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Aufbruch in ein neues Europa

Am 27. Juni 1989 durchtrennten der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock den Grenzzaun zwischen Österreich und Ungarn. Der Eisernen Vorhang würde löchrig. Für Polen, Ungarn und Tschechien begann ein Aufbruch in ein neues Europa. Die internationale Akademietagung in Hamburg beleuchtet das Geschehen aus heutiger Sicht.

Von Ursula Storost |
    Am 27. Juni 1989 stehen zwei gutgekleidete Herren im ungarischen Städtchen Sopron am Grenzzaun zu Österreich. Unter Applaus durchtrennen der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock mit einem Bolzenschneider den Stacheldraht - den Eisernen Vorhang, zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten. Alois Mock ist gerührt.

    "Es ist einer der schönsten Augenblicke meiner diplomatischen Tätigkeit."

    Bereits Anfang Mai hatten die Ungarn damit angefangen, ihre Grenzanlagen zu demontieren - zur großen Freude vieler DDR-Bürger.

    "Wir freuen uns über die Demokratie in Ungarn."

    "Dass die Diktatur von Verbrechern aufhört."

    Es waren nicht nur die Ereignisse in Deutschland, die zur Wiedervereinigung geführt haben, sagt Cord Jakobeit, Politologieprofessor an der Hamburger Universität und Mitglied der Akademie der Wissenschaften Hamburg. Mit der Tagung "Aufbruch in ein neues Europa" wollte er zeigen:

    "Dass auch in den Nachbarländern sehr viele Veränderungen eingetreten sind, die es wert sind, dass man darüber nachdenkt: Was ist eigentlich genau passiert und was denken diese Menschen in diesen Staaten über den Prozess dieser vergangenen 20 Jahre bis heute."

    Fest steht, dass trotz durchschnittener Grenzzäune damals die Ausreise in den Westen nicht erlaubt war. Auch wenn Hunderten von DDR Bürgern in ihrem Sommerurlaub die Flucht gelang. Noch am 22. August 1989 wurde der 36-jährige Kurt-Werner Schulz aus Weimar beim Versuch, nach Österreich zu gelangen, von ungarischen Grenzern erschossen.

    "Dass das ja auch kein einfacher Vorgang war. Dass ja auch noch Abkommen bestanden haben zwischen den ehemaligen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang und der DDR, die Grenzen zu respektieren. Es hat dann noch Monate gebraucht, bis Zehntausende DDR-Bürger tatsächlich aus Ungarn ausreisen konnten."

    1989 war nicht nur ein Wendepunkt in der Geschichte Deutschlands, sondern auch in der Geschichte Europas. Daran hatten die Staaten des damaligen Ostblocks gravierenden Anteil. In westlichen Staaten ist das aber nur wenigen bewusst, bemängelt Cord Jakobeit.

    "Wenn Sie nach der Idee Europas oder der Identität Europas fragen, hier bei uns in Westeuropa oder in der alten Bundesrepublik, dass da dann die Vorstellung immer noch in den Köpfen dominiert, dass der Kern der europäischen Integration in Westeuropa liegt; und dass die Brüder und Schwestern aus dem anderen Teil Deutschlands - und darüber hinaus in den ostmitteleuropäischen Staaten -, dass die doch noch Neubürger in Europa sind; und dass man auch gar nicht so enge Kontakte in diese Staaten hat."

    Die Sorgen und Probleme der osteuropäischen Staaten müssten im Westen stärker ins Bewusstsein rücken, konstatiert Cord Jakobeit. Und er verweist auf die weltweite Finanzkrise. Wer macht sich hierzulande klar, dass in Ungarn die Verhältnisse ungleich schlechter sind als hier?

    "Wir haben bei unserer Wahrnehmung minus sechs Prozent, also die Wirtschaft schrumpft um sechs Prozent. Da vergessen wir sehr leicht, dass diese Krise sehr viel bedrohlicher und sehr viel gravierender ist in diesen ostmitteleuropäischen Ländern. Also die Verantwortung für die Gestaltung, für das Zusammenwachsen des europäischen Hauses, das wird eben auch in Erinnerung gerufen, wenn man so eine Zwischenbilanz zieht nach 20 Jahren."

    Die Härte, mit der die Wirtschaftskrise in Ungarn wütet, ist allerdings auch hausgemacht, sagt László Kiss, Wissenschaftlicher Direktor des Ungarischen Instituts für auswärtige Angelegenheiten in Budapest. 1989 begannen die Menschen in Ungarn und in Polen selbst Geschichte zu machen; auch Wirtschaftsgeschichte, sagt er. Deregulierung hieß das neue, bejubelte Zauberwort. Heute wartet die Bevölkerung darauf, dass Staat und internationale Organisationen wieder regulierend in die Finanzwelt eingreifen.

    "Im Laufe der letzten 20 Jahre machten wir ein kreditfinanziertes Wachstum, einen kreditfinanzierten Überkonsum, kreditfinanzierte Sozialleistungen in Fremdwährungen. Also, wir haben keine ökonomische Basis, um einen normalen Sozialstaat zu machen. Aber die neue politische Elite war durch die Idee geleitet, mehr für die ungarischen Bürger anzubieten. Und die ökonomische Basis konnte uns nicht erlauben, einen zahlungsfähigen Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat zu bauen. In diesem Sinne benutze ich das Wort 'Frühgeburt Sozialstaat'."

    1989 war die Aussicht, nach Europa zurückkehren und ein Leben nach westlichem Wohlstandsmuster führen zu können, euphorisierend für die Ungarn. Heute ist Ernüchterung eingetreten, konstatiert László Kiss.

    "Die Erwartungen waren zu hoch gesetzt. Also praktisch alles wird in Brüssel gemacht werden, Fördergelder fließen aus Brüssel nach Ungarn - und praktisch zum Beispiel Wirtschaftspolitik bedeutet, die Fördergelder zu Hause zu gebrauchen. Das war ein totaler Irrtum. Die Europäische Union gibt Rahmenbedingungen, um eine kluge Politik zu machen. Aber die Verantwortung liegt unverändert in unserer nationalen Kompetenz."

    Bei der letzten Europawahl konnten rechtsradikale Kräfte in Ungarn 14 Prozent verbuchen. Das alarmierende Ergebnis sei ein Produkt verfehlter Regierungspolitik, glaubt László Kiss. In vielen ländlichen Gebieten Ungarns gibt es inzwischen keinerlei Infrastruktur mehr, keine Postämter, keine Bahnanbindungen, keine Polizei. Hier siedeln sich Sinti und Roma an. Die alteingesessene Bevölkerung fühle sich bedroht.

    "Wir erleben eine zweite Transformationskrise. Im Bereich der wirtschaftlichen Sphäre ist es gelungen, eine Formel einzuführen. Aber was die Strukturreform anbetrifft, also Rentenreform, Gesundheitsreform - bis zum heutigen Tag ist es nicht gelungen, eine tiefgehende Strukturreform vorzuziehen."

    Auch in der damaligen Tschechoslowakei waren die Erwartungen an Perestroika und Glasnost hoch. Oldrich Tuma, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte Prag an der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, erinnert sich an die Besetzung der Prager Botschaft durch DDR-Flüchtlinge.

    "Es endete mit diesen Freiheitszügen aus Prag in die Bundesrepublik. Aber was wichtig war, dass diese Katastrophe von der DDR in Prag geschah, im Zentrum von Prag. Die Leute konnte das sehen. Es gab Hunderte von leeren Trabbis an Prager Straßen. Es war für die tschechischen Beobachter wie ein Beben oder so etwas. Das hatte eine sehr große psychologische Wirkung auf die Atmosphäre in Prag."

    Damals, so Oldrich Tuma, konnte sich natürlich niemand vorstellen, dass man 20 Jahre später keinen Warschauer Pakt und kein kommunistisches Regime mehr haben würde. Aber die Tschechoslowaken hätten auch gedacht, dass sie schneller Mitglied in der Europäischen Union werden würden.

    "Vielleicht erwarteten die Leute, dass in 20 Jahren wir dieses sozialökonomische Niveau haben werden, wie im alten Europa, wie in Deutschland und so. So leicht war es nicht. Das ist auch ein bisschen mehr psychologisch, als ein politisches Problem. Zum Beispiel, dass bis heute Österreich und Deutschland die Grenzen nicht ganz geöffnet haben für Leute, die in Österreich oder Deutschland arbeiten wollen."

    Nicht, dass so viele Tschechen wirklich in Deutschland arbeiten wollten, sagt Oldrich Tuma. Es sei nur das Gefühl da, nicht hundertprozentig zu Europa zu gehören. Auf der anderen Seite:

    "Für Tschechen, die Deutschen waren: die Urfeinde, ja die Okkupation, Weltkrieg und so weiter ... Aber auch das 19. Jahrhundert und die Kämpfe zwischen Tschechen und Deutschen innerhalb Böhmen und Mähren und so weiter. Aber das hat sich geändert. Das Bild von Deutschen, das ist eine andere Art für die junge Generation. Etwas wie diese gemeinsame Europäische Identität entwickelt sich."

    Rolf Steininger, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, ist froh darüber, dass die Länder des ehemaligen Ostblocks dann doch ohne großes Zögern in die Europäische Union aufgenommen wurden.

    "Die Konsequenz des Falls der Mauer heißt ein vereinigtes Europa; nicht nur ein vereinigtes Deutschland - ein vereinigtes Europa. Dieses - aus meiner Sicht - wunderbare Experiment, dass das in dieser Form zustande gekommen ist. Denn Europa war immer mehr als nur Westeuropa. Europa war immer auch das, was jetzt dabei ist."

    Dass viele Neueuropäer von der EU enttäuscht sind, ist für den Historiker auch eine Folge zu hoher Erwartungen und Fehler der EU-Regierung. Entscheidend sei aber, dass es keine Grenzregionen und keine Kriege mehr gebe - denn die hatten die Europäer lange genug.

    "Ich bin nur in sofern ganz zuversichtlich, dass die Institutionen, die inzwischen dieses Europa ausmachen, durch irgendwelche Missstimmungen in der Bevölkerung nicht ausgehebelt werden können. Auch wenn die Wahlbeteiligung und die Ergebnisse ziemlich katastrophal sind. Die Dinge werden auch wieder besser."