Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Auferweckung heute

Der Komponist Cristóbal Halffter hätte spanischer Kulturminister werden können. Er lehnte ab mit der Begründung, ein Künstler müsse die Gesellschaft mit künstlerischen Mitteln beeinflussen. Vor acht Jahren erregte seine erste Oper über Don Quijote Aufsehen. Sein neuestes Werk handelt von Lazarus, der von Jesus wieder zum Leben erweckt wurde, und ähnelt zeitweise einem religiösen Bekenntniswerk.

Von Frieder Reininghaus | 05.05.2008
    Offensichtlich hastig verlassen steht der lange Tisch vom letzten Abendmahl im Zentrum der Bühne: die leere Tafel mit den 13 Stühlen, die symbolisches Zentrum eines neuen Kults werden sollte. Die schlichte Ausstattung von Stefanie Pasterkamp zeigt sie leicht schräg von oben.

    Mit klaren Gesten und ohne ausschweifende Assoziationen läßt Alexander Schulin die wohl von alten Mysterienspielen inspirierte Handlung darstellen. Sie wurde aus der Leidensgeschichte des Wanderpredigers von Nazareth und einer freien Fortspinnung der Lazarus-Episoden des Johannes-Evangeliums kompiliert – ausgehend von der Frage, was aus dem vom Reich der Toten zurückbeorderten Freund des Religionsgründers geworden sein mag.

    Im Hintergrund stand die Frage, wie sich das erkenntnistheoretisch bedeutsame Höhlengleichnis von Platon auf den in seine Grabhöhle zurückkehrenden Lazarus übertragen läßt. Cristóbal Halffter versah das vom spanischen Dichter Juan Carlos Marset am Ende stark religiös, das heißt glaubensoptimistisch, geprägte Libretto mit ausladenden, inbrünstigen und gegebenenfalls auch kräftig zupackenden Zwischenspielen.
    Insgesamt lieferte Cristóbal Halffter, der inzwischen 78-jährige Matador der Neuen Musik in Spanien, eine farbenreiche Partitur, die gebührend mit Schlagwerk besetzt ist, mit Sekundreibungen nicht geizt, Erregungs- und Schreckmomente ausspielt: eine Arbeit aus dem Geist der Moderne vom guten alten Schlag.

    Postmoderne Zitatenfreudigkeit ist Halffters Sache nicht. Dennoch wirken zwei glaubensintensive Textstellen so, als habe der Komponist für sie Passagen aus dem 17. Jahrhundert überschrieben. Der Geist des Alten erscheint mithin integriert wie etwa in Alban Bergs Violinkonzert oder Instrumentalwerken von Bernd Alois Zimmermann.
    Die (spanisch gesungenen) Vokalpartien des Lazarus und des verratenen Verräters Judas werden von Jörg Sabrowski und Friedemann Kunder ebenso nachdrücklich in die Welt gesetzt wie die der Maria und Martha von Julia Henning und Claudia Iten mit der Inbrunst der überzeugten Gläubigen. Cristóbal Halffters Musik rahmt und unterfüttert die Reflexionen über zweite Erwachen und den zweiten Tod des Lazarus.

    Schon bei Beginn der Opern-Handlung ist der Religionsgründer verhaftet und an das geistliche Gericht der Juden überstellt. Der Feldwebel Malchus trägt eine Kappe, sodass man nicht sehen kann, ob ihm Petrus tatsächlich das Ohr abgeschlagen hat. Seine Kohorte soll den Fanclub des Wanderpredigers aus Nazareth einschüchtern, vor allem aber Propaganda-Aktionen während des Passah-Fests in Jerusalem präventiv unterbinden.

    Lazarus, der nicht gefragt wurde, ob er aus "Abrahams Schoß" in diese arge Welt zurückkehren wolle, gerät in die Hände der Sicherheitskräfte. Er kann ihnen noch einmal entkommenen – halb nackt und verletzt. Er findet vorübergehend Zuflucht zuhause in Bethanien, bei seinen Schwestern Maria und Martha, die – so der Evangelist Johannes – "Jesus lieb hatte". Und endgültig in der Höhle, in der er bereits einmal beigesetzt wurde und in der er träumt.

    Im Traum aber spaltet er sich in verschiedene Persönlichkeiten auf, die sich auf unterschiedlichen Wirklichkeits- beziehungsweise Unwirklichkeitsebenen bewegen. So müht sich das Werk wohl, "letzte Dinge" zu ergründen - nicht zuletzt die Fragen der Feindesliebe, des Verrats und der wahren religiösen Nachfolge: wie sich denn, wenn die Kräfte der "alten Gesellschaft" sich wechselseitig zugrunde richteten, ein "Neues Jerusalem" bilden könne.

    So entsteht der Eindruck, dass diese späte Oper von Cristóbal Halffter die Geschichte des Lazarus als einer Generalprobe interpretiere und mit ihr selbst Vorgeschmack auf das ewige Leben biete, an das die Christen glauben. Das Projekt, das ebensogut erkenntniskritische Züge hätte hervorkehren können, nimmt am Ende doch schwerpunktmäßig die Züge eines Bekenntniswerks an.