Im August jedes Jahres lädt die Sozialistische Partei zur "université d'été" zur Sommerakademie in die westfranzösische Hafenstadt. Seit 1997 versammelte sich ein selbstbewusster Parti Socialiste in La Rochelle: die wichtigste Regierungspartei, der Sozialist Lionel Jospin leitete als Premierminister die Regierung. Und noch im vergangenen Jahr waren die Parteimitglieder überzeugt, dass ihr "Genosse Lionel" bald das Hotel Matignon, den Amtssitz des Premierministers, gegen den Elyséepalast eintauschen würde. Doch der 21. April bescherte den Sozialisten eine böse Überraschung:
In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl geht nicht der Sozialist Jospin, sondern der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen als zweiter durchs Ziel und steht zusammen mit Amtsinhaber Jacques Chirac in der Stichwahl zum höchsten Staatsamt. Die Sozialisten sind fassungslos. Noch am Abend des ersten Wahlganges zieht Jospin die Konsequenzen aus seiner Niederlage:
Dieses Ergebnis ist ein Donnerschlag. Ich übernehme die volle Verantwortung für das Scheitern und werde mich nach der Präsidentschaftswahl aus der Politik zurückziehen.
"Was Lionel Jospin betrifft: er hat die Entscheidung getroffen, die ihm angesichts seiner Stellung im öffentlichen Leben als angemessen erschien", sagt Francois Hollande in seiner Rede in la Rochelle. "Diese Entscheidung war überraschend, denn es kommt nicht oft vor, dass jemand Verantwortung übernimmt". Und dann dankt der Parteichef Lionel Jospin für seine Arbeit als Premierminister und dafür, dass die Sozialisten unter seiner Führung 1997 die Parlamentswahlen gewannen.
Jeder unserer Erfolge hat das Land nach vorn gebracht. Jede Niederlage hatte zur Folge, dass sich die Sozialistische Partei den Franzosen wieder angenähert hat, dass sie ihr Programm überarbeitet, und über ihr Handeln neu nachgedacht hat. Das ist heute notwendiger denn je, wenn wir neu anfangen wollen.
Die Präsidentschaftswahl ein Desaster. Verluste bei den folgenden Parlamentswahlen. Was haben wir während der Regierungszeit falsch gemacht, und für welche Politik stehen wir in Zukunft fragen sich die Sozialisten. "Die Politik ist von Materialismus geprägt", meint eine Anhängerin der Partei:
In den fünf Jahren unserer Regierungsbeteiligung war die Linke, obwohl sie eigentlich das Gegenteil wollte, viel zu willfährig gegenüber den Reichen, den Industriekapitänen, dem großen Kapital. Während der ganzen Zeit hat man nicht auf das Volk gehört.
Ein junger Mann meint:
Wenn wir wieder an die Macht gelangen wollen, um die Lebensbedingungen derjenigen zu ändern, die es verdienen, dann geht dies nur, indem wir uns auf unsere gemeinsamen Werte besinnen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Was heißt Gleichheit? Während des Wahlkampfes hat ein Präsidentschaftskandidat einem Jungen ein Ohrfeige verpasst, weil der in bestehlen wollte. Alle Leute um mich herum haben gesagt: richtig so! Einem Kind, das klaut, soll man ruhig eine runterhauen. Wenn wir über Gleichheit sprechen, dann immer in dem Sinne, dass jeder machen kann, was er will - Individualismus. Wir vergessen aber, dass es in einer Gesellschaft auch Pflichten gibt.
Die 35-Stunden-Woche! Man hat uns gesagt: mit der 35-Stunden-Woche werden wir gewinnen, das ist eine gute Sache. Und was ist passiert? wir haben auch wegen der 35- Stunden-Woche die Wahlen verloren. Einiges hat nämlich nicht funktioniert. Die Angestellten und diejenigen, denen es ohnehin gut geht, haben davon profitiert, diejenigen, die sich ein verlängertes Wochenende leisten können. Wir haben unserer Abgeordneten im Departement Vaucluse immer wieder gesagt, "Cecile, sag` der Arbeitsministerin Martine Aubry oder ihrer Nachfolgerin Elisabeth Guigou doch, dass die Arbeiter mit geringen Löhnen von der 35-Stunden Woche nichts haben".
Die frühere Arbeitsministerin Martine Aubry, der es in den Parlamentswahlen nicht gelungen ist, ihren Wahlkreis zu gewinnen, geht auf die Kritik nicht ein. Offiziell gilt in der Sozialistischen Partei: die Arbeit der Regierung Jospin war erfolgreich. Die Einführung der 35-Stunden Woche wird als soziale Errungenschaft bewertet. Die Bürgermeisterin von Lille und Vertreterin der Parteilinken zieht andere Konsequenzen aus der Niederlage:
Die Partei muss sich der Gesellschaft gegenüber öffnen. Bei den sozialen Kämpfen, etwa wenn es um Entlassungen geht, sind wir außen vor. Wir stehen nicht an der Seite der Asylbewerber. Wir müssen offen werden gegenüber den sozialen Bewegungen. Lasst uns ernsthaft diskutieren, experimentieren und Vorschläge ausarbeiten. So kommen wir vorwärts.
Ähnlich äußert sich der frühere Finanz- und Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn, der zum rechten Flügels der Partei gezählt wird:
Wenn es heißt linker oder weniger links, dann sage ich: einfach sozialistisch. Ich glaube, dass wir noch etwas zu sagen haben. Innerhalb des unumgänglichen Systems der Marktwirtschaft sind wir diejenigen, die für gewisse Regeln eintreten. Bei vielen, die uns bei den letzten Wahlen nicht ihre Stimme gegeben haben, ist der Eindruck entstanden, dass die Chancengleichheit nicht mehr funktioniert, dass sie ihren Kindern nur das eigene Elend hinterlassen können. Diesen Menschen eine Antwort zu geben, das sollte die Botschaft der sozialistischen Partei und der Sinn des Begriffes "links" sein.
Elisabeth Guigou, ehemalige Arbeitsministerin, davor Ressortchefin für die Justiz, stellt einen Zusammenhang her zwischen der sozialen Lage und einem fehlenden Bewusstsein für Werte:
Der republikanische Pakt gilt für viele unserer Mitbürger nur noch eingeschränkt oder überhaupt nicht mehr. Die Einteilung in soziale Klassen und damit die Ungleichheit der Lebensqualität nehmen zu. Viele fühlen sich in einer ausweglosen Lage. Gleichzeitig wird der Staat verachtet. Das bekommen seine Repräsentanten zu spüren, Polizisten etwa oder Lehrer. Seit etwa 30 Jahren leben wir in einem libertären Umfeld. Heute, wo alles erlaubt, alles gezeigt und zur Schau gestellt wird, müssen wir an die Regeln des Zusammenlebens wieder anknüpfen.
Die Sozialistische Partei und die Globalisierung: Europa, so der frühere Premierminister Michel Rocard, war nicht vorbereitet, als sich ab 1970 die Öffnung der Kapitalmärkte abzeichnete und die Entwicklung der Informationstechnologien beschleunigt wurde bis hin zum Internet. Durch diese Technologien und den Zusammenbruch der Sowjetunion sei die Welt heute geeinter denn je. Europa, so Rocard, könne eine Antwort geben auf den Wildwuchs des weltweiten Wirtschaftens. "In der Europa-Politik haben wir Zeit verschwendet", meint Parteichef Francois Holland.
Wenn 11 von 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union von Sozialisten regiert werden, wie dies in den letzten Jahren der Fall war, kann sich Europa nicht auf einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung beschränken. Erwartet wird vielmehr eine soziale Politik die weltweit als Regelwerk erscheinen könnte.
"Eins steht fest", meint der Sozialist Michel Rocard: "In der gegenwärtigen Welt und das gilt auch für Europa, liegt die politische und theoretische Initiative bei der politischen Rechten und die kulturelle Hegemonie bei der liberalen Rechten".
Aber: In der Bürger-Gesellschaft kommt heute eine neue Botschaft von den globalorganisierten Nicht-Regierungorganisationen. Diese Botschaft muss von der Gesellschaft gehört und miteinbezogen werden. Die Selbstgefälligkeit der politischen Elite muss aufgebrochen werden.
"Wir stehen in der Tradition des politischen Liberalismus, auf dem die Demokratie und die Menschenrechte beruhen", meint Henri Weber, Mitglied des französischen Senats und einer der wichtigsten theoretischen Denker der Sozialistischen Partei. "Wir bekennen uns zum kulturellen Liberalismus, der Befreiung von moralischer Gängelung, welche sich in unserer Politik zur rechtlichen Aufwertung homosexueller Paare niederschlägt. Aber wir bekämpfen den wirtschaftlichen Liberalismus".
Das ist die Ideologie, die behauptet, dass die Märkte immer intelligenter seien als die Regierungen. Deshalb wollen die Liberalen immer wenigern Steuern, weniger Abgaben, weniger Gesetze und Bestimmungen, weniger Staat. Wir sind für eine Marktwirtschaft aber gegen eine Marktgesellschaft. Der Internationalismus, das war lange Zeit der Kampf für Frieden und gegen den Kolonialismus und das bleibt auch so. Aber heute muss daraus auch der Kampf für eine gebändigte und solidarische Globalisierung gegen die liberale Globalisierung werden.
Für die praktische Politik bedeutet dies: "Für eine Regelung der Probleme der Welt bedarf es der Übereinstimmung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten", meint der frühere französische Außenminister Hubert Védrine.
Ich bedauere allerdings, dass die Bush-Administration daran nicht interessiert ist und keine Anstalten macht, eine Allianz mit Europa zu bilden. Im Gegenteil: die Vereinigten Staaten glauben heute, sie seien allein für die Welt verantwortlich. Aber auch ein noch so wichtiges und militärisch überlegenes Land kann man nicht alles allein entscheiden lassen. Wir dürfen da nicht nachlassen. Wir müssen den Amerikanern sagen, dass sie im eigenen Interesse ein multipolares System benötigen. Übrigens gibt es in den USA auch unter den Republikaner einige intelligente Köpfe, wie z. B. den früheren Außenminister Henry Kissinger, die der Meinung sind, dass es im Interesse der Vereinigten Staaten ist, dass die Macht der USA nicht als maßlos erscheint. Dass es zwar der amerikanischen Führung bedarf, aber in einem partnerschaftlichen Dialog mit den Europäern, Russen Chinesen und anderen.
Der junge Parlamentsabgeordnete Julien Dray, einer der Hoffnungsträger der Partei, unterscheidet die soziale von der politischen Linken. Die soziale Linke bestehend aus Sozialisten, Kommunisten, Grünen, Trotzkisten, Gewerkschaften und vielen andere Organisationen, so sagt er, bildet in Frankreich immer noch die Mehrheit, trotz des konservativen Doppelsieges bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Julien Dray fordert:
Wenn unser Programm nicht grundsätzlich mit dem Liberalismus bricht, werden wir die soziale Linke nicht einbinden können. Dann werden wir weiterhin gespalten aus Wahlen hervorgehen. Es wird Streit geben und andere radikalere Formationen werden entstehen und uns Konkurrenz machen.
Nachdem Neogaullisten und Liberale beschlossen haben, eine gemeinsame konservative politische Formation zu gründen, haben einzelne Sozialisten gleiches für die Linke vorgeschlagen. Denn von der 'gauche plurielle', der ehemaligen rot-rot-grünen Regierungskoalition, ist nach den Wahlen nicht viel übriggeblieben. Während der grüne Präsidentschaftskandidat noch ein respektables Ergebnis erzielte, gelang nur drei grünen Kandidaten der Einzug ins Parlament. Parteichefin Dominique Voynet hat inzwischen ihren Rücktritt angekündigt. Die Kommunisten haben sich in die Gruppe der Splitterparteien abgemeldet. Die verschiedenen trotzkistischen Gruppierungen, deren Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen einen beachtlichen Erfolg erzielten und damit indirekt zur Niederlage des sozialistischen Kandidaten Jospin beitrugen, sind in der Nationalversammlung nicht vertreten und spielen infolgedessen in der Gestaltung der französischen Politik keine Rolle. Dennoch beeinflusst der Zulauf zu den radikalen Linken die inhaltliche Diskussion des Parti Socialiste.
"Es geht darum, die Bedingungen für eine Sammlung der Linken zu schaffen", meint der Altlinke Henri Emmanuelli. Nicht in einer gemeinsamen Partei, sondern durch eine Zusammenarbeit. Alle progressiven Kräfte müssen an einer politischen Alternative mitarbeiten. Dem Kapitalismus geht es nicht gut, uns auch nicht, aber wir haben Hoffnung". So sieht es auch Pierre Mauroy, Anfang der 80iger-Jahre Premierminister unter Präsident Mitterand:
Ich wünsche mir mehr Sozialismus. Und das ist, glaube ich, das allgemeine Gefühl. Eine sozialistische Partei gehört zur Linken. Sie muss den Liberalismus bekämpfen und darf nicht den Sirenen folgen, die sie von ihrem Weg abbringen wollen.
Dagegen versucht der rechte Flügel der Partei Zeit zu gewinnen. Der frühere Finanz- und Wirtschaftsminister Laurent Fabius, der wegen des Protestes der Parteilinken nicht Sprecher der Sozialisten wurde, sondern sich mit dem Amt des ersten stellvertretenden Vorsitzenden zufrieden geben musste, meint:
Das erste, was jetzt getan werden muss, und das ist kein Ausweichen, sondern darin besteht heute unsere wichtigste Verantwortung, ist, ab sofort eine extrem angriffslustige Opposition gegen die Rechte zu bilden.
Die Zulassung weiterer Überstunden vor allem für die unter der Einführung der 35 Stunden-Woche leidenden mittleren und kleinen Betriebe, sowie die Weigerung der Regierung, den staatlichen Mindestlohn stärker als um das gesetzliche Minimum anzuheben und die Konzentration auf innere und äußere Sicherheit bei Einschnitten im Kultur- und Forschungsetat, liefern nach Ansicht der Sozialisten den Beweis für die unsoziale Politik der Regierung Raffarin. Die Konzentration der Partei auf die Sacharbeit, um das Debakel am 21. April zu vergessen, wurde am 22. September gestört, meint Catherine Pégard, Journalistin des Nachrichtenmagazins "Le Point":
Schröders Wahlerfolg hat ihnen abermals einen Schlag versetzt. Sein knapper Sieg hat ihnen noch einmal vor Augen geführt, was bei ihnen nicht geklappt hat. Die französischen Sozialisten haben nach ihren Wahlniederlagen behauptet, es habe an ihren Partnern in der Regierungskoalition gelegen, vor allem an den Grünen. Schröder hat gezeigt, dass man mit den Grünen eine dauerhafte Allianz bilden kann. Für die französischen Sozialisten war die Bundestagswahl ein weiterer schwarzer Sonntag.
Hilflos wirkt der Vorsitzende. Francois Hollande hat einen Fragebogen an alle Parteimitglieder verschickt. Jeder soll sich zur gegenwärtigen Lage und zum künftigen Kurs der Partei äußern dürfen. Eine technokratische Reaktion auf einen emotionalen Schock. Charlotte Brun, die Vorsitzende der französischen Jung-Sozialisten, hat auch Francois Hollande im Visier, wenn sie sagt:
Politik ist auch eine Sache der Ausrucksweise. Wenn die Politik vielen heute als ein weit entferntes Universum erscheint, dann teilweise auch deshalb, weil die Sprache der Politik für die meisten unverständlich ist. Wenn ein Sozialist im Fernsehen über Arbeit und Armut spricht, kommt es leider nicht selten vor, dass diejenigen, an die er sich wenden möchte, ihn nicht verstehen.
Der ehemalige Minister Jean-Luc Mélenchon, zusammen mit Henry Emmanueli innerhalb der Sozialistischen Partei Gründer des linken Kreises "Neue Welt", der ideologisch an die ersten Regierungsjahre des früheren Präsidenten Mitterand anknüpfen möchte, macht sich über die Unentschiedenen lustig, zu denen er unausgesprochen auch den Parteivorsitzenden zählt: "Sie stehen weder in der Tradition des französischen Sozialisten Guy Molet, noch sind sie Anhänger des Briten Tony Blair, weder Archaismus noch Modernismus", ruft Mélenchon seinen Gesinnungsgenossen auf einer Parteiveranstaltung zu.
Bis zum Parteitag im Mai in Dijon wird Francois Hollande die Sozialisten voraussichtlich führen, meint die Journalistin Catherine Pégard:
Die Sozialisten befinden sich in einer Phase des Neuaufbaus. Sie müssen neue Ideen entwickeln und einen Führer finden. Manchmal erweist sich letztes als schwieriger.
In dieser Phase ist Geschlossenheit die erste Sozialistenpflicht, ruft Laurent Fabius seinen Parteifreunden in La Rochelle zu:
In einer Diskussion stellt man naturgemäß immer die Unterschiede heraus. Wir befinden uns hier in einer Halle, die den Namen von Léon Blum trägt. Blum hat während eines Parteitages einmal gesagt: "Wir dürfen in unseren Diskussionen nicht vergessen, dass die Unterschiede zwar wichtig sind, aber weniger wichtig als dasjenige, was uns eint".
In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl geht nicht der Sozialist Jospin, sondern der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen als zweiter durchs Ziel und steht zusammen mit Amtsinhaber Jacques Chirac in der Stichwahl zum höchsten Staatsamt. Die Sozialisten sind fassungslos. Noch am Abend des ersten Wahlganges zieht Jospin die Konsequenzen aus seiner Niederlage:
Dieses Ergebnis ist ein Donnerschlag. Ich übernehme die volle Verantwortung für das Scheitern und werde mich nach der Präsidentschaftswahl aus der Politik zurückziehen.
"Was Lionel Jospin betrifft: er hat die Entscheidung getroffen, die ihm angesichts seiner Stellung im öffentlichen Leben als angemessen erschien", sagt Francois Hollande in seiner Rede in la Rochelle. "Diese Entscheidung war überraschend, denn es kommt nicht oft vor, dass jemand Verantwortung übernimmt". Und dann dankt der Parteichef Lionel Jospin für seine Arbeit als Premierminister und dafür, dass die Sozialisten unter seiner Führung 1997 die Parlamentswahlen gewannen.
Jeder unserer Erfolge hat das Land nach vorn gebracht. Jede Niederlage hatte zur Folge, dass sich die Sozialistische Partei den Franzosen wieder angenähert hat, dass sie ihr Programm überarbeitet, und über ihr Handeln neu nachgedacht hat. Das ist heute notwendiger denn je, wenn wir neu anfangen wollen.
Die Präsidentschaftswahl ein Desaster. Verluste bei den folgenden Parlamentswahlen. Was haben wir während der Regierungszeit falsch gemacht, und für welche Politik stehen wir in Zukunft fragen sich die Sozialisten. "Die Politik ist von Materialismus geprägt", meint eine Anhängerin der Partei:
In den fünf Jahren unserer Regierungsbeteiligung war die Linke, obwohl sie eigentlich das Gegenteil wollte, viel zu willfährig gegenüber den Reichen, den Industriekapitänen, dem großen Kapital. Während der ganzen Zeit hat man nicht auf das Volk gehört.
Ein junger Mann meint:
Wenn wir wieder an die Macht gelangen wollen, um die Lebensbedingungen derjenigen zu ändern, die es verdienen, dann geht dies nur, indem wir uns auf unsere gemeinsamen Werte besinnen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Was heißt Gleichheit? Während des Wahlkampfes hat ein Präsidentschaftskandidat einem Jungen ein Ohrfeige verpasst, weil der in bestehlen wollte. Alle Leute um mich herum haben gesagt: richtig so! Einem Kind, das klaut, soll man ruhig eine runterhauen. Wenn wir über Gleichheit sprechen, dann immer in dem Sinne, dass jeder machen kann, was er will - Individualismus. Wir vergessen aber, dass es in einer Gesellschaft auch Pflichten gibt.
Die 35-Stunden-Woche! Man hat uns gesagt: mit der 35-Stunden-Woche werden wir gewinnen, das ist eine gute Sache. Und was ist passiert? wir haben auch wegen der 35- Stunden-Woche die Wahlen verloren. Einiges hat nämlich nicht funktioniert. Die Angestellten und diejenigen, denen es ohnehin gut geht, haben davon profitiert, diejenigen, die sich ein verlängertes Wochenende leisten können. Wir haben unserer Abgeordneten im Departement Vaucluse immer wieder gesagt, "Cecile, sag` der Arbeitsministerin Martine Aubry oder ihrer Nachfolgerin Elisabeth Guigou doch, dass die Arbeiter mit geringen Löhnen von der 35-Stunden Woche nichts haben".
Die frühere Arbeitsministerin Martine Aubry, der es in den Parlamentswahlen nicht gelungen ist, ihren Wahlkreis zu gewinnen, geht auf die Kritik nicht ein. Offiziell gilt in der Sozialistischen Partei: die Arbeit der Regierung Jospin war erfolgreich. Die Einführung der 35-Stunden Woche wird als soziale Errungenschaft bewertet. Die Bürgermeisterin von Lille und Vertreterin der Parteilinken zieht andere Konsequenzen aus der Niederlage:
Die Partei muss sich der Gesellschaft gegenüber öffnen. Bei den sozialen Kämpfen, etwa wenn es um Entlassungen geht, sind wir außen vor. Wir stehen nicht an der Seite der Asylbewerber. Wir müssen offen werden gegenüber den sozialen Bewegungen. Lasst uns ernsthaft diskutieren, experimentieren und Vorschläge ausarbeiten. So kommen wir vorwärts.
Ähnlich äußert sich der frühere Finanz- und Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn, der zum rechten Flügels der Partei gezählt wird:
Wenn es heißt linker oder weniger links, dann sage ich: einfach sozialistisch. Ich glaube, dass wir noch etwas zu sagen haben. Innerhalb des unumgänglichen Systems der Marktwirtschaft sind wir diejenigen, die für gewisse Regeln eintreten. Bei vielen, die uns bei den letzten Wahlen nicht ihre Stimme gegeben haben, ist der Eindruck entstanden, dass die Chancengleichheit nicht mehr funktioniert, dass sie ihren Kindern nur das eigene Elend hinterlassen können. Diesen Menschen eine Antwort zu geben, das sollte die Botschaft der sozialistischen Partei und der Sinn des Begriffes "links" sein.
Elisabeth Guigou, ehemalige Arbeitsministerin, davor Ressortchefin für die Justiz, stellt einen Zusammenhang her zwischen der sozialen Lage und einem fehlenden Bewusstsein für Werte:
Der republikanische Pakt gilt für viele unserer Mitbürger nur noch eingeschränkt oder überhaupt nicht mehr. Die Einteilung in soziale Klassen und damit die Ungleichheit der Lebensqualität nehmen zu. Viele fühlen sich in einer ausweglosen Lage. Gleichzeitig wird der Staat verachtet. Das bekommen seine Repräsentanten zu spüren, Polizisten etwa oder Lehrer. Seit etwa 30 Jahren leben wir in einem libertären Umfeld. Heute, wo alles erlaubt, alles gezeigt und zur Schau gestellt wird, müssen wir an die Regeln des Zusammenlebens wieder anknüpfen.
Die Sozialistische Partei und die Globalisierung: Europa, so der frühere Premierminister Michel Rocard, war nicht vorbereitet, als sich ab 1970 die Öffnung der Kapitalmärkte abzeichnete und die Entwicklung der Informationstechnologien beschleunigt wurde bis hin zum Internet. Durch diese Technologien und den Zusammenbruch der Sowjetunion sei die Welt heute geeinter denn je. Europa, so Rocard, könne eine Antwort geben auf den Wildwuchs des weltweiten Wirtschaftens. "In der Europa-Politik haben wir Zeit verschwendet", meint Parteichef Francois Holland.
Wenn 11 von 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union von Sozialisten regiert werden, wie dies in den letzten Jahren der Fall war, kann sich Europa nicht auf einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung beschränken. Erwartet wird vielmehr eine soziale Politik die weltweit als Regelwerk erscheinen könnte.
"Eins steht fest", meint der Sozialist Michel Rocard: "In der gegenwärtigen Welt und das gilt auch für Europa, liegt die politische und theoretische Initiative bei der politischen Rechten und die kulturelle Hegemonie bei der liberalen Rechten".
Aber: In der Bürger-Gesellschaft kommt heute eine neue Botschaft von den globalorganisierten Nicht-Regierungorganisationen. Diese Botschaft muss von der Gesellschaft gehört und miteinbezogen werden. Die Selbstgefälligkeit der politischen Elite muss aufgebrochen werden.
"Wir stehen in der Tradition des politischen Liberalismus, auf dem die Demokratie und die Menschenrechte beruhen", meint Henri Weber, Mitglied des französischen Senats und einer der wichtigsten theoretischen Denker der Sozialistischen Partei. "Wir bekennen uns zum kulturellen Liberalismus, der Befreiung von moralischer Gängelung, welche sich in unserer Politik zur rechtlichen Aufwertung homosexueller Paare niederschlägt. Aber wir bekämpfen den wirtschaftlichen Liberalismus".
Das ist die Ideologie, die behauptet, dass die Märkte immer intelligenter seien als die Regierungen. Deshalb wollen die Liberalen immer wenigern Steuern, weniger Abgaben, weniger Gesetze und Bestimmungen, weniger Staat. Wir sind für eine Marktwirtschaft aber gegen eine Marktgesellschaft. Der Internationalismus, das war lange Zeit der Kampf für Frieden und gegen den Kolonialismus und das bleibt auch so. Aber heute muss daraus auch der Kampf für eine gebändigte und solidarische Globalisierung gegen die liberale Globalisierung werden.
Für die praktische Politik bedeutet dies: "Für eine Regelung der Probleme der Welt bedarf es der Übereinstimmung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten", meint der frühere französische Außenminister Hubert Védrine.
Ich bedauere allerdings, dass die Bush-Administration daran nicht interessiert ist und keine Anstalten macht, eine Allianz mit Europa zu bilden. Im Gegenteil: die Vereinigten Staaten glauben heute, sie seien allein für die Welt verantwortlich. Aber auch ein noch so wichtiges und militärisch überlegenes Land kann man nicht alles allein entscheiden lassen. Wir dürfen da nicht nachlassen. Wir müssen den Amerikanern sagen, dass sie im eigenen Interesse ein multipolares System benötigen. Übrigens gibt es in den USA auch unter den Republikaner einige intelligente Köpfe, wie z. B. den früheren Außenminister Henry Kissinger, die der Meinung sind, dass es im Interesse der Vereinigten Staaten ist, dass die Macht der USA nicht als maßlos erscheint. Dass es zwar der amerikanischen Führung bedarf, aber in einem partnerschaftlichen Dialog mit den Europäern, Russen Chinesen und anderen.
Der junge Parlamentsabgeordnete Julien Dray, einer der Hoffnungsträger der Partei, unterscheidet die soziale von der politischen Linken. Die soziale Linke bestehend aus Sozialisten, Kommunisten, Grünen, Trotzkisten, Gewerkschaften und vielen andere Organisationen, so sagt er, bildet in Frankreich immer noch die Mehrheit, trotz des konservativen Doppelsieges bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Julien Dray fordert:
Wenn unser Programm nicht grundsätzlich mit dem Liberalismus bricht, werden wir die soziale Linke nicht einbinden können. Dann werden wir weiterhin gespalten aus Wahlen hervorgehen. Es wird Streit geben und andere radikalere Formationen werden entstehen und uns Konkurrenz machen.
Nachdem Neogaullisten und Liberale beschlossen haben, eine gemeinsame konservative politische Formation zu gründen, haben einzelne Sozialisten gleiches für die Linke vorgeschlagen. Denn von der 'gauche plurielle', der ehemaligen rot-rot-grünen Regierungskoalition, ist nach den Wahlen nicht viel übriggeblieben. Während der grüne Präsidentschaftskandidat noch ein respektables Ergebnis erzielte, gelang nur drei grünen Kandidaten der Einzug ins Parlament. Parteichefin Dominique Voynet hat inzwischen ihren Rücktritt angekündigt. Die Kommunisten haben sich in die Gruppe der Splitterparteien abgemeldet. Die verschiedenen trotzkistischen Gruppierungen, deren Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen einen beachtlichen Erfolg erzielten und damit indirekt zur Niederlage des sozialistischen Kandidaten Jospin beitrugen, sind in der Nationalversammlung nicht vertreten und spielen infolgedessen in der Gestaltung der französischen Politik keine Rolle. Dennoch beeinflusst der Zulauf zu den radikalen Linken die inhaltliche Diskussion des Parti Socialiste.
"Es geht darum, die Bedingungen für eine Sammlung der Linken zu schaffen", meint der Altlinke Henri Emmanuelli. Nicht in einer gemeinsamen Partei, sondern durch eine Zusammenarbeit. Alle progressiven Kräfte müssen an einer politischen Alternative mitarbeiten. Dem Kapitalismus geht es nicht gut, uns auch nicht, aber wir haben Hoffnung". So sieht es auch Pierre Mauroy, Anfang der 80iger-Jahre Premierminister unter Präsident Mitterand:
Ich wünsche mir mehr Sozialismus. Und das ist, glaube ich, das allgemeine Gefühl. Eine sozialistische Partei gehört zur Linken. Sie muss den Liberalismus bekämpfen und darf nicht den Sirenen folgen, die sie von ihrem Weg abbringen wollen.
Dagegen versucht der rechte Flügel der Partei Zeit zu gewinnen. Der frühere Finanz- und Wirtschaftsminister Laurent Fabius, der wegen des Protestes der Parteilinken nicht Sprecher der Sozialisten wurde, sondern sich mit dem Amt des ersten stellvertretenden Vorsitzenden zufrieden geben musste, meint:
Das erste, was jetzt getan werden muss, und das ist kein Ausweichen, sondern darin besteht heute unsere wichtigste Verantwortung, ist, ab sofort eine extrem angriffslustige Opposition gegen die Rechte zu bilden.
Die Zulassung weiterer Überstunden vor allem für die unter der Einführung der 35 Stunden-Woche leidenden mittleren und kleinen Betriebe, sowie die Weigerung der Regierung, den staatlichen Mindestlohn stärker als um das gesetzliche Minimum anzuheben und die Konzentration auf innere und äußere Sicherheit bei Einschnitten im Kultur- und Forschungsetat, liefern nach Ansicht der Sozialisten den Beweis für die unsoziale Politik der Regierung Raffarin. Die Konzentration der Partei auf die Sacharbeit, um das Debakel am 21. April zu vergessen, wurde am 22. September gestört, meint Catherine Pégard, Journalistin des Nachrichtenmagazins "Le Point":
Schröders Wahlerfolg hat ihnen abermals einen Schlag versetzt. Sein knapper Sieg hat ihnen noch einmal vor Augen geführt, was bei ihnen nicht geklappt hat. Die französischen Sozialisten haben nach ihren Wahlniederlagen behauptet, es habe an ihren Partnern in der Regierungskoalition gelegen, vor allem an den Grünen. Schröder hat gezeigt, dass man mit den Grünen eine dauerhafte Allianz bilden kann. Für die französischen Sozialisten war die Bundestagswahl ein weiterer schwarzer Sonntag.
Hilflos wirkt der Vorsitzende. Francois Hollande hat einen Fragebogen an alle Parteimitglieder verschickt. Jeder soll sich zur gegenwärtigen Lage und zum künftigen Kurs der Partei äußern dürfen. Eine technokratische Reaktion auf einen emotionalen Schock. Charlotte Brun, die Vorsitzende der französischen Jung-Sozialisten, hat auch Francois Hollande im Visier, wenn sie sagt:
Politik ist auch eine Sache der Ausrucksweise. Wenn die Politik vielen heute als ein weit entferntes Universum erscheint, dann teilweise auch deshalb, weil die Sprache der Politik für die meisten unverständlich ist. Wenn ein Sozialist im Fernsehen über Arbeit und Armut spricht, kommt es leider nicht selten vor, dass diejenigen, an die er sich wenden möchte, ihn nicht verstehen.
Der ehemalige Minister Jean-Luc Mélenchon, zusammen mit Henry Emmanueli innerhalb der Sozialistischen Partei Gründer des linken Kreises "Neue Welt", der ideologisch an die ersten Regierungsjahre des früheren Präsidenten Mitterand anknüpfen möchte, macht sich über die Unentschiedenen lustig, zu denen er unausgesprochen auch den Parteivorsitzenden zählt: "Sie stehen weder in der Tradition des französischen Sozialisten Guy Molet, noch sind sie Anhänger des Briten Tony Blair, weder Archaismus noch Modernismus", ruft Mélenchon seinen Gesinnungsgenossen auf einer Parteiveranstaltung zu.
Bis zum Parteitag im Mai in Dijon wird Francois Hollande die Sozialisten voraussichtlich führen, meint die Journalistin Catherine Pégard:
Die Sozialisten befinden sich in einer Phase des Neuaufbaus. Sie müssen neue Ideen entwickeln und einen Führer finden. Manchmal erweist sich letztes als schwieriger.
In dieser Phase ist Geschlossenheit die erste Sozialistenpflicht, ruft Laurent Fabius seinen Parteifreunden in La Rochelle zu:
In einer Diskussion stellt man naturgemäß immer die Unterschiede heraus. Wir befinden uns hier in einer Halle, die den Namen von Léon Blum trägt. Blum hat während eines Parteitages einmal gesagt: "Wir dürfen in unseren Diskussionen nicht vergessen, dass die Unterschiede zwar wichtig sind, aber weniger wichtig als dasjenige, was uns eint".