Dallek an anderer Stelle frühzeitig kritisiert hat.
    Robert Dallek
    John F. Kennedy. Ein unvollendetes Leben
    (Deutsche Verlagsanstalt, 750 S., EUR 39,90