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Aufbruch statt Bildungsnotstand

Nur 17,6 Prozent Analphabeten – statistisch gesehen steht Libyen in der arabischen Welt gut da. Aber in den letzten 20 Jahren ließ das Gaddafi-Regime das Bildungswesen zusehends verfallen. Was gelehrt wurde, sollte offensichtlich die Köpfe vernageln, statt Erfinder- und Forschergeist fördern.

Von Marc Thörner | 22.10.2011
    "Es ist eine unstrittige Tatsache, dass sowohl Männer wie Frauen Menschen sind. Frauen sind weiblich und Männer sind männlich. Die menschliche Gesellschaft setzt sich weder allein aus Männern, noch allein aus Frauen zusammen, sondern gleichermaßen aus Männern und Frauen."

    Solch umständliche Ausführungen ihres Staatschefs gehörten zu den Dingen, die libysche Schüler bisher memorieren mussten. Vieles andere lernten sie dagegen nicht.

    Wenn Lehrer und Lehrerinnen auf dem Freiheitsplatz in Bengasi demonstrieren, ist daher immer wieder eine Forderung zu hören:

    "Schluss mit dem Grünen Buch. In alle möglichen normalen Fächer mussten wir immer wieder den Bezug zu Gaddafis Werk einfließen lassen. Das ist das Erste, was aufhören muss. Wir haben jetzt ein großes Problem. In Libyen wurden seit 1970 an den normalen allgemeinbildenden Schulen keine Fremdsprachen mehr unterrichtet. Wir brauchen kein Grünes Buch, sondern dringend Englisch, Französisch, Spanisch oder Deutsch."

    Statistisch gesehen schneidet Libyen im Vergleich der arabischen Welt bravourös ab. Nur 17,6 Prozent Analphabeten – so gut steht kein anders Land der Region da. Es herrschte Schulpflicht. Und der Anteil von Menschen mit höherer Bildung lag nur noch in zwei anderen arabischen Gesellschaften höher: der palästinensischen und der jordanischen.
    Doch die Statistik sagt nur wenig darüber aus, was an den Schulen eigentlich unterrichtet wurde – und in welcher Qualität.

    Schon die mangelnden oder nicht vorhandenen Fremdsprachenkenntnisse ließen die Libyer im Vergleich zu den polyglotten Tunesiern oder Marokkanern auf den regionalen Arbeitsmärkten ins Hintertreffen geraten. Die Fixierung aufs Arabische war für Gaddafi eine ideologische Frage, gleichbedeutend mit nationalem Selbstbewusstsein, revolutionärer Haltung und Abkehr vom Kolonialismus. Aber damit isolierte er die Libyer auch von der übrigen Welt. Um annährend auf internationalem Standard zu studieren, musste man also ins Ausland. Und hier zeigte sich das nächste Problem, sagt Ali, ein junger Mann, der nach längerem Aufenthalt in Deutschland soeben in sein Heimatland zurückgekehrt ist. Ostlibyer seien systematisch von höherer Bildung ausgeschlossen worden.

    "Unsere Leute, wenn die gehen nach Europa lernen – die sind nicht aus Ostlibyen. Die gehen alle aus Westlibyen. Ich habe libysche Studenten in Berlin getroffen, die sind ca. 98 Jungs. Die sind alle aus Tripoli. Kein Einziger aus Bengasi."

    Ein Land wie unter einer Glocke. Und unter der großen Glocke noch einmal eine kleine: Ostlibyen. Gaddafi misstraute insbesondere den Menschen dort und wollte deshalb ihren Teil des Landes systematisch von jeder Entwicklung abschotten. Erreicht hat er damit das Gegenteil: Die Revolution ging vom ostlibyschen Bengasi aus.